VIII. Das Vorspiel

[157] Das Jahr der Seele ist die letzte große Dichtung des europäischen Weltschmerzes, der nicht Schmerz über die Welt ist, sondern Schmerz der Welt. Jeder höhere Mensch seit dem Verschwinden der Götter hat ihn gekannt, am meisten die Liebenden und die Gestalter: die Naturgläubigen und Lebensfrommen. »Einsamkeit« ist sein Zeichen, und je mächtiger eine solche sinnliche Natur sich mit den Erdkräften durchdrang, je wirklicher sie das Hier und Jetzt nahm und je weiter sie sich ausbreitete, je mehr Welt sie faßte, desto einsamer wurde sie. Michelangelo Shakespeare Goethe Napoleon sind umwittert von diesem Graun, gleichviel ob sie klagten oder nicht. [Die eigentlichen Herolde des Weltschmerzes waren meist bloße Zerrissene, Unzufriedene oder gar Unzulängliche, nicht durch ihre Fülle selbst Einsame.] Derselbe Trieb der die Person aus sich herausdrängt, um zu zeugen oder zu empfangen, heißt die Natur rufen nach dem Gott, und alle Zeiten die ein Gott besaß waren von der Natureinsamkeit erlöst, das klassische Altertum und das klassische Christentum .. die fruchtbaren Zeiten in denen Götter noch zeugten d.h. geglaubt und gelebt wurden, kennen den Schmerz der einsamen Welt nicht. Die ursprünglichen Menschen fühlen das Welken der Götter zuerst und am stärksten, sie sind der Mund des Weltschmerzes, der Ruf der Natur nach dem Gott und die einzigen worin die götterschaffende und -empfangende, die mythische Kraft sich in solchen Zeiten bewahrt. Ein solcher trägt »als der Eine aller Qual« – die Last des Volkes, die Einsamkeit der Natur. Die größten Schöpfungen seit dem Erlöschen des katholischen Himmels (den die heutigen Christentümer nur stumpf nachscheinen und abschatten) sind Rufe mythenträchtiger Einzelner nach dem neuen Gott, einerlei ob sie sich wie Michelangelos Titanen als Feier des alten Gottes gaben, wie Shakespeares Trauerspiele als Erdendienst, wie Goethes Prometheus und Faust als Verherrlichung des Menschen, oder wie Napoleons Taten als Kaiserkult.

Zur Helle gelangt dieser Drang im späten Hölderlin, zur bewußten[157] Aufgabe wird er mit seiner erdrückenden Last und erstickenden Einsamkeit in Nietzsche – stellvertretende Sühnopfer der entgotteten Gesellschaft. Hölderlin rief die verwandelten Götter, die heidnischen wie den christlichen, in den leeren Raum, um die einsame Natur zu vermählen und wieder ein Volk zu zeugen. Nietzsche, der Götter nicht sah, nur suchte und blind spürte, entnahm der eignen Besessenheit die wahnhafte Vision des neuen Himmels, dem eigenen heiligen Zwang das neue Gesetz, dem eigenen fordernden Ich das schenkende Du, und spaltete sein einsames Wesen in ein zweisames, in ein Opfer und einen Heiland: Zarathustra ist die Projektion seiner abgründigen Selbstnot in ein überselbstiges Heil .. sein erhabenes Dennoch, das seinen Kampf zum Gesetz erhob und ihn zuerst unter dies schwerste Gesetz stellte, um durch solch Opfer, Vorbild und Schicksal den neuen Gott für alle und keinen zu erzwingen – den Gott ohne Gestalt und Liebe, nur aus dem Willen und dem Geist des höchsten Ich.

Vor demselben Weltzustand fand sich George, als ihm das Jahr der Seele kam, von derselben Not beklommen und geschwellt vom gleichen Geheiß. Doch wo Nietzsche Willen und Geist hatte, war George damals noch Drang und Blut, und ganz gebannt in seine Stunde mit ihren Grenzen, die er füllen, nicht sprengen durfte. Erfüllung seines Gesetzes, das er noch nicht wußte, nur lebte, nicht Erlösung vom Ungesetz bestimmte ihn. Wo Nietzsche die göttliche Zukunft titanisch vorwegnehmen, erzwingen wollte, mußte George ausharren in seiner Gegenwart, sie ganz zu Ende leben, vol-enden, wie einsam und gebunden, wie naturhaft unerlöst, schicksalhaft beladen sie auch war, bis der Geist selbst in ihn kam oder der Gott ihm erschien. Er sagte »ja« zu seiner Einsamkeit, nicht »dennoch«, er sah sein Leid schön, nicht tragisch, seine Not als Sein, nicht als Soll. Nicht ihre ewige Wiederkehr gab seinen Augenblicken ihr Gewicht, sondern ihre einmalige Ewigkeit. Sein Gesetz war keine Pflicht die er sich auferlegte wo er anders wollte, sondern sein Geschehen das nicht anders konnte. Sein jeweiliges Hier und Jetzt war sein einziges Muß, von dem ihn keine Zukunft, kein Höher, kein Über entband, irdisches Jenseits von Gut und Böse so wenig wie himmlisches Jenseits von Hier und Jetzt. Die Zu-kunft war ihm das was zu ihm kam, nicht das zu dem er kam, und dies ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen seiner[158] Prophetie und der Nietzsches: er nahm das Dereinst im Hier wahr wie der Same die Frucht oder wie Tiere nahendes Gewitter und Erdbeben spüren. Nietzsche heischte vom Hier das Einst wie der Pfeil das Ziel, der Adler die Beute. Niemals konnte George daher vom bloßen Willen die Befreiung aus seinen erfüllten Grenzen erwarten. Sein Wille konnte nicht Untergang oder Aufgang machen, sondern nur halten, bannen, gestalten was auf- und unterging. Das Wort war der Zauber der dies vollbrachte, das Werk die Verewigung des Zustandes im Bild, die Verwirklichung des Aufgangs oder Untergangs-Augenblicks, nicht der Befehl an das Leben »steig oder sinke«, nicht der Schrei des Ich »Weh oder Heil mir«! Freilich: nur durch dies Zauberwort des Gestalters steigen oder sinken die Menschen mit den steigenden oder sinkenden Mächten, und nur wer die Bilder bannt oder die Taten wirkt bindet die Götter. Wer sie bloß anruft »seid« oder »kommt« oder »werdet« dem folgen sie nicht, wem sie aber erscheinen und wer ihr Wort zu ihrer Stunde weiß und sagt, wer ihnen das rechte Opfer am rechten Ort bringt und die Weihe vollzieht in ihrer Gegenwart, der hält sie fest, der ver-ewigt sie, ja der verwandelt sie. Dies ist der prophetische Sinn der Dichter und der Helden. Nur das schau-geborene Wort macht auch die Propheten fruchtbar. Kein bloßer noch so hoher Wille – der macht nur Weltverbesserer – und kein noch so tief er Geist – der macht nur Welterklärer: beide bannen kein Leben und wandeln kein Leben.

George hat niemals Götter angerufen, bevor sie ihm erschienen sind. Er hat den dunklen Mächten geopfert, solange er nur dunkle Mächte sah .. solch ein Opfer ist das Jahr der Seele. Die Natur und das Verhängnis hatte er hier durchmessen, wie früher das Selbst und die Geschichte. Er mußte nun schweigen oder sterben, wenn kein neuer Kreis sich ihm auftat .. er mußte abwarten »den blitz der traf, den wink der lenkte, das ding das in ihn kam zu seiner stunde«. Er konnte »bleichen Eifers nach dem Horte forschen«, aber die Offenbarung nicht ertrotzen. Was war zu erwarten nach den Wundern der traurigen Trias, nach der zu Ende genossenen Fülle der unerlöst einsamen Natur? Jetzt erschien ihm der Geist des Lebens.

Das Leben ist die Mächte-trias des Jahres der Seele auf einer höheren Stufe, in ihrer Einheit: Natur Schicksal Seele haben jetzt [159] einen Namen und ein Gesicht. Wer sie nennen und erblicken kann der hat sie durchdrungen, der ist nimmer besessen, nimmer ihre Stimme, sondern ihr Gebieter .. der ist herausgetreten auf eine Ebene wo er sie umfaßt: da waltet der »Geist«. Der Leben durchdringende und umfassende oder (was beides zugleich ist) beherrschende Geist, der Sinn, das Gesetz, die Gestalt dieses seines Lebens, mit all seinen bisherigen Lagen – Trieb, Geschichte, Natur, Verhängnis – hat sich dem Dichter leibhaftig offenbart, als er nach den »Traurigen Tänzen« für die letzte Nacht oder den neuen Segen bereit war. Der Engel des Vorspiels ist das dichterische Gesicht dieser Lösung, Erleuchtung und Ladung, glühend vom jähen Morgen, bebend von der Gewalt des Durchbruchs, der eine unermeßliche Wölbe aufreißt, und flaumig zag vor der Verheißung:


Das Schöne Leben sendet mich an dich

Als boten.


Seit dem Eingang der Hymnen, der die »Weihe« brachte, hat George sein Schaffen nicht mehr unter der Form der heiligen Botschaft, der Offenbarung gezeigt. Schicht um Schicht hob er in Schau und Sprache und gewahrte sein Ganzes in den Augenblicken die ihn umdrangen: wenn er jetzt nach sieben Jahren zum erstenmal wieder sich ab den Empfänger einer Sendung, nicht nur als den Träger eines Schicksals sah, so war dies keine hohe Einzelstunde mehr, sondern der Anfang einer Vita Nuova. Sein Gesamtdasein hatte einen neuen Lenker, ja überhaupt jetzt erst einen Lenker, ein immer gegenwärtiges, sichtbares Geheiß. An stelle der einmaligen Erscheinung, die schenkte und verschwand, den Einsamen seinem dunklen Selbst und ihrer hellen Weihe überlassend, trat jetzt der ewige Begleiter, der sichtbare Daimon. Jetzt stand des Dichters Leben erst unter dem offenbarten Gesetz: er erfuhr seine Sende und was er bisher nur dumpf-sicher und einsam gelebt, weil er von Blutes und Schicksals wegen mußte, das ward nun das klare »Ich will, ihr sollt«, der Spruch des Ewigen, die erkannte Wahrheit, die gewollte Notwendigkeit, die gesollte Freiheit. Überwunden der Eigentrieb der Ich-Seele .. denn sie war vermählt mit dem wissenden Geist und vernahm von ihm den Sinn. Überwunden die Einsamkeit der Natur .. denn sie hatte das Du gefunden von dem sie empfangen durfte. Überwunden die Not des Schicksals .. denn[160] es war weises Gesetz geworden. Dieser Wandel hob die Gewalten nicht auf, er überwölbte sie mit einem höheren Himmel, durchschien sie mit dem reinen Licht. Die Schmerzen, Leiden und Lasten des Herzens, die Gefahren und Schickungen der Erde werden von dem Engel nicht beseitigt, nicht einmal die Versuchungen abgewehrt, doch er gibt ihnen den Sinn im Menschen, den Raum auf der Erde, den Wert im Reich das sein Kommen verheißt und sein Bleiben gründet. Das triebhafte Maß des wohlgeratenen Leibes macht er zur Pflicht des begeisteten Lebens, die ahnungsvoll erfüllten Grenzen des Natur-Schicksal-Seelen-Raumes zieht er in den Plan seiner ordnenden Vorsehung – und die schönen Augenblicke die bisher jeweils das Gewicht des ganzen Lebens trugen, die Sterne des Kairos, kreisen jetzt in Bahnen eines Sonnensystems das ein Logos regiert: der Geist des Lebens.

Dies unterscheidet den Engel Georges, den Boten des schönen Lebens, von dem christlichen Logos, dessen Züge er auf den ersten Blick, wie jeder Engel seiner mythischen Herkunft nach, zu tragen scheint: er ist kein Urwidersacher der sinnlichen Lebensmächte, des Ich, der Natur, des Schicksals – er kommt nicht aus einem uranfänglichen Himmel als Bote des Überwelt-gottes zur Züchtigung des Fleisches, zur Fesselung Satans, zur Ausgießung der Zornschalen: er ist die Geburt des schönen Lebens selber, ihm entwachsen, sein Genius, seine Idee, sein Sinn. Er trägt daher notwendig die Züge des Ich woran dies schöne Leben (es gibt ja kein Leben an sich) gebunden, worin es verkörpert ist: er ist die geistige Gestalt dieses Ich, das in den Hymnen durch Spannungen, im Algabal als Traum, dann unter geschichtlichen Sinnenbildern, im Jahr der Seele als Mächtewesen erschienen war. Er ist nackt, das heißt von Traum- Natur- und Geschichtshüllen, von Schein-leibern (nicht Wahn-leiber!) frei .. er ist das lautere Selbst, das unbedingte Du des bedingten Ich. Er ist unbekrönt, denn er ist Bote, Bruder, Führer, nicht Herr. Er ist Darstellung, »Gestalt des Gleichen«, nicht Erscheinung eines Anderen, »Höheren«, kein Befehl aus einem Jenseits, er ist das leibhaftige Gesetz des Jetzt und Hier und, eben weil leibhaftig, zugleich schöner als das unleibhaftig gelebte Ich. Schönheit kann nur etwas Erscheinendes sein. Er ist der sichtbare Reichtum des Innern, er spendet, weil[161] er zeigt .. er strahlt, weil er enthüllt, und er kniet mit dem Beter, weil er dessen eigener fleischgewordener Überschwang ist, der Träger aller lilienhaften Reinheit, aller mimosenhaften Scheu, aller Rosenfülle. Die Sinnen-Schönheit des Lebens als greifbarer, begreifbarer Geist: das ist der Engel, ein Logos so eins und so zwei mit dem Eros wie die entzückte Schau mit dem glühenden Sein, wie der göttliche Fug mit dem menschlichen Leib, wie die Wahrheit mit dem Wesen.

Er hat noch ein anderes Gesicht: er ist nicht nur die holde Kunde, sondern auch das strenge Gebot .. nicht nur Verheißung, auch Geheiß. Dasselbe Du das die Schätze des Ich erst erschließt, seine Gluten klärt und seine Liebe flügelt, verlangt dies Ich auch ganz: Wen es gesegnet hat den läßt es nicht: den Ruf des Ich erfüllt das Du als Beruf .. die Not des Ich wendet es als Notwendigkeit und der Heiland ist zugleich das Sühnopfer. Der Engel, der Du und Ich, Weihe und Leidenschaft, Sinn des Lebens und Trieb des Lebens, Logos und Eros vereint, die Gestalt der ewigen Spannung des Dichters nach durchdrungener Welt auf der Stufe des Geistes, hat ebensoviel von dem immer wieder drängenden und heischenden Ich wie dies Ich von dem ewig wissenden und lösenden Du hat: er ist eine Zwiegestalt, menschlich und göttlich zugleich, bedingt und bedingend. Die Polarität von Ich und Du wiederholt sich innerhalb der beiden Pole, die ja eine Einheit sind, abermals: das Du, der Engel, schenkt und fordert .. das Ich, der Mensch, opfert und fleht zugleich. Der Engel ist Fülle und Strenge .. Rosenbringer und Fahnenschwinger, und sein irdischer Gegenpol ist Erfüller und Streiter. Beide bindet der heilige Krieg und die heilige Hochzeit von denen im Stern des Bundes die Geheimlehre kündet:


Ich bin der Eine und bin Beide

Ich bin der zeuger bin der schoß

Ich bin der degen bin die scheide

Ich bin das opfer bin der stoß

Ich bin die sicht und bin der seher

Ich bin der bogen bin der bolz

Ich bin der altar und der fleher

Ich bin das feuer und das holz

Ich bin der reiche bin der bare

Ich bin das zeichen bin der sinn[162]

Ich bin der schatten bin der wahre

Ich bin ein end und ein beginn.


Dies Geheimnis, die Zweieinigkeit des Menschen, ist in dem späteren Buch sagbar geworden, von der Götterstufe aus. Auf der Stufe des Geistes ist es zum erstenmal sichtbar im Vorspiel. Es ist keine Privatmystik, kein religiöses »Erlebnis«, sondern die heutige Urform des kosmischen Wissens dessen Chiffern den Griechen das Doppelschicksal des Dionysos, in den Evangelien die Zwienatur Christi, dem Dante der Doppelsinn Beatrices, und dem jüngsten Propheten die Erscheinung des mittaglichen Zarathustra war. Nur aus seiner eigenen Not und Fülle, vom dichterischen Zwang befehligt, hat George dies Mysterium angerührt: das Vorspiel ist dessen heutiges »Drama«, sein sichtbarer Vorgang.

Aus dem Widerstreit des Ich und des Du, die im tiefsten Eines sind und sich durch eben diesen Widerstreit verdeutlichen, auseinander die Not und die Wende, das Opfer und das Heil, die Frage und die Antwort entwirken, geschieht erst vor unseren Augen durch geberdetes Tun und Leiden das Gesetz dieses Lebens. Es wird nicht als eine fertige Lehre verkündet, sondern als eine geistige Zwiesprache gestaltet. Doch ringen nicht zwei Seelen einer Brust, kein Faust mit Mephisto: nicht die Spaltung des Ich, sondern die Doppelheit des Menschen, die ursprüngliche Polarität lebendigen Wesens, vollzieht sich hier. Daß im Raum jede Gestalt zugleich befreit und bindet, daß in der Zeit jedes »Werde« zugleich befiehlt »Stirb«, daß wir uns nur bewahren, indem wir uns hingeben und vom Du erst unser Ich empfangen, solche zugleich selige und harte Weisheit bewährt der Mensch des Vorspiels und sein Engel. Nicht das Ich und seine Grenze scheiden sich wie Faust und Mephisto, sondern das Selbst und sein Gesetz, wie Dante und Virgil, begegnen sich in diesem ewigen Paar.

Wie der Faust und die Divina Commedia zeigt das Vorspiel den Sinn und das Heil des Menschen an dem Ringen der bedingten Person mit dem unbedingten Gesetz das sie als All erfährt. Diese Werke umfassen das All des einmaligen Ich: den Makrokosmos geformt vom Mikrokosmos. Bei Dante ordnet und lenkt der offenbare Gott noch den Kosmos den der Mensch erwandern muß, um zum Heil zu gelangen.[163] Der Faust entwickelt die tragisch gehemmte Weltwerdung des bedingten Erdensohns als den Streit mit seinen eigenen Schranken. Im Vorspiel Georges sind das Sein des Ich und das Gesetz des Lebens die beiden Spieler des ewigen Dramas, d.h. die beiden Pole: All und Ich. Bei Dante heißt das All: Gott .. bei Goethe: Welt .. bei George: Leben. Immer näher ist der Gegenspieler des Ich an diesen herangerückt: bei George ist er ihm selbst eingeschlossen und ihre Spannung ist die straffste, ihr Ringen das engste. Dante kommt zu Gott, Faust wird Welt, George west Leben. Sein Sinn und Gesetz will leibhaft, wirklich, gültig sein .. nicht bloß Innen, Erlebnis, Gefühl, sondern Gestalt, Gott und Welt, so wahrhaftig und sichtbar wie für Dante Gott und für Goethe Welt von vornherein war. Denn der Gegenspieler des Ich, im tiefsten ihm ewig eins, gibt sein Gesetz, wird oder ist sein Gesetz. Sich mit dem Gegenspieler wissend einen oder eines wissen ist der Weg des Heils: der Erlösung oder der Erfüllung – je nachdem man ihn außer sich oder in sich sucht, ihm eingehn oder ihn auswirken will. Wie aber, wenn man ihn nicht als Gott über sich hat, in wie steiler Höhe auch immer, oder als Welt um sich, in wie verwirrender oder beklemmender Fülle auch immer, sondern als Leben in sich – das Vorbild bildlos, das Gesetz ungesetzt und die Stimme stumm? Dies ist die Lage des modernen Menschen, dem Gott zum Erlebnis, die Welt zu Beziehungen und das Leben zu Trieb und Reiz zerschlissen ist.

Begreift man die ungeheure Spannung und Bürde der Wenigen die sich nicht begnügen mit willkürlichem Gemütsschwall und hohlem Pflichtgeklapper, mit unwirklicher Autonomie und unwahrer Heteronomie, mit der Ohnmacht des Außen und dem Unrat des Innen die das Leben, das Einzige was uns bleibt, zu Gott und Welt, d.h. zu Gesetz, Bild, Werk, Tat, zu gültigem, offenbarem Dasein schaffen müssen? Nietzsche ist unter dieser Last zusammengebrochen, obwohl er nur die neuen Tafeln des Lebens aufstellen, nicht den neuen Gott des Lebens verleiben wollte! Oder vielleicht, weil er nur jenes konnte und dies nicht möglich war, ohne die weltschaffende Liebe und die gottschauende Dichtung? Weil das Leben, dieser letzte Gott-stoff, nur welthaft, gültig, bindend (»objektiv«) werden kann als Bild und Tat, nicht durch bloße Lehre und Forderung? »Sie[164] hätte singen, nicht reden sollen, diese neue Seele« .. hat seine Klage den Sinn daß er kein Gestalter, nur Sucher und Finder des Lebensgesetzes war, daß er es nicht bannen, nur rufen konnte? Sein Zarathustra ist der Versuch die Lehre zu bannen ins dichterische Bild, das neue Gesetz zu geberden, das Leben zu ent-ichen, zu verwelten, kurz zu gestalten. Aber er ist Stimme ohne Leib, Sturm ohne Raum, Licht ohne Form und Farbe geblieben – halb Dichtung, halb Botschaft. Er sollte ein Allgedicht des »Lebens« werden (wie die Commedia das Gottes, und Faust das der Welt) und zugleich die Bibel für alle und keinen. Es bleibt das barocke Denkmal des höchsten Doppelstrebens, der babylonische Turm zweier widersprechender Seelen. Ein Buch kann nur Einem Herrn dienen, nur Eine Form künden, nur Einen Geist verkörpern. Man kann durch Bilder lehren oder durch Lehre bilden, aber nicht Lehre und Bild mengen, ohne beide zu schwächen.

Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten Geheiß das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und keinen, sondern aus dem Einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich, dann gilt es dadurch den anderen, und was ihn ruft weckt auch die Ohren die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. Sich gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eignen Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des Lebens .. und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er was an der Zeit war. Dantes Gesetz hieß: schaue Gott .. Goethes: werde Welt .. Georges: gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis zur Vollendung. Zu diesem Gesetz selbst schon gehört daß es in dichterisch strenger Form, als Maß, Weihe und Zauber ertöne, daß es nicht nur geistig wahr sondern sinnlich schön, nicht nur als Wissen sondern als Schau, nicht nur als Forderung sondern als Geberde, nicht nur als Innen sondern als Leib erscheine .. daß es zugleich sei was es künde, daß seine Form und sein Gehalt, sein Wert und sein Wesen eines seien. Seine eigene Wirklichkeit[165] und Gegenwart muß es sein, nicht wie Sittengesetze der Weg zur Verwirklichung, oder wie Naturgesetze der Grund der Verwirklichung .. kein Vor oder Hinter der Gegenwart. Darum trägt der Engel die Züge des Menschen, als die Erscheinung seines Seins. Darum ist das Vorspiel straff in Zahl und Maß gebannt, weil Zahl und Maß selbst schon Atemzüge dieses Gesetzes sind, und der Dichter dem es kund ward atmen, singen, gehen muß, laut und kraft dieses Gesetzes. Darum ist dies Werk wie kein früheres von George farbig und durchscheinend zugleich, weil kein früheres zugleich das Leben mit seinem Wissen als Sinn offenbarte. Darum ist es Wachstum und Bau zugleich, weil hier die triebhafte und die gesetzmäßige Gliederung eines sind, weil hier Sänger und Seher, Künstler und Erkenner, Getriebener und Eingeweihter, Gott-Träger und Gott-Wirker, Mensch und Engel, Ich und Du, das Leben und sein Gesetz dieselbe Person sind.

Auch hier hat George die ganze Fülle seines schon durchwirkten Lebens (das niemals abgelaufenes, erledigtes Leben ist) in den neuen Umkreis eingegossen und am Geist vollbracht was er an den früheren Umfängen vollbracht hatte, an der Geschichte und an der Mächte-trias des Jahrs der Seele: negativ gesagt die Entromantisierung, positiv die Verzauberung. Der Geist als »Romantik« ist entweder Betrachtung oder Lehrspruch in dichterischer Form, Geist über die Dinge oder aus den Dingen heraus, nicht Geist der Dinge, nicht Geistform des Lebens, Leben als Geist. Schiller und Byron sind die beiden großen Romantiker dieser Art Geistdichtung, alle neuere »philosophische« Lyrik gehört dahin. Dichtung des durchgeisteten oder des geistgewordenen Lebens ist nur da wo sich der Geist noch nicht als Widerpart der Welt, als selbständige Bedeutung aufgetan hat, im Zeitalter der Psalmen und in dem Hellas vor Aristoteles. Romantik1 des Geistes begann mit der Entstehung der Begriffe, der universalia in re oder post rem oder ante rem, mit dem Mißverständnis der Platonischen Ideen als eines besseren »Jenseits«. Die Rückkehr des entbundenen Geistes in das Leben, oder der Einbruch neuen Urlebens[166] in den hohlen Geisteshimmel hat wie der klassische Dichtungen des Lebensgeistes ermöglicht, in Dante, Shakespeare, Goethe, Holderlin. An diese Reihe schließt sich George seit dem Vorspiel.

Der Lebensgeist ist nichts abgeleitetes, auch er ist eine Urform des Lebens, eine Grundlage, eine ewige Stufe des Seins, und daher (anders als der bloße Denk-geist, die ratio, die verselbständigte Zwischenwelt der Mittel, der Ordnungen, der Kategorien) zauberischer Urtöne so fähig wie der Leib und die Seele! Wenn deren Urlaut, Naturlaut das sogenannte »Volkslied« ist, dann darf man die Terzinen Dantes, die Jamben Shakespeares, die Hymnen Goethes und Hölderlins und Georges Vorspiel-verse Naturlaute des Lebens-geistes nennen: sie alle offenbaren den Geist als eine unmittelbare Wirklichkeit, als leibhaft gelebte Gegenwart des Weltsinnes selbst. Solche Dichtungen sind sehr viel seltener als gute Volkslieder, weil sie die Durchdringung eines unendlich größeren Umfanges verlangen, die höchste Bildung der jeweiligen Zeit und dabei eine ungebrochene Natur – an sich schon schwer vereinbar. Das gute Volkslied braucht nur die glückhafte Seelenstunde und die gediegene Sinnlichkeit, einerlei welchen Umfangs. Ebenso häufig ist die Gefühls- oder Gedankenpoesie des gebildeten Gemüts, das an gehobenen Schätzen der Natur und der Geschichte mit fertiger Sprache weiterdichtet: sie ist eine Sache der Bildung, wie das Volkslied eine Sache der Natur oder der Gnade. Die Urlaute des Geistes sind nur den höchsten und tiefsten Menschen möglich, und wo sie erscheinen, von Jahrhundert zu Jahrhundert, da hat die Sprache selbst ihren vollsten Klang, ihre tiefste Bewegung, ihren lautersten Glanz, ihre weiteste Wölbung, da glüht sie vom innersten Feuer des ursprünglichen Herzens, genährt und gefärbt von den umgeschmolzenen Massen der gesamten Bildung und bestrahlt vom morgendlichen Himmel: da ist sie »ein Dröhnen nur der heiligen Stimme« und vereint die dunkle Fülle der nächtigen Erde mit der blauen Klarheit des ewigen Lichts, die Gnade der Empfängnis mit der Not der Bereitschaft, die Gotteskindschaft und den Schöpferrausch im gleichen Nu. Daneben wird alle »schöne Rede«, alle erhabenen Gefühle, alle Stilkünste des wählerischen Geschmacks zu bloßem Geschwätz. Wer Ohr und Herz hat der faßt in diesen seltenen Gesängen der seltensten Stimmen den Sinn des Lebens selbst[167] als offenbare Gegenwart. Nur hier ist das Wort Fleisch und das Fleisch Geist .. und nur hier begreift man den »Logos« – Geist Wort Sinn – als Schöpfer. Nirgends ist die Empfängnis des heiligen Worts, diese Geburt des Lebensgeistes gewaltiger und wahrer verkündet worden als in dem elften Gedicht des Vorspiels:


Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen

Wenn nicht auf schwerer stirn ihr blitz euch zückt

Der sich nicht rufen läßt .. die kinder flennen

Um selige stunde die so kurz nur schmückt.


Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel

Der toren mund macht süße laute schal

Ihr klagt: du ton der donner, ton der tempel

Ergreifst du uns allmächtig noch einmal?


Es sanken haupt und hand der müden werker

Der stoff ward ungefüge spröd und kalt ..

Da ohne wunsch und zeichen bricht im kerker

Ein streif wie schieres silber durch den spalt


Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern

Es blinkt geläutert was dem staub gezollt,

Ein bräutliches beginnliches entschleiern

Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt!


Da jede Sprache die Eigenschaft einer Schau ist, so erleuchtet die Sprache des Vorspiels sämtliche Elemente die sie seit den Hymnen in sich aufgenommen hatte, genau wie der Engel das Gesetz offenbart das George seit seiner Jugend wegessicher, ahnungsvoll getrieben, unwissend gelebt. Wie der Engel keine der bisherigen Lebenskräfte entthront oder verneint, vielmehr alle, auch die gefährlichen, weiht und lenkt, so bringt die Durchgeistung in jede Schicht oder Welle oder Maser der Sprache eine neue Helle. Jetzt erst, nachdem der ganze Lebensraum vom Geist erleuchtet ist, beginnen sie alle zusammen und in ihren eigentümlichen Tönen zu strahlen. Die Transparenz verwandelt die bisherigen Tönungen von Georges Werken: die brennende Dichte der Hymnen, der finster metallische Schimmer des Algabal, die Marmorklarheit der Hirtengedichte, die[168] farbige Dämmerung der Sagen und Sänge, die bunten Mittagsscheine der Hängenden Gärten und die atmosphärische Pracht des Jahrs der Seele erglänzen hier unter der weiten Bläue und zugleich von innen heraus. Die einzelnen Gegenstände und Landschaften selbst sind überwölbt von dem Himmel des Geistes, der ihnen Perspektive, Maß und Weite gibt. Die Stimme die ehedem aus Gemächern, Gärten, Hainen, Feldern erklang darf nun reden »wie herab vom Äther«. Sie füllt nicht nur die Nähe die sie ausdrückt, sondern das ganze Rund bis zum Horizont. Seele, Geschichte, Natur, Schicksal der Dinge sind an die Dinge gebunden, der Geist bindet sie selbst – er ist nicht mehr ihr tragendes Element, sondern ihr umfassender Raum .. er verhält sich zu ihnen wie der Raum zu den Körpern die ihn füllen.

Diese umfassende Wölbung, die überkörperliche, aber doch nicht unkörperliche Weite unterscheidet die Sprache des Teppichs von der aller früheren Werke Georges. Sie ist keineswegs gedanklicher, reflektierter, rednerischer, sondern noch genau so gedrungen, bildhaft und unmittelbar – aber sie ist geistiger, d.h. minder stofflich, minder tastbar, riechbar, schmeckbar, flaumig, handlich. [Der Gegensatz gedanklich-bildhaft bezieht sich auf Ausdrucks- und Darstellungsmittel .. der Gegensatz geistig-stofflich auf Wesenslage und Eigenschaft. Der Gedanke gibt die Schau durch logische Medien gebrochen oder gefiltert: das Bild hält eine Schau als solche fest. Der Geist ist eine Urform des Seins, das Attribut einer Substanz, der Stoff eine andre: aber beide sind, wie sie dem Menschen erscheinen, selbst Wesenheiten, nicht wie Denken oder Schauen nur Mittel um diese Wesenheiten festzuhalten. Auf einer bestimmten Ebene des Seins nimmt man bestimmte Wesenheiten wahr die auf andren uns verborgen bleiben, und jede dieser Wesenheiten kann man mit den jeweiligen Mitteln so oder so darstellen: man kann Materie z.B. Landschaften gedanklich reflektieren, wie Byron, oder sinnlich darstellen, wie Jean Paul .. man kann den Geist gedanklich vermitteln, wie Schillers Lehrgedichte, oder ihn unmittelbar vergegenwärtigen als Raum, Gewicht, Spannung, wie der späte Hölderlin .. oder ihn sinnlich vermitteln in Formen, Schwingungen, Klängen, Farben, wie der junge Goethe. Raum, Bewegung, Gewicht, Licht sind geistig ..[169] Farbe, Schwingung, Umriß, Klang sind stofflich: jene sind schon Formen unseres Daseins, diese sind Wahrnehmungen innerhalb Raum und Zeit. Jene ruhen in der ursprünglichen Sinneneinheit, diese entstehen aus der Reizung der Einzelsinne. Geist und Stoff sind in jedem lebendigen Gedicht, aber nicht in jedem äußern sie sich. Jedem lebendigen Wesen wohnt Geist inne, aber nur wenige kennen und künden ihn selbst. Er kann sich durch Geberde, durch Stimme, durch Sprache oder durch Gedanke künden .. das sind verschiedene Grade der Erhellung, der Vergeistung des Wesens. Auch der Geist selbst kann sich bergen, verstummen in Stoffen].

Georges Geist wird erst im Vorspiel frei und kund, vorher war er gebunden in stoffhaft-sinnlichen Augenblicken seiner Seele, seiner Natur, seines Schicksals. Indem er frei wird und heraustritt aus den sinnlichen Augenblicken, nicht mehr von dem bedingten Platz der Erde aus spricht sondern vom Äther, aus dem Gesamtraum seiner Sinnenstätten, nicht mehr aus dem Einzelereignis sondern dem Gesetz dieses Ereignisses, gewinnt der welthaltige Nu für ihn einen anderen Inhalt als bisher. Was bedeutet der Kairos dem Geiste? Kairos ist jetzt der Augenblick da der Geist des Gesamtlebens aufglüht, bald von dem, bald von jenem seiner Gipfel, seiner Inhalte oder Werte: der panoramische Augenblick. Schon in den »Überschriften und Widmungen« des Jahrs der Seele waren panoramische Gedichte, die nicht bloß einen sinnlich schönen Nu in seiner Fülle aussangen, sondern von einem solchen Nu, einem Anfangs- oder End- oder Mittelpunkte rundum schauten – »bald zurück bald vor sich zum gewölke bangen fragens.« Doch der Augenblick selbst ist dort der Standpunkt, der sinnliche Träger des Gedichts und von diesem aus ertönen und erscheinen die Gesichte. Das Hier und Jetzt ist als solches im Panorama sinnlich gegenwärtig. Im Vorspiel sind die sinnlichen Augenblicke Vergangenheit und Zukunft einer geistigen Allgegenwart, und der Raum worin sie aufleuchten ist nicht der einmalige Boden, sondern der dauernde Himmel, sie werden verkörpert nicht mehr durch die geliebte Person die kommt oder geht, sondern bestimmt durch den Engel der bleibt. Man kann den früheren Augenblicken Georges zwar ein Motiv eindeuten, aber keine Idee: die Idee, nicht als Bewußtsein sondern als Eigenschaft, durchdrang die Gedichtkreise und[170] teilte sich jeder Monas mit, ohne in ihr gewollt zu sein. Wo der Lebensgeist regiert da sind die einzelnen Augenblicke selbst Ideen, und ihr Sinn erscheint, wenn nicht als ablösbare Lehre, so doch als kündbarer bejahter oder verneinter Wert, als Ideal.

Die vierundzwanzig Gedichte des Vorspiels stellen Georges Leben dar als Verwirklichung von Idealen. Man fasse dies Wort wieder in seinem Ursinn: Ideale sind nicht Begriffe die wir aus menschlichem Verhalten als Forderungen oder Ziele abziehen, etwa das Gute, Wahre, Schöne, Kunst, Staat, Religion, sondern sie sind die geistige Schau dieses Verhaltens selbst, die Erscheinung des sinnlichen Wesens auf der Geist-stufe. Es gibt so viele Ideale als es menschliche Wesensarten gibt, oder vielmehr als menschliche Wesensarten auf der Geiststufe noch wahrnehmbar sind und durch den Wahrnehmenden magisch vergegenwärtigt werden können. Der Philosoph gibt uns die Begriffe der Ideale, d.h. die Beziehungen der geistigen Wesenheiten zu den sinnlichen Stoffen und den gedanklichen Ordnungen. Der Weise gibt uns ihr Gewicht, ihren Rang und ihre Reihe im geistigen Gesamtraum. Der Dichter gibt ihr Erscheinen in seinem Leben, als Geschehen, als Tun und Leiden, als Haltung oder Artung .. doch nicht mehr als etwas das ihm widerfährt oder das er nun einmal hat oder ist – Natur Seele Schicksal –, sondern als die notwendige und richtige Form seines Daseins unter allen möglichen oder wirklichen. Auf Georges früheren Stufen sind die sinnlichen Augenblicke als solche ewig .. auf der Geist-stufe ist die Ewigkeit, das zeit- und raumlose Gesetz (keine gedankliche Abstraktion, sondern ein geistiges Sein) im sinnlichen Augenblick selbst wahrnehmbar, wie für Goethe die Urpflanze in dem Einzelgewächs, oder die Gesetze der Geometrie und der Mechanik in jedem Gebäude. Nur darf man dabei der unmittelbaren Wahrnehmung nicht einen abstrahierenden, umdeutenden Denk-akt unterschieben. Das Geistige läßt sich genau so wie das Sinnliche, wie alles Wahrnehmbare magisch bannen, das Gedankliche läßt sich nur sinnbildlich verkörpern oder allegorisch bezeichnen. [Magisch gebannt ist z.B. das Faustische Ideal, der titanische All-hunger, im ersten Faust-monolog, sinnbildlich dargestellt ist es im Höhlen-monolog, allegorisch bezeichnet im Faust II. Magisch gebannt ist das »Ideal« des dämonischen Ehrgeizes in Shakespeares[171] Macbeth, sinnbildlich dargestellt in Schillers Wallenstein, allegorisch bezeichnet in Hebbels Holofernes.]

Indem wir nun »Ideale« benennen, werden sie bei unsern Denkgewohnheiten, zumal seit Kant, sofort als »Begriffe« verstanden. Wenn man von der Idee einer Dichtung redet, so meint man damit meist eine vor oder in ihrer Erscheinung liegende Abstraktion, als habe etwa Shakespeare sich vorgesetzt die Idee der Liebe in einem Romeodrama zu verkörpern: nein, er gewahrte kraft seines eigenen Reifezustandes die ewige Idee Liebe als sinnlichen Vorgang, als Romeo und Julia, und was er gewahrte bannte er ins magische Wort. Wir gewahren die Idee eines bestimmten Herrschertums in Plutarchs Cäsar, aber wir können sie nicht magisch bannen, sondern nur sehend denken: doch indem wir Herrschertum sagen, haben wir schon gefälscht was wir gewahren, abstrahiert von dem sinnlichen Gesicht der geistigen Idee. So auch werden wir die Ideale die im Vorspiel erscheinen, die dort magisch gebannt sind, schon fälschen, indem wir sie begrifflich benennen: so durchaus sind sie eins mit der geistigen Schau und dem magischen Wort eben dieses Dichters. Es sind die gelebten Ideale eben dieses Menschen, nicht allgemein menschliche Ideale die George gesehen oder gar gedacht und dann dichterisch ausgesprochen hätte. Sie sind Gegenwart seines, eben seines Gesetzes, das er, eben er als ewig erfährt und kündet, nicht irdische Hinweise auf ein ewiges Gesetz über den Wolken das jeder andere erfahren und künden könnte, wenn er zufällig bessere Augen und gewandtere Zunge hätte. Ebensowenig sind diese »Ideale« subjektive Erfahrungen eines Herrn Stefan George. Daß sie ein sehendes Auge und einen kündenden Mund, einen sie lebenden Leib, ein magisches Wort gefunden – gerade das ist die Gewähr daß hier ewiges Menschengesetz, übersubjektives Wesen spricht. Subjektive Erfahrungen, Privatideale haben keine Magie, sie können gedacht, allenfalls erlebt, aber nicht gelebt werden. Wo Magie, Gestalt und Weihe ist, da ist von selbst Welt oder Gott gegenwärtig. Privatideale, religiöse Erlebnisse, Glaubeleien sind höchstens die Beziehungen hiesiger Monaden zu einem transzendentalen Ding an sich. Wie eine Blume, einerlei wer sie sieht, wirklich lebt, nicht bloß erlebt wird, wie sie durch ihr Dasein schon Gesetz und Wesen offenbart, so ist das magisch gebannte Ideal eine unmittelbare[172] Wirklichkeit und nicht eine Stimmung oder Deutung. Genau was Georges Landschaftsgedichte von den romantischen unterscheidet das unterscheidet seine Ideale im Vorspiel von bloß geistigen Erlebnissen und Erfahrungen: daß sie sind was er ist .. daß sie wesen was sie erscheinen, und daß Ich und Du auch hier dieselbe Seele sind, nicht durch mystisches Untertauchen des Ich im Du, oder durch gnostische Emanation des Du aus dem Ich, sondern durch magische Gegenwart der Sicht im Seher, des Gesetzes im Buchstaben, der Idee in der Erscheinung, des lebendigen Wortes im geistigen Sinn.

Wir wollen kurz die Ideale des Vorspiels betrachten, der Unzulänglichkeit jeder Inhaltsangabe uns bewußt, die nur die Blickrichtung des Lesers bestimmen, nicht des Dichters Gesichte selbst vergegenwärtigen kann. Wir geben nur Wegweiser, nicht Weg oder Gang. In demselben Sinn in dem der Engel das »Gesetz« Georges ist, der Geist seines Lebens, sind die Winke und Wege des Engels »Ideale« – die Formen unter denen die geistige Einheit sich menschlich auswirkt.

In viermal sechs Gedichten des Vorspiels wird das Leben im Geist, unter dem offenbarten Gesetz, dargestellt. Die ersten sechs zeigen das Ringen des Ich mit dem Engel um die Weihe: Ideale des Strebens .. die zweite Gruppe umfaßt das Leben mit und in dem Gesetz, den eigentlichen »Gottesdienst«: Ideale des Schaffens .. die dritte das Leben des Geweihten mit Mensch und Erde: Ideale des Wirkens .. die letzte sein Schicksal: Ideale des Leidens. Es ist immer dasselbe Sein, nur ein Leben, nur ein Engel – aber der Raum wandelt sich durch den das Du sein Ich führt. Der erste Akt spielt auf der Grenze zwischen dem alten und dem neuen Land, der zweite im heiligen Bezirk, der dritte im offenen Menschenreich, der vierte in der ewigen Stille. So wandert das Ich nach der Überschreitung der Schwelle und dem Dienst im Tempel, sich selber unverlierbar, in die mannigfaltige Weite, und kehrt zuletzt heim in die Zweieinsamkeit der Vollendung – ein Gang zum wahren Sein, wie Dantes oder Fausts Reise durch die drei Reiche. Nur muß der heutige Mensch seinen Führer aus dem eigenen Blute zeugen samt seinem Raum. Himmel und Hölle, Vergil, Beatrix, Gott und Teufel waren schon vor ihren Suchern da: im Vorspiel ist die Findung des Führers und die Erschaffung[173] des Raumes selbst zugleich die Handlung. Das Leben hat ja nicht mehr wie noch bis zum Goetheschen Zeitalter in der Erfüllung unbezweifelter Gebote und Pflichten, in »schwerer Dienste täglicher Bewahrung« seine Lust und Last, seinen Sinn und Wert: wir müssen seinen Sinn und Wert erst aus dem eigenen Herzen erschaffen und die Welt erst aufbauen und abbauen worin er sich verwirklicht. Kein Gott von außen, keine Welt ist uns fraglos gegeben.

Dies Pathos des Gott- und Weltschaffens (denn nicht um bloßes Suchen handelt es sich) bewegt Georges Vorspiel. Dem seligen Schauder der Erleuchtung, dem trunkenen Gewahrwerden der Erwählung, dem Aufglühen und -blühendes Schönen Lebens, der Erhörung des Gebets (I) folgt der erste Kampf um die Gnade. Den schöpferischen Zustand festzuhalten, zu verewigen, das Schöne Leben zu erzwingen ist der Erdensohn versucht der es geschaut: wie soll den dumpfen Tag ertragen wer in der Schöpferstunde die selige Schöne, den Urglanz erblickt hat! Des Engels gewärtig sein, nicht ihn mit Sinnen- und Herzenswünschen bestürmen, die fromme Geduld auch vor der Gnade ist das erste »Ideal« des Begnadeten, die Bändigung des heiligen Eifers durch sein eigenes Gesetz, die erste Lehre des Du, die nächste »Pflicht« des Ich. Die Weihe schließt das Titanentum aus .. der heroische und schöpferische Wille erkennt schmerzlich sein eignes Maß, die Grenze seiner Macht (II). Das Maß im eigenen Schöpferwillen heißt Gleichgewicht in den Stürmen der erschütterten und der bedrohten Seele. Nicht Leidenschaft und nicht Zufall mehr darf ihn lenken, kein Wahn mehr locken, kein Unheil mehr schrecken: der Engel, das Gesetz, der Geist, der Sinn des Lebens selber muß den Gefährdeten sichern .. die aequa mens dessen der sich in der Gnade weiß .. die Besonnenheit des erleuchteten Herzens das wohl alle wilden Kräfte hegen soll, aber keiner verfallen darf (III). Auch der süßesten nicht, der holdesten Lockung, auch der Liebe nicht, wenn sie den Ruf des Engels überklingt und das Gesetz lockert, wenn sie zum Ausruhen lädt und die heilige Bürde abzuwerfen rät. Niemals seit Beatrices Strafrede an Dante ist die Lust und die Qual der Versuchung, der Widerstreit zwischen dem süßen und dem hehren Drang, die Strenge des hehren Drangs, die Ergebung auch der Liebe in den Geist süßer und hehrer laut geworden als in dem IV. Gedicht. Der[174] Ausgeglichene verlernt das Schweifen und Wandern, die »lauten Fahrten«, die friedlose Suche nach buntem Draußen: an des Engels Seite erkennt er den Sinn des zugemessenen Raumes, den Zauber der Heimat: das Geheimnis seines Gesetzes in dem Lande dem er zugeboren ist (V). Wie seine Seele, sein Schicksal, so ist auch seine Natur jetzt dem Geist des Lebens gehorsam, nicht blind und unversucht, mit manch sehnsüchtigem Umblick und Rückblick, aber frei und fest. Nur noch ein Erinnern bleibt das letzte Aufflammen des wilden Lebensfeuers, des alten Titanentriebes der in jedem hohen Menschen sich bäumt und die Vorform jedes Lebensgesetzes ist, wie das Chaos die Grundlage jedes Kosmos. Die leidenschaftliche Selbstbehauptung des Blutes, die jugendliche Herrschsucht des Ich, der prometheische Trutz, der faustische Wahn, sie sind überwunden, eingegangen in das Gesetz mit ihrer glühenden Gewalt, doch ohne ihre lodernde Qual. Das Opfer ist vollbracht und angenommen (VI).

Im zweiten Sechst ist kein Ringen und Bäumen mehr: hier heißt es Schau und Schaffe. Es ist der Bereich der Religion und der Kunst: beide für den Gestalter, den Leibvergotter und Gottverleiber, nur eins. Von seinem eigenen Gesetz aus überblickt er die Gesetze und Gottheiten der Menschen – Nutzen, Wahrheit, Heiligkeit, Schönheit .. die freie Sicht vom Gipfel des Geistes über die Gebiete Mammons, Golgathas und Olymps (VII). Zur geistigen Freiheit gegenüber den Glaubensarten der Geschichte verleiht der Engel die sittliche Freiheit gegenüber geschriebenen und geübten Sittengesetzen, gegenüber allen »Heteronomien«. Zu streng und sicher ist sein eigenes Gesetz als daß er noch fragen ließe mit welchen fremden es übereinstimme. Wie er keine Willkür der eigenen Triebe duldet, so auch keinen äußern Zwang, keine den Andern noch so gültige, durch Alter, Macht und Gewohnheit noch so ehrwürdige Lehre von Gut und Böse. Er ist erhaben darüber, weil er sich ergeben hat in eine härtere Zucht .. er ist frei davon, weil er fester gebunden ist. Wer so muß der kennt keine Sünde als die wider seinen Geist, keine Sitte außer der des schönen Lebens das ihn treibt und lenkt .. und also nicht Scham, wie der Halbe oder Abhängige, nicht Reue wie der Unbesonnene, nicht Fluch wie das weihelos titanische Ich. Er tut wie er muß, kraft innern Rufs, nicht aus Furcht oder Hoffnung, nicht um[175] eines Zieles willen, nicht mit Absicht und Rücksicht sondern aus Einsicht. Seine Taten sind Atemzüge seines Wesens, und sein Wesen ist Gesetz: »frei in den bedingten Bahnen«. Dies ist Georges »Ideal« der Sittlichkeit (VIII).

So kennt er auch kein Wählen und Schmäckeln an den einzelnen Äußerungen des schönen Lebens selbst: seine sinnliche Freiheit ist das offene Auge für jede reine Form und jeden lautern Trieb des gefüllten Daseins, Empfänglichkeit für Art und Ursprung alles Holden, Echten und Tiefen, für Reife der Seele wie der Erde, für die Gewächse und Schichten, Vorgänge und Zustände mit all ihren Sinnenbildern und -scheinen (IX). Wer der Vielheit offen bleiben muß darf die Einheit nicht verlieren, nicht sich betäuben, verwirren, zerreißen lassen von der Tausendfalt des Alls: der Engel wahrt ihm die eine Form die sein Gesetz wie seine Gnade ist, der Sinn seines Ich wie der Zusammenhalt seiner Welt (X). So gesichert gegen das Wirrsal des Raums, weiß er sich gefeit gegen den Abgrund der leeren Zeit durch den Ruf der Schöpferstunde, gegen die Ohnmacht bleierner Nächte durch die Allmacht des Morgens da der tote Stoff unter dem Anhauch des Kairos sich bildet (XI). Doch nicht nur den toten Stoff und die öden Fristen muß der Engel überwinden mit seiner steten Gegenwart, mit seinem sinn- und maßgebenden Wort, wirkend, heischend, tröstend: das Bild selbst, das schon gebannte Ideal, die selige Sicht selbst blaßt und sinkt, die gehobene Stunde, so ewig sie ist, hat keine Dauer im Alltag und der göttergleiche Gestaltenballer und Geisterbanner bleibt nicht in der Traumschau. Auch diese tiefste Verzweiflung des Schöpfers löst nur ihr eigener Sinn: daß Sicht und Seher, Gebild und Bildner eines sind, nur zwei Eimer desselben Brunnens der sie wechselseitig füllt und leert. Sie können einander nicht verlieren, und wo der eine dürstet schöpft der andere. Damit schließt der zweite Akt des Mysteriums (XII).

Der dritte eröffnet die geistgewollte Landschaft, den gesetzlichen Erdenplan des schönen Lebens, voll lieblichen und gemessenen Reichtums – Klarheit, Anmut und Stille. Was in den Hirtengedichten als sinnliche Luft atmete das ruht und glänzt hier als die notwendige Gegend des Geistes, als der erwählte Boden worin er sät und erntet, als Klima worin seine Blumen und Früchte gedeihen (XIII). Dann[176] führt der Engel seinen Pflegling unter die Menschen: zu den Nächsten, die ihn, wenn nicht begreifen, so doch fühlen und die ihm, obwohl seinem Gesetz fremd, durch Art und Geschick vertraut sind, die Wahlverwandten edlen Bluts und die Brüderschaft echten Leides, den engsten Umkreis treuen und echten Menschentums (XIV). Von da geht der Weg zu den Stamm- und Gauverwandten, in die lang gemiedene Heimat. Was jeden, er sei wer er wolle, an seinen Boden bindet, was die mütterliche Scholle und ihre Bewohner traut und heimelig, heimatlich macht, dem Geruch, dem Licht, dem Raunen der vaterländischen Äcker und Triften, den alterinnerten und verjährten Bräuchen, Stimmen und Gesichtern aus der ersten Hege und Weite, all dem gibt die sommerliche Heimkehr des lang Entrückten mit seinem Engel Sinn und Wert. Der Geist des schönen Lebens erweckt wieder und verherrlicht die angestammte Erde,


Die wiesen mit geblümtem samt

Die schweren ähren auf den schwanken stengeln

Gesang der schnitter die die sensen dengeln (XV).


Nun tun sich erst die Stätten der wirkenden, spielenden und genießenden Menge auf, Städte und Ströme, die sinnliche Breite wo der Geist Anschauungen und Erkenntnisse, Reize und Regeln, Stoffe und Mittel findet, die fremde Flut des Geschehens, das Meer von Dingen und Kräften, das Gewoge und Getreibe der Vielen, der Jungen, der Schönen, der immer Regen und Mannigfaltigen .. aber auch die Geselligkeit der Rede und des Schweigens im nächtigen Gemach, das Geheimnis des belebten Gesprächs, der Zauber des abendlichen Beisammen, der Mitteilung, des Seelenaustauschs und -aufschlusses: kurz die ganze weiteste und engste Gemeinschaft der Menschen vom Volk bis zum Geheimzirkel, das Ideal des Mitandernseins kraft des eigenen Lebensgeistes wird magisch beschworen in jenem Hohelied der kosmischen Mitwelt (XVI).

Die beiden Schlußgedichte des dritten Sechsts rufen die geistige Macht und den geistigen Ruhm auf. Der Erneuerer des schönen Lebens durchwirkt mit seinem Geist und Hauch eine neue Jugend. Der Genius der ihn lenkt gibt dem Wort einen neuen Sinn, den Dingen ein neues Maß, den Menschen eine neue Würde: der überpersönlichen Gewalt seines Gesetzes erdröhnt hier des Dichters stolzestes[177] exegi monumentum (XVII). Da dies Leben nicht eingeschlossen ist zwischen Geburt und Grab, so darf sein Geist auch die Nachwelt zeigen mit ihrem Staunen und Scheuen, ihren Fragen und Kritteln, mit ihrer immergleichen Fremdheit vor den Meistern die wie er das Geheimnis des Lebens geschaut und in schönen Bildern offenbart und verborgen haben (XVIII).

Mit- und Nachwelt sind der Wirkungsraum des geistgelenkten Menschen. Im letzten Sechst des Vorspiels kehrt er ein in sein eigenstes Leben, allein mit seinem unveräußerlichen Wesen, in seine Ewigkeit, – in das was Divina Commedia und Faust den »Himmel« nennen. Hier aber ist kein Jenseits, sondern das erfüllte Leben selbst ist Himmel wie es Fegfeuer und Hölle ist. Wir selbst sind unsere Erlösung oder unsere Verdammnis. Unser Sein ist unser Leiden, unsere Seele ist unser »Schicksal« und der Geist vollzieht es. Das »Schicksal« freilich das sie hier zusammen erleiden und vollziehen ist nicht mehr das naturgebundene »Verhängnis« der Traurigen Tänze, sondern der geistgewollte Heilszustand. [Dieselbe Wahrheit ist griechisch gefaßt in dem Heraklitischen ἠϑος ἀνϑρωπῳ δαιμων. Ebenso hat ja auch die Seele hier alle früheren Mächte in sich und ist nicht bloß mehr Natur- und Schicksals-Seele, sondern Geist-Seele und mit ihm zweieinig auf einer höheren Stufe. Zweieinig – aber auch, nach Durchwirkung der Erde, zwei-einsam, und diese Zweieinsamkeit ist ihr letzter und oberster Lebenskreis im Vorspiel: hier ist das Ich Seele, das »Ewig-Weibliche«, nicht mehr Trieb und Wille – nicht mehr das Manntum des Ich, das der Geist, der übergeschlechtige Engel, durch die Bezirke des Strebens Schaffens und Wirkens gelenkt. Die Seele schafft und wirkt nicht mehr, sie west: und wesend erleidet und erfüllt sie die Befehle des Geistes mit dem sie zweieinsam ist.

Die Seele ist wehrlos und jede Erfüllung wie jede Armut ist für sie Zustand, nicht Tat, Werk oder Bild. So war schon im Jahr der Seele alles Geschehen Reifezustand des ewig-weiblichen Ich-Seins. Im Vorspiel wird die vollendete Weihe durch den Engel, der das Mann-Ich »zum Wirken ruft« und ihm die Welt als Schöpfungsraum öffnet und preisgibt, für die Seele zur überschwenglichen Trunkenheit. Dieselbe Erleuchtung die das Mann-Ich zum Gestalter, zum Wirker, zum Bildner macht gibt der Seele den Rausch, den traumschweren[178] Schlaf, die Ekstase, macht sie »mystisch«. Beides ist im schöpferischen Menschen: Bildnerwille der sein inneres Gesicht im äußeren Weltstoff verwirklicht, und Seelensein das im inneren Gesicht aufgeht, actio und contemplatio. Beides hat George gekannt: im XI. Gedicht des Vorspiels, das die Ideale des Schaffens beschwört, spricht der Geist zum zeugenden Ich, im XIX., das die Leidensideale einleitet, zum empfangenden: der Geist des Lebens, Logoss-Eros, waltet hier wie dort, und die beiden Geschlechter des Menschen sind in ihm vereinigt, um zu zeugen oder zu empfangen nach der Stunde die er bestimmt. Den Rausch der Empfängnis, die sternenvolle blaue Nacht des allumfangenden glühenden Untergangs, die unio mystica der Seele mit Schöpfergeist und Schöpfungsall, den uranischen Einklang der Menschenstimme mit der Sphärenmusik kennt nur derselbe Dichter der auch den erdhaften Bildnerdrang, die Lust des Fassens und Knetens, die süß-herbe Gewalt über den nächsten spröden Ton, erfahren hat. Nur dem Plastiker des Inferno konnte die Himmelsrose leuchten und klingen, nur dem Meister des Prometheus waren die Schlußchöre des Faust vernehmbar.

Die Seele, die wehrlos dem Rausch der Erleuchtung erliegt, wenn der Geist sie nicht »mit schweren Traumesflügeln« hüllt, versinkt auch in der abgründigen Trauer der Verfinsterung und ist nur stumme blinde Nacht, wenn die heilige Stimme schweigt. Wir wissen von diesem Zustand in dem das Jahr der Seele empfangen ist:


Ihr ist als ob bei jeder zeitenkehr

Sie mehr nur hungre nach der heiligen zehr ..


Aber während einst dieser Zustand jeweils das ganze Leben der Seele war, der vor- und rückschaulose Augenblick, hat der Geist jetzt ihr Raum geschaffen und umgibt auch die düsterste Stunde mit dem bleibenden Licht: Hoffnung und Erinnerung. Wo sie früher nur gelebt hat, da weiß sie jetzt kraft des Geistes:


Noch niemals blieb der morgen aus der lichtend

Das tal ihr wieder wies das duftig bläut

Wo heimlich singen und ein tief geläut

Und ein gesicht aus maienbüschen lugend

Ihr riefen: sieh dich noch mit deiner jugend (XX).
[179]

Erst durch den Geist wird das ganze zurückgelegte Leben, das ehemals in den jeweiligen Nu eingeschlossen war, gewisse Gegenwart und Wirklichkeit .. erst jetzt wird die Dauer des schönen Augenblicks, die früher ein dumpfes Tun und Geschehen war, ein Wissen, ein geistiger Wert, ein Ideal. Und nicht nur die Dauer des schönen Augenblicks, sondern – höherer Trost und sicheres Heil selbst in tieferem Gram und hoffnungsloserer Brache – das Wissen um die Ewigkeit des Geistes, um seinen unverlierbaren Sinn. Nie wieder kann die geisterleuchtete Seele in die unerlöste, die sinnlose Natureinsamkeit zurücksinken. Zwar menschlich bleibt sie einsam: die dunklen Abende, die verlassenen Nächte, die Endschaften des Tages und des Jahres kann der Geist nicht ändern, keine geselligen Brüder erschaffen für den Alleingeborenen, die Brachzeiten der Seele und des Blutes kann er so wenig aufheben wie die der Erde. Er kann die Natur, und das was am Menschen Natur ist und bleibt, nicht entlasten, nur erleuchten, indem er seinen Sinn ihrem dumpfen Sein eingibt. Keine Qual verschwindet durch das Wissen um ihren Sinn, wohl aber wird der Wissende sich in keiner verlieren .. und wer den Tod als Gesetz ehrt, wird ihm freier entgegengehen als der Natur- und Schicksalsbefangene. Die Qualen des Seelenjahres wiederholen sich im Geist-Raum, aber die Seele ist nicht mehr allein mit ihnen, sondern mit dem Engel, dem ewigen Du, das mit-leidet und über-lebt. Seine Liebe wacht: denn was dem zeitlichen Ich Glut ist das ist im ewigen Du Helle, was hier Begier ist das ist dort Liebe, und was hier Sein ist dort Sinn: die Zweieinsamkeit des Menschen rettet die Seele im Geist und gibt ihr bis ans Grab »die Glut die verjünge« (XXI). Freilich, keine andren Gefährten hat das vollendete Ich mehr zu erwarten als seinen Engel selbst: je höher es steigt, je mehr es sich erfüllt, je ausschließlicher es seinem Gesetz dient, desto mehr entfernt und entfremdet es sich den leichten, freundlichen, geselligen, läßlichen Menschentümern, der bequemen Menge wie den willigen doch schwachen Jüngern. Der Engel selbst, der diese Einsamkeit fordert, kann allein sie tragen helfen. Er ist der Bräutigam der Seele die ihresgleichen hier nicht hat, der Bruder eines Lebens ohne Gefährten, die Stimme der stillsten Gipfel (XXII).

Die beiden letzten Gedichte nehmen die Einzelseele auf in die[180] Gesamtseele des Menschentums das unter dem Geist steht: hier redet ein »Wir«, kein geselliges oder volkliches, sondern ein kosmisches, eine Welt-Seele. Die Ideale des Leidens sind hier persönliche Erfüllungen eines Schicksals das nicht einer einzigen Person, sondern dem höheren Menschtum als solchem zugeteilt ist: die Gleichheit vor dem Lebensgesetz und vor dem Tod. Der Geist des Lebens selbst ist der unbedingte Herr über Leiber und Seelen – freudig folgen die welche ihn erkannt haben, die Eingeweihten, seinem Ruf in Nacht und Tod, er gebiete was er will. In den früheren Gedichten sind seine Befehle selbst an ein besonderes Ich gerichtet, die einzelnen Winke des Engels von seinem besonderen Schützling befolgt. Hier (XXIII) wird seine Allgewalt als solche gefeiert, der fraglose Gehorsam den der Geist des schönen Lebens fordert und findet, soweit überhaupt sein Reich sich erstreckt, einerlei was und wem er befiehlt .. die Lebensmacht des Geistes, nicht dieses und jenes persönlichen Ideals, sondern der Idee wie Plato, des ewigen Strebens wie Goethe, des kategorischen Imperativs wie Kant, des heiligen Feuers wie Napoleon, des primo amore wie Dante, des eroico furore wie Bruno es nennt – der göttliche Odem wodurch der Mensch erst Mensch ist. Sein Geheiß ist so unbedingt und so allgültig, so »wir« haft unausweichlich wie der Tod. Diesem gilt der Schluß-gesang des Vorspiels (XXIV). Auch der Tod, die Vollendung, ist Geist des schönen Lebens: der letzte Blick – mild beschattet vom Erinnern, umblüht und umweht vom schicksallosen Wachstum in feierlicher Stille – ruht auf dem Engel und erlischt in seinem Anschaun. Wie Dante erstummt vor Gottes Antlitz und Faust stirbt im Vorblick auf seine bezwungene Welt, so endet das Schöne Leben im frommen Anschaun des Todes der es erfüllt, am Busen des ewigen Geistes der mit ihm uranfänglich eines ist. Das Ich kehrt, beladen mit der Erdenfülle, wieder heim in sein Du, die Zeit geht ein in ihre eigene Ewigkeit. Noch einmal glüht die Pracht, Süße und Gewalt dieser Sänge empor und dunkelt dann im hehren Schweigen. Nicht die Verklärung des Todes, sondern seine Verzauberung ist vollbracht: er atmet in »Worten des ewigen Lebens«. Nicht heilige Ferne ist er mehr, nicht aufgehoben in die »Unsterblichkeit« oder entwest in Gott, sondern schöne Gegenwart, leibhaftiges Da-sein, eines mit dem Trieb des[181] Lebens und dem Sinn des Lebens, mit Eros und Logo. Die Feier des Schönen Lebens hat auch den Tod, den Ich-vernichtenden Kairos, durch Zauberspruch gebannt in dies Leben selbst.

1

Wir behalten den Namen bei, weil die deutsche »Romantik« die höchste Steigerung und der deutlichste Ausdruck aller dahin gehörigen Eigenschaften dieses Risses ist, ihr faßlichstes geschichtliches Sinnbild.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 157-182.
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