768. Der Neuner in der Wetterfahne.

[685] (Nach Enslin S. 35 etc. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 61 etc.)


Am Ende der durch den dort stehenden ehemaligen Bundespalast berühmten Eschenheimer106 Gasse, an dem nach ihr sogenannten Eschenheimer[685] Thor steht ein hoher runder Thurm, der unter der Regierung Kaisers Ludwig des Baiern im Jahre 1346 gebaut ward und den man seiner Schönheit wegen stehen ließ, als die Festungswerke der alten Reichsstadt abgetragen wurden. Ganz oben auf der mittelsten und höchsten der fünf Thurmspitzen ist eine Wetterfahne, wenn man diese recht genau ansieht, so erblickt man in derselben neun Löcher, die einen Neuner vorstellen und ihren Ursprung folgender Begebenheit verdanken.

Es hat einst in den Frankfurter Wäldern ein Wilddieb, Namens Hans Winkelsee, sein Wesen getrieben, ließ sich aber nicht fahen, so oft man auch auf ihn Jagd gemacht hat. Endlich hat man ihn aber doch gehascht und in sichern Gewahrsam in das Gefängniß gebracht, welches oben im Eschenheimer Thurme für Leute seines Gelichters bestimmt war. Hier saß er denn auch neun Tage und neun Nächte und wartete auf den Richterspruch, von dem er sich aber nicht viel Erfreuliches versprach. Er horchte also den Kerkermeister aus und als er hörte, daß ihm der Galgen so gut als gewiß sei, so meinte er, wenn man ihn laufen lasse, wolle er einen Meisterschuß thun und zum Andenken an die neun Nächte, die er in dem Thurme verlebt habe, mit neun Kugeln einen Neuner in das Wetterblech schießen.

Der Kerkermeister ging hinaus und schnurstracks zum Rath und erzählte, was Hans Winkelsee gesagt hatte. Die Rathsherrn trauten dem schlimmen Gesellen aber nicht und dachten ihn nun auf eine gute Art los zu werden. Sie ließen's also gelten und dem Wilddieb sagen: »Es sei, geht aber auch nur eine einzige Kugel fehl, so mußt Du sogleich an den Galgen.« Um den Thurm hatte sich nun am folgenden Tage eine große Menge Menschen versammelt um das Schützenschauspiel zu sehen, Schöffen, Räthe und Bürger drängten sich herzu, als Hans Winkelsee mit seiner Büchse erschien, geführt von dem Kerkermeister. Siegesbewußt schaute aber der verwegene Schütze zum Thurme hinauf nach der Wetterfahne, nahm seine Büchse, legte an und schoß und traf: ein rundes Löchlein war in der Wetterfahne. Er schoß wieder: ein zweites Löchlein dicht neben dem ersten. Er schoß abermals und nochmals und als er neunmal geschossen, da stand richtig der schönste Neuner, aus lauter runden Löchern gebildet, Allen sichtbar in der Fahne. Da jubelte die Menschenmenge, die Räthe aber befiel ein Grausen, denn sie glaubten, daß hier der Böse mit im Spiele sei und waren fast froh, daß sie ihr Wort halten und den Wildschütz freilassen durften. Einer der Schöffen aber trat zu ihm und sprach: »Hans Winkelsee, Du hast durch Deine Schüsse Deine Unschuld klärlich bewiesen. Wir schenken Dir also die Freiheit, hin zu gehen, wohin Du nur willst, geben Dir aber den Rath, laß ab von Deinem gefährlichen Handwerk und werde ein ehrlicher Mann!« Jener aber lachte spöttisch, warf seine Büchse über die Schulter und ging auf und davon. Der alte Thurm ist unten mit Epheu bekleidet, der sich immer höher hinaufrankt und es geht die Sage, daß von dem Thurme, der schon gar oft abgerissen werden sollte, nicht eher ein Stein weggenommen werden könne, bis die Epheuranken an der geheimnißvollen Wetterfahne angelangt seien.

Am Schlußsteine des spitzen Thorbogens nach der Stadtseite hin befindet sich ein steinernes Menschenköpfchen, das plötzlich einmal da gewesen sein soll, ohne daß man wußte, woher es gekommen. Das soll Hans Winkelsee sein, der gefeite Schütze.

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So genannt von Eschenheim, einem nördlich von Frankfurt gelegenen hessischen Dorfe.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 685-686.
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