[Haupt und Beystand deiner Glieder]

[98] 1.

Haupt und Beystand deiner Glieder/

Der du ewig vor uns wachst!

Und wann uns die Welt zuwider/

Ihren Rath zu nichte machst:

Schau die Sonne geht zur Ruh!

Nacht und Schrecken setzt uns zu/

Und wir stehn entblöst von Kräfften

Unter Creutz und Ampts-Geschäfften.


2.

Dennoch kommen wir mit Dancken

Vor dein liebreich Angesicht/

Daß bey Gleiten Fall und Wancken

Deine Hand uns aufgericht/

Du dreyeinig hoher Gott/

Der du in Gefahr und Noth/

Dem der dir verpflicht zu dienen

Heil- und Gnadenreich erschienen.


3.

Unter wie viel Stürm und Rasen

Und erhitzter Feinde Macht/

Und verdecktem Gifft ausblasen

Ist der Tag hindurch gebracht/

Dennoch hat mich nichts versehrt/[98]

Weil du meinen Wunsch erhört.

Und das Schnauben volle Pochen

Auch/ eh ichs gemerckt/ zerbrochen.


4.

Zwar ich weiß das meine Sünden

Nichts dann Höll' und Fluch verdient;

Aber du kanst mich entbinden

Dessen Blut uns ausgesühnt.

Als du vor der Schuld der Welt/

In den Todt dich eingestellt

Und durch Schmach und Creutz und Wunden/

Die Gefangnen hast entbunden.


5.

Als du wirst mich ja nicht lassen

Der du mich so theur erkaufft:

Herr! ich wil auf dir erblassen;

Wann nun meine Stund auslaufft/

Unterdessen leb' in mir

Daß ich einig bleib' in dir:

Und trotz Angst und Hohn und Schmähen!

Meinen Glauben lasse sehen.


6.

Schleuß auch weil ich nun entschlaffe

Was hab' ich in deine Hand/

Schone wolverdiente Straffe

Auszutagen auf diß Land/

Treib der Seuchen strenge Flut/

Treib erzörnter Himmel-Glut

Hunger/ Sturm/ und Pestilentzen/

Krieg und Mord von unsern Grentzen.


7.

Auf dich leg' ich mich zu Bette/

Gieb das ich gesund aufsteh'

Gott des Trostes! ko i und rette

Mich aus Leibs und Seelen-Weh!

Schlummern schon die Augen ein/

Laß das Hertze wacker seyn/

Daß ich/ fern von Furcht und Grauen/

Dich auch schlaffend' mög anschauen

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 3, Tübingen 1963, S. 98-99.
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