IX. Der Teppich des Lebens

[182] Dem Dichter der sein eigenes Leben vom Geist aus schaut erschließt auch die übrige Welt erst ihren Sinn: Geschichte und Natur, die in sinnlichen Augenblicken und Schicksalen bisher bildhaft oder magisch ihm erschienen waren, durchdringt er jetzt geistig und die Wesen, Landschaften, Vorgänge von »Mensch und Tier und Erde« sind auf dieser Stufe »Ideen«, d.h. Gestalten .. Geistbilder, wie man in den Hirtengedichten von Sinnenbildern, im Jahr der Seele von Seelen- oder Mächtebildern sprechen mochte. Wir erinnern dabei nochmals daß Geist eine Urform des Lebens, eine Seins-Ebene ist, nicht ein Zwischenreich von Denkmitteln, daß es eine Geist-sicht so gut gibt wie eine Sinnen-sicht. Der Teppich des Lebens ist ein geistiges Erdbild, wie das Vorspiel ein geistiges Lebensbild, nur spricht sich hier das einheitliche Gesetz der Einzel-Gestalten nicht aus: ihr Sinn ist die Auswahl und Ordnung, der Fug und Zusammenhang. Zum Vorspiel verhält sich der Teppich wie zu einem Gemälde das einen bestimmten Vorgang darstellt ein figurenreiches Gewirk: auch dies wird nicht durch Spruchbänder erklärt, sondern trägt seinen Sinn selbst in sich als Einklang von Farben und Formen, der im Geist des Wirkers eine gewußte Einheit ist. Beim Gemälde ist Bild-raum, -vorgang und -sinn dasselbe, beim Teppich gibt das In- und Nebeneinander eigengewichtiger Einzelfiguren die Bildwirkung welche der Sinn ist, gleichviel ob dieser sich begrifflich fassen läßt oder nicht. Der Teppich des Lebens ist keine Allegorie deren Deutung hinter den Zeichen läge, aber auch kein Symbol das seine Einheit als Einheit darstellte: er ist ein Symbolgefüge, eine Gestaltenordnung, nicht Reihe, nicht Drama, nicht Bau – sondern allerdings am verwandtesten derjenigen Bilderverknüpfung nach der er benannt ist. Nur darf man dabei nicht an Zierkunst denken: der Titel »Teppich« meint nicht den Zweck, sondern die Art des Zusammenhangs. Es ist ein Teppich »des Lebens«, nicht für das Leben oder nach dem Leben: vielmehr die ursprünglichen Gestalten des Lebens[182] selber – und zwar des menschheitlichen Erd-lebens, nicht des besonderen Menschenlebens – ordnen sich im Geist des Dichters zum lebendigen Einklang, ein Teppich sinnschwerer Figuren. Das Einleitungsgedicht sagt wie dieser Einklang wahrgenommen werden soll:


Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren

Sich fremd zum bund, umrahmt von seidner franze

Und blaue sicheln, weiße sterne zieren

Und queren sie in dem erstarrten tanze.


Und kahle linien ziehn in reichgestickten

Und teil um teil ist wirr und gegenwendig

Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten

Da eines abends wird das werk lebendig.


Da regen schauernd sich die toten äste

Die wesen eng von strich und kreis umspannet

Und treten klar vor die geknüpften quäste

Die lösung bringend über die ihr sännet!


Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede

Gewohne stunde, ist kein schatz der gilde.

Sie wird den vielen nie – und nie durch rede ..

Sie wird den seltnen selten im gebilde.


Die Geistwerdung der vorher nur gelebten oder geschauten Mächte und Wesen, das Erwachen des dumpfen Seelentums zum Sinn der Erde, zur Lösung und Deutung der stummen und wirren Lebenszeichen, kurz, die Erleuchtung, das Erscheinen des Engels, ist ausgesprochen in dem Vers »Da eines abends wird das werk lebendig«. In einer Stunde dunkler Einkehr offenbart sich der Sinn der Schöpfung wie das Gesetz des Ich. Der Wink des Engels »meine ehrengift wird nicht durch zwang errungen« hat denselben Sinn wie die Warnung »sie ist nach willen nicht«. Der Sinn der kosmischen Zeichensprache erschließt sich weder der guten Absicht noch dem Fleiß noch dem Verstand, er ist so wenig lernbare Wissenschaft oder »Geheimlehre« wie Werktagsgut: er ist die hohe Schau hohen Menschentums .. kein »Wissen gleich für alle«, sondern die dritte Stufe des Wissens, die (nach dem Stern des Bundes) nur durch das Tor der Weihe führt:[183] die unmittelbare, überbegriffliche Ideenschau. Am Dichter ist es sie magisch zu rufen.

Will man das Symbolgefüge des Teppichs einheitlich benennen (mit einem notwendig unzulänglichen Näherungsbegriff, der die Gestaltenvielheit nur andeuten, nicht umfassen kann) so wäre es das Kräftereich europäisch-deutscher Menschenbildung. Es wird dargestellt in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genien. Überall atmet und bindet, wirkt und ründet der Geist des Lebens, nicht mehr des Ich-Lebens, wie im Vorspiel, sondern des Erdenlebens, welches Natur und Geschichte, Wachstum und Bildnertum, Blut und Seele, Wesen und Geschehen so vereinigt wie der Geist des Ich-Lebens Natur Seele Schicksal. Die Elemente von Georges bisherigem Schaffen sind hier verschmolzen wie im Vorspiel, erweitert zugleich und verwandelt durch den Geist. Der Teppich ist (wenn man die alten Namen gleichnishaft auf die neue Art anwenden darf) ein Epos des Erdgeistes, wie das Vorspiel ein Drama des Lebensgeistes. Hier wie überall ruft George urbildliches Sein – doch nicht nur, wie in den drei Bildungsbüchern und im Jahr der Seele, von ihm durchlebte Zustände der Geschichte oder der Natur, sondern die geistdurchleuchteten Kräfte mit ihrem überpersönlichen Raum. Jetzt überblickt der Geist das ganze Rund, von dem früher einzelne Orte und Stunden Blut und Seele wurden. Was von der Farbe und Sprache des Vorspiels gesagt ist gilt daher auch für den Teppich: nur erscheint hier epischerweise kein »Ich«, und die Glut und Wucht des Wortes scheint mehr Eigenschaft der Dinge als Erregung des Dichters. Zwar ist George nie bloßer Erguß-lyriker und auch wo sein Ich am unmittelbarsten ertönt, ist es die Stimme überpersönlichen Geschehens. Im Teppich aber ist er, ohne je Schilderer und Erzähler zu werden, ganz Dingezeiger, Wesenbildner, Epiker, ja (wäre das Wort nicht für beliebige Phantasie-Arabesken heute mißbraucht) Mythiker: Künder des Erdgeschehens. [Epos ist eine Darstellungsart, Geist eine Seinsstufe – beide schließen sich nicht aus. Der Geist ist objektiver Epik so fähig wie die Sinnenwelt: das zeigt Dante, auch er kein erzählender Bekenner von subjektiven Seelenerlebnissen (wie man ihn meist romantisch nimmt) sondern epischer Künder einer sichtbaren Geistwelt.[184] Nur wo eine ganze kosmische Seinsebene sichtbar und sagbar wird, da ist ursprüngliches Epos möglich, sei dies Mächte-stufe wie bei der Edda oder dem Mahabarata, sei es Götter-stufe wie in der Ilias, sei es Geist-stufe wie bei Dante. Jedes ursprüngliche Epos kann, sobald es Geschichte geworden, dann willkürlich verwendbares Nachahmungsgut werden für bloße Literatur und Bildung. In der höfischen Epik des Mittelalters und der Renaissance, den Vorformen des Romans, erzählt sich nicht das Weltgeschehen, sondern schildert sich eine Gesellschaft mit ihren Sitten oder mit ihren Problemen: sie sind völlig unmythisch. Der mythische Hauch, das Kennzeichen kosmischen Ursprungs, ist nur dort wo jenseits des subjektiven Gefühls und jenseits gesellschaftlicher Bildung die Erdkräfte als Menschengeschehen im magischen Wort erscheinen. Das echte Epos erfordert freilich, so gut wie das echte Drama, Gesellschaft und Weltkräfte (Götter) zusammen, durchgottete Gesellschaft: d.h. Volk. Die götterlose Gesellschaft bringt es nur bis zum Roman, die gesellschaftslosen Weltkräfte nur zu persönlichen Mythen, um die sich eine Gesellschaft ansetzen kann, aber nicht muß. Im vollkommenen Epos singt sich ein Volk aus .. die persönlichen Mythen sind ein Anzeichen daß neues Volk werden will.]

Der Teppich des Lebens ist das erste Werk Georges worin das Volk mitspricht als Geist und Sinn. Bis zum Jahr der Seele ist George nicht mit Bewußtsein Deutscher und seinem Volk nicht verbunden durch Willen und Denkart, sondern nur durch Blut und Sprache. Seine früheren Dichtungen enthalten nur so viel Volkliches als die Sprache und Geschichte die in ihm dichtet mitbrachte, und so persönlich deutsch sein Griechentum, sein Rittertum, sein Morgenland ist, und erst recht sein Seelen-jahr, so wenig beschwören sie deutschen Volksgeist und deutsches Volksschicksal, so wenig weiß sich ihr Dichter als Träger einer deutschen Sendung. Erst die Offenbarung seines Gesetzes hat ihm den Raum erhellt aus dem er sich nährt, und seit dem »Teppich« gehört sein Volk, der Inbegriff aller unmittelbar in ihm regen Geschichtskräfte, zu seinen immer dringlicher und immer klarer erfaßten Nöten und Heiltümern. Immer deutlicher wird ihm daß die Verleibung des Gottes auch Vergottung des Volkes fordert. Wie er von der triebhaften Läuterung der Bluts- und[185] Seelenkeime im Wort sich immer weiteren Umfängen des Lebens einwirkt, wird ervolkhaltiger und –wie sich selbst – auch seinem Volk verantwortlicher .. freilich einem werdenden, ja erst zu schaffenden Volk, nicht einer zufälligen Masse mit nationalen Zwecken, Begierden und Wähnen. Der Mythus den der Teppich anhebt enthält nicht die Abbilder eines gegenwärtigen Volkes, sondern die Urbilder eines kraft seiner Natur und Geschichte möglichen. Der Geist dem sie erscheinen (denn es ist keine Sache der Phantasie, des guten Willens, des glücklichen Einfalls sie zu erfinden, wie unsere bequemen Lokal- oder Wolkenkuckucksheim-Mythiker meinen) das Wort das sie bannt, sind wenn irgendetwas die Bürgschaft ihrer Möglichkeit. Nichts wird echtes Bild und echtes Wort was nicht schon da ist, einerlei ob einem oder allen sichtbar. Mag der Dichter von Geistbildern Voraus-seher oder Herbei-rufer sein: in ihm mindestens ist schon Gegenwart, Auge und Stimme was er sieht und ruft. So verwirklicht der Teppich Volkskräfte, wie die Hirtengedichte Bildungskräfte und das Jahr der Seele Naturkräfte nicht betrachtend oder einfühlend, sondern von ihnen besessen.

Wir wenden uns zu den einzelnen Geistbildern des Teppichs. Sie beginnen mit dem nährend breiten und mütterlichen Grunde alles Volk- und Menschtums: der Urlandschaft – der noch geschichtslosen Gemeinschaft zwischen Erde, Tier und Mensch aus welcher erstes Wesen, Tun und Leiden sich sondert, trächtig mit Zukunft.


Erzvater grub, erzmutter molk

Das schicksal nährend für ein ganzes volk.


Hier sind Erde und Mensch, aus deren Krieg und Ehe sich die menschlichen Lebensformen ergeben – Staat Religion Kultur – noch ungeschiedene Einheit. Dies Gedicht hat kein Gegenüber wie die folgenden, die paarweise die Zweieinigkeit der Schöpfung bis in die hellste Besonderung hinein darstellen – unter immer anderen Formen und ohne kulturphilosophische Absicht, doch mit dem George angeborenen Sinn für Polarität und mit der Bildner-freude am sinnlichen Widerspiel der hellen und der dunklen Massen. So hebt sich »Der Freund der Fluren«, der Heger und Herr, der Grenzer und Hüter der menschlich bedingten Erde, der Pflanzer und Ernter des durch ihn gebändigten Wachstums, umso klarer, bestimmter, runder ab von dem elementarischen[186] Sausen und Schütteln der Sturm- und Nachtgeister die im »Gewitter« sich tummeln: der Windsbraut und ihrem finsteren Jäger, odinhafte Gesichte germanischen Erdgrauns und Schweifens.

Das nächste Paar wandelt zwischen Element und Geist in ungewissem Halblicht. »Die Fremde« verkörpert das Locken und Graun, den süßen und herben Reiz jedes Dunkels das in die Gesittung eindringt, den Märchenschauder, die Wollust des Geheimen und Andren, die Hexerei des Dickichts, des Sumpfs, der Mondnacht und alles lichtscheuen Tuns und Sagens, ja auch den Zauber der Urpoesie. Sie ist die leibhaftige Magie der Phantasiekräfte die sich nähren aus Ferne, Rätsel und Wunder: ihre Geburten sind das Märchen, das Volkslied, Kinder des trauten Alltags und des holden Geheimnisses von überall und nirgends. »Lämmer«, eines der rätselhaftesten Gedichte, gibt die Luft der völlig ungeregten, geheimnislos gutartigen Ahnen und Erben, die fern von den Ursprüngen, Tiefen, Verhängnissen im fertigen Geheg hindämmern und sich behagen. Aus der Bildungsgeschichte kennen wir diese Volkslage als Epigonentum und Biedermeierei. Sie ist hier mythisiert (nicht allegorisiert) als eine Volksstufe, und hat im Teppich, der nicht nach Zeitaltern, sondern nach Kräfteschichten ordnet, ihren Platz gegenüber dem Bild der echten Natur- und Volkspoesie. Beides sind ja nicht nur geistesgeschichtliche Tatsachen, sondern Volkskräfte. Es war ein großes Wagnis, unser nahes nüchternes Großvätertum ins mythische Licht zu tauchen, den ewigen Sinn seiner behäbigen Vergängnis zu zeigen. Durch den Gegensatz gegen »Die Fremde« werden sie gehoben, und empfangen etwas von dem spukhaften Glanz der dieses Gedicht umschimmert. Ein Meisterstück dichterischer Traumschau werden immer solche Verse bleiben die eine ganze »unpoetische« Menschenart zugleich bis ins Herz charakterisieren und zur Sage machen:


Lämmer ein wenig leer und eitle herzen

Stolz auf die güldnen glocken eurer führer ....


Alternde uns! in eurem geiste junge!

Lämmer von freuden die für uns erkühlen

Lämmer mit schwerem tritt, mit leichtem sprunge

Mit einem heut kaum mehr begriffnen fühlen!
[187]

Vorsichtige! vor keinen hängen scheue!

Lämmer der wolumfriedigten zisternen

Lämmer zu alter doch bewährter treue

Lämmer der schreckenlosen fernen!


Das nächste Paar zeigt Grundkräfte von denen zwei europäische Kulturfristen, Mittelalter und Rokoko, getrieben waren: die mystische Glaubenskraft die Wunder schafft und schaut, und die selbst den Tod und das Grauen übertanzende Spielkraft. Was die Innenräume der gotischen Kirchen und ihre Gnadenbilder geformt und gefüllt, weihrauchschwangre Andacht der Gemeinde und schlanke Verzückung der Erwählten, das lebt wieder auf in der »Herzensdame«. Der anmutige Fasching der bewußt vergänglichen, betäubungsbedürftigen und -lüsternen Gesellschaft, der noch um die Gärten und Schlößchen des 18. Jahrhunderts geistert, das leidenschaftliche Überblümen und Umkräuseln des Abgrundes, das Lächeln mit dem Tod im Herzen – all das flimmert und spukt in der »Maske«: der Tanz über dem Tod und in den Tod. Die »Herzensdame« und »Die Maske« sind zwei Gestalten der Gesellschaft, wie »Die Fremde« und »Lämmer« zwei Schichten des Volksgeistes verkörpern.

Die »Verrufung« und »Der Täter« beschwören die furchtbaren Besessenheiten die jeder Schöpfung und jedem Untergang zugrunde liegen: den tod- und lebenzwingenden Haß und die tod- und lebenverachtende Qual. Beide gehören zu den in jedem Sinn »ungeheuersten« Gedichten des Weltschrifttums durch ihren Blick und Griff in die finstersten Klüfte der Gäa und des Herzens. Das Herz ist hier nur das Gefäß worin die Urmutter ihre Säfte und Stoffe mit verderblichem und schöpferischem Feuer zu menschlichen Leidenschaften braut, gleicher Art, gleich wild und böse, rein und groß wie ihre Raubtiere, ihre Springfluten und ihre Erdbeben. Die ganze Spannung die der Einbruch solcher Urgewalten im vernunftbegabten, gesetzlichen, gebundenen Menschen bewirkt, die Sammlung der Erdkräfte zum bösen Willen, das Ringen der Seele gegen sie und das tragisch schicksalhafte Erliegen unter ihrem Zwang, das Ineinander und Gegeneinander von Menschtum und Erdtum zugleich in Geberde, Geschehen und Landschaft, das hat seinesgleichen nur noch einmal: im Macbeth. Das läßt sich nicht ersinnen, nur sein. »Die Verrufung«[188] und »Der Täter« sind keine phantastischen Balladen einer fruchtbaren Privateinbildung, sondern mythische Gegenwart geistig gelebter Erde.

»Schmerzbrüder« und »Der Jünger« führen aus dem Bann der erdbesessenen Leidenschaft in den rein menschlichen Bezirk der rückhaltlosen Hingebung, der schmerzlichen an das unerreichbar entgleitende Andre und der freudigen an den Träger des Wertes und des Heils. Diese wie andere Inhalte des Teppichs kennen wir schon aus früheren Büchern Georges – sind sie doch Lagen seines eignen Wesens. Sie erscheinen hier nicht als Sinn- oder Seelenbilder seines inneren Geschehens, sondern als Geistbilder der Elemente woraus »Europa« entstanden ist und entsteht. Nichts ist hier bloße Lyrik oder Ballade, diese Gedichte tragen die Idee in sich deren Leiber und Vorgänge sie sind: den volkschaffenden »Kampf von Mensch mit Mensch und Tier und Erde«. Wie erst die Geschichte von der Seele entstofflicht, entromantisiert, enthistorisiert wurde zum Bereich des urbildlichen Menschenlebens, so macht sie hier der Geist zum Bereich urbildlichen Erd- und Volkslebens: Erde und Volk sind auch Menschtümer und jedes Menschtum gehört so gut der Person wie der Gesamtheit an, ist zugleich Sonderwesen und Erd- und Volkswesen. So umwölbt und trägt die menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften hier der Gesamtraum des Erdgeistes.

»Schmerzbrüder« und »Der Jünger« sind mythische Gesinnungsbilder, »Der Erkorene« und »Der Verworfene« mythische Haltungsbilder. Die fromme Scheu und die kluge Gier, das lautere Wartenkönnen und das hastige Haben-wollen, die ehrfürchtige Beschauung und die ehrsüchtige Schauspielerei, die Anbetung und die Umbuhlung des Lebens, die Selbstheiligung und die Weitläufigkeit: diese beiden Beweger der Kultur in unzähligen Personen sind hier zu Ideen gedrängt. Dasselbe geschieht in »Romfahrer« und »Das Kloster« mit geschichtlichen Tendenzen: dem Südsehnen und der Weltflucht. Der Zauber Italiens, des schönen Sonnen- und Kaiserlandes, das Salier und Staufer hinunterlockte in Huld und Herrschaft und Verderb, dessen sinnlich heiliger Ruf jeden Bildungssucher noch heut berückt und erhebt, hier glänzt er mit mythischer Macht, nicht stimmungshaft oder kulturphilosophisch, sondern als ewig-deutsches Erdgesicht. So faßt[189] »Das Kloster« die Gemeinschaft des frommen Sinnens, Tuns und Duldens in lauterer Stille des Verzichts, die brüderliche Heiligung des Erdentags in Gott, die Christlichkeit die in Mönchsorden und ihren Bildungswerken sich niederschlug.

Gleicher Feier werden die geschichtlichen Personen teilhaftig welche zwei Urgaben des deutschen Volksgeistes am reinsten verkörpern: die sachlich innig-klare Formenschau der rheinischen Maler bis zu Holbein hinauf und die überschwengliche Traum- und Rauschglut Jean Pauls: sie sind hier die mythischen Geistbilder für das apollinische und das dionysische Deutschtum – Holbein, nicht Goethe, weil Goethe noch mehr und andres ist als Formenschau .. Jean Paul, nicht die Musiker, weil er nicht nur Rausch- und Traumklang, sondern auch Rausch- und Traumwort, nicht nur trunkene Zauberseele, sondern auch trunkener Zaubergeist unseres Volkes ist. Soweit reichen die Natur- und Geschichtsgestalten des deutschen Erdgeistes die George mythisch sieht.

Die »Standbilder« rufen metaphysische und metahistorische Wesen die noch keinen faßbaren Träger oder Namen haben. Man darf sie nicht allegorisch nehmen: es sind die Ideen, nicht die Begriffe übergeschichtlicher Mächte durch die der Erdgeist, in den Einzelnen wirkend, Geschichte schafft. Das erste, ein Doppel-Standbild, wird der ewigen Polarität errichtet die in der Geschichte als Gegensatz der griechischen Leib-erde und des christlichen Seelen-himmels sich ausfaltet und ihren sinnfälligsten Ausdruck in den hellenischen und gotischen Bauten findet. Hellas und Christentum sind geschichtliche Zeitalter, aber auch zeitlose Weltkräfte und menschliche Ursprünge. Dieselben Lagen die sich zu Hirtengedichten und Sagen und Sängen gesondert, die im siebten Gedicht des Vorspiels vom Berge des Engels aus als Lebensräume überblickt werden, sind hier mythische Ideen. Das dritte Standbild gilt der wunsch- und wahnschaffenden Geheimgöttin die durch immer neuen Bildertrug das Leben weiterdrängt und -lockt. Sie ist der »Wille« der die »Vorstellungen« emportreibt, die Gewalt vermöge welcher wir die Dinge schönsehen und begehren, und doch selbst nicht Schönheit, sondern »Not und Schauer«, das dunkle Sein der hellen Gesichte. Dem Geistgelenkten frommt die Hülle nicht mehr, er darf den Schleier heben und den finstern Grund[190] kennen: er geht seinen Weg ohne Lockung, weil er muß und obwohl er weiß, dem Gesetz dienstbar ohne Schein.

Auf dieser Höhe erst gilt auch das Gesetz selbst, das Soll, die Pflicht als Gottheit, als eine anbetungswürdige Weltkraft und bekommt ihr Standbild. Die edle Jugend tut das Edle »unbemüht« aus Glaube, aus Kraft des Bluts, aber sie flieht den offenbaren Befehl noch so edlen Zwanges. Wie sie des schönen Wahns bedarf, so scheut sie die enthüllende und die fordernde Weisheit .. und das vierte Standbild huldigt ihr doppelt durch die Erinnerung an die Zeit da sie noch ein Schrecknis war. Das fünfte feiert die allbezwingende Leidenschaft, die Wünsche und Rechte, Erinnern und Hoffen schweigt, alles tragen, alles vergessen läßt, die gewohnte Welt zersprengt und den Besessenen willig zum Abgrund führt. Das sechste wird der Kunst er richtet, der Zauberin die in Bilder das Leben der vergangenen Zeiten bannt, daß es berückt und schreckt wie gegenwärtiges Fleisch und Blut: die »Wirklichkeit der Bilder« ist hier ein leibhaftiges Wesen. Wer begreifen will was es heißt den Geist lebendig wahrzunehmen, wie der gewöhnliche Mensch sinnliche Dinge und Vorgänge wahrnimmt, der lese dies Gedicht, diese sinnlichste Bannung geistigen Geschehens.

Das Schlußgedicht »Der Schleier« beschwört die Traumschau des Dichters selbst, die Magie welche Länder und Zeiten vergegenwärtigt, Wesen und Scheine verwirklicht, die Welt füllt mit seinen Gesichten, die Geister zwingt oder lockt zu seinem eigenen Leben.


So wie mein schleier spielt wird euer sehnen.


Georges Werk selbst ist hier mythisches Bild, wie von weiter Ferne aus erblickt. Was sich durch Jahre erstreckt faßt ein zauberischer Vorgang zusammen, der Traum-nu des Geistes dem Äonen sind wie ein Tag. Die Einheit des schöpferischen Augenblicks mit dem Ganzen der Welt, die Gegenwart des Seins im Schaun, die Ewigkeit des Jetzt und Hier im ideensichtigen Geist liegt diesem Gedicht zugrunde, wie den Versen Dantes von der »Mitte


Vor der als heutig alle Zeiten stehen«


oder denen Goethes:


Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis


oder Shakespeares:
[191]

Wir sind nur solcher Stoff wie der zu Träumen.


Es ist, von verschiedenen Allgefühlen her ausgedrückt, die Ureinsicht jedes Sehers: daß Raum und Zeit mit sämtlichen Inhalten nur Scheine des ewigen oder gegenwärtigen oder zeitlosen Wesens sind das als Gott oder Welt oder Leben vom begnadeten Ich wahrgenommen, d.h. dargelebt wird .. Scheine, nicht Lügen .. Wirklichkeit, aber nicht »Wahrheit«, kein Davor oder Dahinter des Da-seins, sondern eben seine unmittelbare Wahrnehmung, wahrnehmend als Ich, wahrgenommen als All.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 182-192.
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