2.

[22] Pater Vincente war wol schon dreißig Jahre alt; doch hatte er noch alles von der weichen Jünglingsschönheit des Antinous …

Seine Augen waren sanft braun … Die Farbe seines Antlitzes, und nicht ganz vom Widerschein der Strahlen des orangegelb über dem Albanergebirge herausgetretenen Mondes, war fast gelblich … Das kurzgeschnittene und die so schöngeformten kleinen Ohren grell freilassende Haar dunkelschwarz … Der braune, jetzt von der Kapuze bedeckte Nacken schweifte sich sanftgebogen … Sein Mund war etwas aufgeworfen und wie zum Genuß des Lebens bestimmt … Die hohle Wange stand in Verbindung mit sanften Erhöhungen an den Winkeln und Lippen … Seine Gestalt hatte etwas Aetherisches; sie schien, wie dies einst dem heiligen Franciscus in Wirklichkeit geschehen sein soll, in den Lüften zu schweben … Viele, die ihn kannten, prophezeiten auf sein Haupt – noch einst die dreifache Krone – wie man in der katholischen Christenheit jedem Leviten thut, der sich durch gottseligen Sinn auszeichnet …[23]

Die beiden Deutschen gingen hinter dem Italiener, wie seine Diener … Doch wollte dieser nur ihr Führer sein … Hubertus ließ sich auch nichts von seinem bestimmten, festen, muntern Naturell nehmen … Was ihm durch den Sinn kam, plauderte er aus … Die Bäume am Wege nannte er alte Bekannte aus Indien; die Düfte, die von den botanischen Gärten herüberkamen, analysirte er nach den Pflanzen, denen sie angehörten … Den schmetternden Nachtigallen paßte er stillstehend auf; dem Mond drohte er, ihn, wenn er noch größer und ganz wie in Java würde, vor Freude in den Sack zu stecken … Alles das, sagte er, ist darum so prächtig hier, weil es ohne die Schlangen und die Tiger ist! …

Die Heiterkeit des wunderlichen Alten hatte seinen Leidensgefährten schon seit Jahren aufgerichtet … Sebastus nannte ihn schon im Kloster Himmelpfort den zweiten Philippus Neri … Philippus Neri war jener »kurzangebundene, humoristische«, römische Heilige, von dem Goethe in seiner italienischen Reise erzählt … Könnte ich Ihnen den Schamanen und indischen Gaukler austreiben, sagte Sebastus schon oft, Ihre Wunderkraft und Heiligsprechung wäre verbürgt! Philippus Neri legte sich auf das Studium, den Menschen manchmal so unausstehlich zu werden wie möglich. So auch Sie! Es gelang freilich Ihrem heiligen Vorbilde nicht immer so ganz, wie Ihnen! Je mehr Philippus verletzte, desto mehr liebte man ihn. Ja sogar die Thiere liefen ihm nach. Hunde zu tragen – war sonst eine Strafe der Verbrecher; Philippus trug sich immer[24] mit Hunden und duldete den Spott der römischen Jugend. In die Kirchen ging er und unterbrach die römischen Fénélons und Bourdaloues seiner Zeit gerade an ihren blumenreichsten Stellen. Da wollte er ihre Demuth prüfen, ob auch wol die geistreichen Rhetoriker nun ebenso gelassen blieben, wie sie ihren Zuhörern anempfahlen. Erschien ihm die allerseligste Jungfrau, so spie er sie an, und siehe da! es war eine Teufelslarve. Er sagte: Ihm müßte dergleichen viel herrlicher erscheinen! … Die »Vernunft« in unserer Heiligengeschichte ist noch gar nicht genug geschildert worden …

So sprach Klingsohr in Himmelpfort – Fast hätte er sich auch in Rom veranlaßt fühlen dürfen, wieder an diese alten Vergleichungen zu erinnern … Hubertus sprach den ganzen Weg bis zum Ponte Sisto, der die Wanderer über die Tiber führte, vor Aufregung alles bunt über Eck durcheinander … Ja er wagte sich an den Pater Vincente mit der italienischen Frage, nicht etwa wo das Capitol oder das Coliseum oder die übrigen Klöster des heiligen Franciscus lägen, sondern wo er die päpstliche Reiterkaserne finden könnte …

Pater Vincente zeigte weit weg über die Tiber zur Peterskuppel hin und sprach von einer dort befindlichen Porta Cavallaggieri …

Nun ereiferte sich Hubertus über den Mangel an Briefkästen … Und daß auch die Hauptpost nicht einmal des Nachts einen Briefkasten offen hielt, wie ihm Pater Vincente versicherte, rügte er ebenso, wie der heilige Philippus Neri mit den Institutionen von fünfzehn Päpsten, die er erlebt hatte, in stetem demokratischen Hader[25] lag und noch wenige Jahre vor seinem Tode und schon im Geruch der Heiligkeit nahe daran war, statt als »heiliger Diogenes in der Tonne« in allerlei römischen Winkeln zu leben, als Staatsgefangener auf die Engelsburg zu ziehen …

Als Hubertus die Unmöglichkeit, den Brief abzugeben, in deutscher Sprache beklagte, mußte er erleben, daß Pater Vincente sich umwandte und mit gebrochenem Deutsch einfiel:

Wisset Ihr denn nicht, daß Ihr keinen Briefwechsel führen dürft? Laßt mich doch nicht zum Beschützer einer unerlaubten Handlung werden! …

Die betroffenen Mönche erfuhren zum ersten mal, daß Pater Vincente soviel Kenntnisse in den Sprachen besaß … Sie mußten ihren Unterhaltungen einen Dämpfer auflegen … Hubertus murmelte, verdrießlich über soviel Loyalität:

Sind wir wirklich im Lande der Mörder und Räuber? …

So kam er in die andächtig und feierlich gehobene Stimmung Klingsohr's, um den jetzt nur noch bald die Volksstürme der Gracchen rauschten, bald die ersten feierlichen Gesänge der Katakombenkirchen …

Die Wanderer hatten die innere Stadt betreten, die in ihren lebhaftesten Theilen jeder andern südlichen gleicht und außer den an den Häusern zahlreich angebrachten Balconen nichts Auffallendes hat. Die »ewige Stadt« zeichnet sich auch sonst am Tage durch ihre Schweigsamkeit aus, die gar nicht mit der lärmenden Weise Südeuropas stimmt. Die Herrschaft der Priester bedingt[26] den Ton der Ehrfurcht und Zurückhaltung. Beim ersten Betreten macht Rom einen Eindruck, wie Venedig auf den Lagunen – lautlos gleiten die Gondeln über die dunkle Flut … Jetzt war nun noch die Nacht hereingebrochen und vollends still lagen die hier so engen, den erwerbenden Klassen angehörenden Straßen und kleinen Plätze. Dunkle Schatten hüllten die verschlossenen Häuser ein. Nur da und dort brach der goldene Strahl des Mondes hervor und gab den schmutzigen Eckgiebeln, den verschwärzten Balconen, hochragenden Schornsteinen eine verklärende Beleuchtung. Die vielen Fontainen Roms belebten die Stille. Fiel der Mond auf die Strahlen und die Bassins, in die jene niederglitten, so glaubte man Büschel von Gold- und Silberperlen zu sehen. Oeffnete sich ein größerer Platz und zeigte eines der hohen Staatsgebäude, eine der Kirchen oder einen der in dieser Gegend seltenern Paläste, so sah man die Giebel, Thürme und Kuppeln in um so magischerem Lichte, als die Dunkelheit der Schatten daneben den Glanz derselben erhöhte. Dazwischen durfte das Auge dann und wann glauben, Schneeflocken auf den Höhen zu sehen. Das war dann weißer Marmor, ahnungerweckend aufblitzend …

Klingsohr sah wie zum zweiten mal geboren um sich … Die Erinnerungen umkrallten ihn riesig, als Pater Vincente, der sein hartes Wort wieder gut machen zu wollen schien, Erläuterungen zu geben begann … Da sagte der sanfte Führer auch unter anderm auf ein wüstes Gewirr von Häusern zur Linken zeigend:[27]

Der Ghetto der Juden! … Die »Rumpelgasse« Roms! … Ob auch hier, wo eine Nachtigall so mächtig schlug, wo die Fontana Tartarughe so traulich plätscherte, wo am Mauerwerk wie verstohlen eine schwarze Cypresse hervorlugte, ein Veilchen Igelsheimer leben mochte? … Ob auch hier die nächtliche Vertauschung einer Mönchskutte möglich war gegen einen Ueberrock, mit dem ein toller Mönch in die Theater Roms lief? … Lucinde huschte für Klingsohr schon lange, lange am Wege … Da gab es schon so manchen schönen Kopf mit aufgelöstem Haar an einem Fenster, ein Mädchen, das eben schelmisch noch einmal den Mond anguckte und dann erst zu Bett gehen wollte … Da tönte eine Guitarre … Da scholl aus einer Schenke ein Jauchzen – das Schreien beim Morraspiel … Jesus, mein Feldherr! mußte schon der ewige Fahnenflüchtling rufen … Lucindens Gestalt begleitete den so tief Verkommenen in jeder schönen Situation, ihn, den wie der Brief zeigte, den er in seiner Kutte trug, die trübste Lebenserfahrung schon so tief gedemüthigt, ja zu der ihm sonst nicht eigenen Verstellung gebracht hatte … Wie oft hatte nicht Lucinde, wenn Jérôme von Wittekind sie im Latein unterrichtete, von Rom gesprochen und ihm was sie gelernt wiedererzählt bei ihren Stelldicheins hinterm Pavillon unter den alten Ulmen auf Schloß Neuhof und noch in Kiel … Im Profeßhause der Jesuiten hatte sie dem Gefangenen Bilder einer größern Wirksamkeit vorgegaukelt, deren Fernsichten bis nach Rom gingen … Wo mochte sie wol jetzt weilen, sie, die in ihren auch im Kloster Himmelpfort später bekannt gewordenen, von der Regierung veröffentlichten Briefen an Beda Hunnius ihr[28] Lebenssymbol nicht selten wiederholt hatte: An der Schwelle der Peterskirche möcht' ich sterben! … Was alles mit ihr Hubertus in Witoborn vorgehabt, hatte Sebastus von diesem nicht ganz erfahren können …

Pater Vincente blieb freundlich und milde … Ging doch auch er mit der mächtigsten, gewiß auch ihm aufwachenden Poesie im Herzen dahin … Klingsohr hatte das Erlebniß von dem Kuß in der Beichte gehört … Er selbst kannte diese Schemen, die den heiligen Antonius peinigten, nur zu gut … Und diese Luftspiegelung der erregten Sinne, für die der schöne Jüngling und Mann dort hatte fünf Jahre büßen wollen, vermählte sich heute! … Er bettelte nun an ihrer Thür! … Da war ja die Welt Heinrich Heine's, die ihn einst so umfangen gehalten …


Das kommt, weil man »Madame« tituliret

Mein süßes Liebchen –


Jesus hilf! rief es in Klingsohr's Seele …

Pater Vincente deutete auf eine rechts sich noch einmal öffnende Durchsicht über die Tiber und auf einen jenseits in den blauen Lüften schwebenden fernen Punkt und sprach:

Das da ist das Asyl der Pilger! Eine fromme Stiftung des heiligen Philippus Neri! …

Hubertus lachte und drückte spähend seine schwarzen funkelnden Augen zu und hob die Kapuze in die Höhe und sah die so achtbaren Erinnerungen an einen Mann, mit dem er Aehnlichkeit haben sollte … Und ganz im Neri'schen Geist sprach er in seinem holländischen Deutsch durcheinander, rasch, als wenn Pater Vincente folgen könnte:[29]

Das Haus sieht groß genug aus, um den Seckel der Wirthe zu füllen! Ja – wer Gott liebt, dem müssen alle Dinge zum Besten dienen – namentlich die Wohlthaten, die er spendet! Pater, wo wir in Italien auch hingehört haben, bringen die Bettler, die Armen, die Pilger, die Wallfahrer den Stiftern erst recht das Geld ein. Wie so? Wir sind mit Wallern gezogen, klopften an alle Pilgerasyle und bekamen ein Essen, so schlecht – um sich davon abzuwenden! Aber wir sahen die Oberalmoseniere und Spitalprioren in Kutschen an uns vorüberfahren. Im Walde gab es besseres Laub zum Schlafen, als in solchen Pilgerbetten … In Turin und in Parma flohen die Wallfahrer vor allen heiligen Asylen, weil sie, eben todtmüde angekommen, erst eine Procession durch die Stadt machen sollen, ehe sie zu essen kriegen … Herrgott, wer vollends, wie wir, die Sehnsucht hat, 'nmal eine hübsche Stadt näher zu betrachten, eine Stadt, die man endlich mit müden Füßen erreicht hat, dem schließen sie die Pforte vor der Nase, wenn er sich auch nur fünf Minuten an einem gnadenreichen Altar verspätete – Campirt draußen! heißt's … Da lernten wir den deutschen Pilger kennen – Woher kam er doch? Von Castellungo! Der alte Naseweis und Ketzer, aber ein redlicher Mann … Der sagte uns: Es steht geschrieben: Nächst dem Gebet eines Heiligen ist nichts vor Gott wirksamer, als das Gebet eines Wallfahrers … Freilich, das war Spott … Ein andrer Pilger war bereits dreißig Jahre auf dem Wege nach Jerusalem und immer – bei Montefiascone kehrte er um, da, wo der gute Wein wächst – Est! Est! sagte der deutsche[30] Pilger. Sie, Pater Sebastus, wußten gleich ein deutsches Lied darauf, das der andre auch gekannt. Widrige Winde machten nach Jerusalem die Schiffahrt gefährlich! sagte der dicke Pilger nach Montefiascone seit dreißig Jahren. Der Schelm lebte von Hühnern und Gänsen – die man dem ewigen Kreuzfahrer nach dem heiligen Est! Est! nicht freiwillig gab … Was zu schwer zum Forttragen war, half ihm ein dritter frommer Bruder verzehren, der eine Kette an den Füßen durch Spanien, Frankreich und Italien schleppte … Nicht daß er von den Galeren kam – wenigstens sagte er's nicht – er kam aus Marokko, wo er der Sklaverei entronnen sein wollte, und das Stück Kette trug er jetzt ordentlich wie seinen – Orden … Heiland, das Italien ist buntes Land! Haben die Leute nicht falsche Briefe mit großen Siegeln, wie nur echte Siegel aussehen können! Und wußten sie nicht alle Gebete, die den Seelen der frommen Stifter von Pilgerasylen im Himmel zugute kommen! … Dort drüben also auch? … Wird's besser da hergehen? … Der heilige Philippus hat glücklicherweise das Gebet solcher verdächtigen Kreuzfahrer und erlösten Christensklaven nicht nöthig … Manchmal muß ich dem deutschen Ketzer in seinen Zweifeln an allem von Herzen Recht geben … Wo mag der Alte im Bart wol hingekommen sein? … Ich ziehe in die Katakomben! sagte er immer … Es klang wie Kyrie Eleyson …

Der »heilige Mynheer«, wie Hubertus zuweilen von Sebastus genannt wurde, setzte beim Pater Vincente eine zu große Vollkommenheit in der Sprache voraus, die er ohnehin selbst nur mit vielen Freiheiten sprach …[31] Sein ganzer Ausfall auf die Wohlthätigkeitsanstalten der Kirche, die in den Schriften so vieler von Rom Verzauberten prunkend verzeichnet stehen, auf die mangelhafte Polizeiverwaltung, auf das ungeregelte Paßwesen bei Vagabunden – die ehrlichen Leute werden genug damit geplagt – erntete aus dem Munde des der Hochzeit Olympia's wehmüthig gedenkend dahinschreitenden Priesters nur die einzige Erwiderung:

Si! Si! Si! … Quest' un' theatro antico … Il theatro di Marcello! …

Selbst die Erwähnung Castellungo's schien der Pater Vincente überhört und von dem Pilger nichts verstanden zu haben … Und doch war es wol nur Frà Federigo, sein Lehrer, ein Deutscher, jener Mächtige, vor dessen Lehren er einst geflohen war und der fast schon den Bruder Hubertus zu seinen Anschauungen hinübergezogen zu haben schien …

Sebastus hörte nichts von alledem … Der starrte nur den im Schatten liegenden antiken Trümmerbau an …

Hier aber war es lebhafter geworden … Einzelne vergoldete Kutschen mit prächtigen Livreen jagten vorüber, die Pferde aufgeputzt mit hängenden rothen Troddeln am Ohr und mit bunten Geschirren … An die Rennbahn der Alten ließ sich denken … Sebastus dachte, da er vom Marcellustheater hörte – an die alten Tage von Göttingen – Seltsame Ideenverbindung! An den auch von Doctor Püttmeyer verherrlichten »Quincunx« – das Schenkenzeichen! … Denn die »Goethe-Kneipe« mußte ja hier in der Nähe liegen, Goethe's Campanella, jetzt nur noch berühmt durch ihr Fremdenbuch[32] und ihren schlechten Wein … Die Trümmer des Marcellustheaters waren in Hütten und Paläste verbaut … Dicht in der Nähe lag der Palast der Beatrice Cenci … Auf alles das besann sich Klingsohr aus seiner alten »klassischen Zeit« …

Aber auch die »romantische« wirkte mächtig … Schon begegnete man im sich mehrenden Straßenleben andern Mönchen, die mit Körben und Säcken gleichfalls zur Porta Laterana liefen … Kapuzinern in langen Bärten, Franciscanern aller Grade, Augustinern, Karmelitern; selbst die vornehmen Dominicaner erinnerten sich, daß sie das Gelübde der Armuth abgelegt hatten; auch sie schickten ihre »Brüder« auf die Hochzeit der Nichte des Cardinals … Kein Trupp stand dem andern Rede … Kein Lächeln hatten sie oder nur eines, das nicht im mindesten die phantastischen Gestalten als in einer tollen Mummerei begriffen und sich (Augur augurem!) erkennend darstellte … Nur der Gewinnsucht galt es und dem Vorsprung, den ein Kloster vor dem andern suchte … Die beiden Deutschen sahen ihre Mitstreiter im römischen Lager … Welche Welt! … Und hier nun doch noch so spät ein Leben und Bewegen? … Da noch wird gekocht und geschmort auf offener Straße? … Da noch werden Melonen ausgeschrieen? … Noch Citronenwasser? … Frische Kirschen? … Klingen nicht sogar Geigentöne? … Lacht nicht ein Policinell im Kasten? … Das alles heute in der Hochzeitnacht Olympiens! … Roms Saturnalien! …

Noch haftete Sebastus' Phantasie, wie das in Rom so geht, bald an Goethe, bald an Winckelmann, bald an[33] Ovid, bald an Horaz, die den Marcellus besungen haben, den Neffen des Kaisers Augustus, dem dies Theater da gewidmet … Da erscholl plötzlich ein fernes Klagegeheul und ein hundertstimmiges Miserere …

Es kam, wie Pater Vincente erläuterte, von der »Bruderschaft des Todes«, den Begleitern der Leichen, die in Rom bei Nacht begraben werden …

In wilder Hast, als wenn der Todte die Pest verbreitete oder als wenn Christen einen eben gerichteten Märtyrer in die vor den Thoren gelegenen heimlichen Begräbnißstätten flüchteten, trugen Männer in langen, schwarzen oder weißen, über den Kopf gezogenen Kutten, die nur den Augen zwei kleine Lücken ließen, wie Gespenster einen Sarg dahin … Andere dazu schwangen Fackeln … Neben den Fackeln liefen Bursche und sammelten in Schalen das tröpfelnde Wachs, das sich wieder brauchen ließ … Schnuphase hätte sich niedergeworfen wie alle – er schon vor solcher heiligen Sparsamkeit … Mönche und Bruderschaften, einen Priester mit seinem Akoluthen und Meßknaben umringend, sangen: Miserere! in nicht endender Litanei … Vor dem klingelbegleiteten Sanctissimum, das der Priester hoch in den Fackelqualm emporhielt, warf sich alles nieder … Aber immer weiter, weiter, wie auf rasender Flucht, ging der Zug dahin … Pater Vincente sagte – um die Leiche in eine Kirche jenseits der Tiber zu stellen, von wo sie erst der gewöhnliche Leichenwagen abholt … Der Todtenkopf des »Bruder Abtödter« war Leben gegen die Vorstellung, daß unter allen diesen weißen und schwarzen Kutten und Kapuzen Skelette wandeln müßten … Aus[34] den kleinen Oeffnungen vor den Augen dieser Männer glühte es wie leuchtende Kohlen …

Nehmen wir den Weg über das Capitol! sagte Pater Vincente, als sich die Mönche mit den andern wieder erhoben hatten und der wilde Zug vorüber war … Ihn schien er nicht erschüttert, nicht so zur Eile gedrängt zu haben, wie den Pater Sebastns … Zur Eile! … Musterte eben die »Braut von Rom«, wie ein Schmeichler die junge Fürstin heute besungen, oder der Cardinal oder die Herzogin von Amarillas die Reihen der Mendicanten, die an der Pforte der Villa Rucca standen – er war ja dessen gewiß, daß San-Pietro in Montorio vor allen andern Klöstern bedacht werden würde … Olympia zeichnete reuevoll sein Kloster aus … Ihn bedrohte, das sagte man seit einiger Zeit, in der That der Hut des Cardinalats …

Bei Klingsohr – wie war da nun freilich die Erinnerung dahin – an Goethe's Campanella –! … Dieser schreckhafte Leichenzug – und jene Römerin, auf deren Rücken der Dichter des Faust hier einst Hexameter getrommelt zu haben vorgab, die Goethe, Klingsohr wußte es, erst in Weimar auf dem Rücken der »Dame Vulpius« trommelte, paßten nicht zusammen … Memento mori! … Auch Goethe hat es erfahren! sagte sich Klingsohr sinnend zum Capitol aufsteigend … Hier, wo er den Becher der Lebenslust, kurz vor dem Scheiden der männlichen Kraft, in seinen vierziger Jahren noch einmal wie ein Sohn der Griechen getrunken hat, hier mußte er ja dem einzigen Sohn, dem Sohn jener in römische Reminiscenzen maskirten Thüringerin, an der Pyramide[35] des Cästius, dem Begräbnißplatz der Protestanten, eine wahrere Grabesinschrift setzen … Hier starb Goethe's einziger Sohn … Flüchtig zog und fast schon von ihm in Rhythmen gebracht der Gedanke durch seine Seele:


Wo nur find' ich den Wirth zur Campanella! Der Schenke,

Wo ich Falerner gesucht – »Lacrymä Christi« nun fand!

Firnen aus Golgatha! Nicht aus den Trauben der Schlacke,

Die der Vesuv uns schenkt, Leidenschaft, wenn sie verglüht!

Deutscher Apoll! Hier war's, hier hast du Verse getrommelt –

Auf der Römerin Leib – schwelgtest in seliger Lust –

Und erfuhrst nur dein Maaß! Die Pyramide des Cästius

Blieb das Ende vom Lied! Blieb der Morgen der Nacht –!

Wahrheit und Lüge! O wohl, so mürrisch strafen die Götter!

Wandle gen Rom, o Mensch! Rom ist der Mensch und die Welt!


Ein tiefes, tiefes Schweigen folgte nun … Glocken hallten von den Thürmen … Man erstieg einen Calvarienberg – das sind die Stufen zum Capitol …

Zur Linken wohnt – der heimatliche Gesandte, auf dessen Autorität vor drei Vierteljahren drei Gensdarmen am Ponte Molle auf die deutschen Flüchtlinge gewartet hatten! … Zur Rechten – der tarpejische Felsen, der jetzt derselben Krone gehört … Wie schüttelte Sebastus all diesen »Staub« von seinen Füßen! … Wie hatte er für ewig dieser »ghibellinischen« Welt entsagt! … Das Capitol! rief er und über seinen Sandalen schmerzte ihm der Fuß, so trotzig stampfte er vor dem Wappen seines Landesherrn auf …

Da lag ein mittelalterlich Haus vor ihm, die Stätte des gebrochenen Capitols … Einige Brunnenstatuen vor ihm und ein kleiner Platz, auf dem, vom Mond beleuchtet, Marc Aurel zu Pferde sitzt – Ein Gelehrter, der[36] über dem Studium der Philosophie seine alten Schlachten vergaß! sagte Klingsohr mit Hindeutung auf die ihm nicht kriegerisch erscheinende Haltung des Reiters und auf – »Euern Friedrich, den sogenannten Großen –!«

Jetzt schlug es elf …

Bergab ging es auf die Trümmerstätte des alten Forums …

Ein Leichenfeld! sprach Pater Vincente …

In seinen Erläuterungen ging er nicht über Petrus und Paulus hinaus … Die Gracchen – Cicero! … Das mußte sich Klingsohr selber sprechen … Sein Blick starrte dem Untergang der Erhabenheit …

Hubertus kannte von den alten Zeiten nur so viel, als nöthig war um zu begreifen, daß hier die begrabene Macht eines alten Volkes lag, das einst die Welt beherrschte … Zertrümmerte Portale, einsame Säulen, Triumphbögen mit zerbrochenen Statuen … Am Tag ein wüst erschütternder Anblick, den jetzt das Zauberlicht des Monds verklärte … Dort oben auf dem Palatin wohnten die weltgebietenden Cäsaren … Ein magisches Goldnetz hält die grünen Hügel und die Steine umwoben … Wären diese vom Corso herüberrasselnden Wagen, diese lachenden Menschen nicht gewesen, die zu spät zu kommen fürchteten zu der auf Mitternacht angesetzten Hochzeits-Girandola, die durch die Fenster eines am milchblauen Himmel auftauchenden dunklen Gebäudes schon zu beginnen schien, wenn ein Knabe rief: Eine Leuchtkugel! – Der Knabe meinte einen Stern, der so plötzlich durch die Oeffnungen des Coliseums blinkte …

Das Coliseum! … Sebastus hätte wünschen mögen,[37] Niemand hier zu sehen und zu hören und nur allein zu wandeln … Allein mit Livius und Niebuhr … Da ein Tempel, dort eine Basilika … Wie mag es hier einst gesummt haben, als die Comitien des Volks versammelt waren und die Consuln Roms gewählt wurden! … Wohin entläßt uns dies Thor? flüsterte er … Ist es nicht der Triumphbogen des Titus, als er Jerusalem zerstört hatte? … Sein »Credat Judaeus Apella« fiel ihm ein … Doch der »Virtuose im Glauben« – hier hatte er keinen Zweifel zu hegen nöthig. Da an der Wand des Thors sah er den siebenarmigen Leuchter, den Tisch, die Schaubrote, die Jubeljahrposaunen, die Bundeslade … Die erhabene Stelle war's, wo sich Jupiter und Jehova so nahe berührten! … Aber – kein Jude geht gern unter diesem Bogen hinweg, kein Jude blickt gern auf jenes Riesengebäude, das dreißigtausend gefangene Juden gebaut haben sollen …

Was Vincente so und ähnlich erläuterte, wußte Klingsohr alles …

Aber kaum gedachte er Löb Seligmann's, dessen physische Kraft zum Streichen der Ziegel für diesen Riesenbau in keinem Verhältniß gestanden haben würde – als er Veilchens gedenken mußte … Veilchens, die ihm einst bei seinen Besuchen in der Rumpelgasse gesagt hatte: »Sie sind ein Mensch der Selbstqual, der Reue, des Gewissens – ewig wird's Ihnen gehen, wie's dem Kaiser Titus ging, als er Jerusalem zerstört hatte! Da ist Titus zu Wasser gegangen mit seiner siegreichen Armee und ein Sturm zog herauf und die gefangenen Juden triumphirten, weil sie dachten, Gott hätte seine Rache auf das[38] Meer aufgespart. Und Titus bekam Angst, spottete und sprach: Zu Land ist Adonai schwach, aber zu Wasser – da kommt er, scheint es doch, dem Neptunus gleich! Wahrlich, spottete er, Adonai hat die Sündflut befohlen, er hat die Aegypter im Rothen Meer ersäuft, er hat den Sissera am Strom Kischon geschlagen, er wird auch für Jerusalem seine Rache nehmen auf dem Mittelländischen Meer! … Da aber ist gekommen eine Stimme aus dem Himmel und hat dem Spötter gerufen: Titus, Titus ich habe Jerusalem untergehen lassen wegen seiner Gottlosigkeit! Weil du aber meiner Langmuth spottest, so sollst auch du meine Macht kennen lernen, aber – zu Lande! Das Meer ward da stille und Titus betrat unter dem Jauchzen des Volks das feste Land. Wie er recht von Herzen über den Judengott lachte, flog ihm in die Nase eine Mücke, wie sie nur auf dem Lande vorkommt, und bohrte sich tief in sein Gehirn. Sieben Jahre hat Titus davon die schrecklichsten Schmerzen im Kopf gehabt, denn die Mücke starb nicht, sondern sie wurde immer größer und sie summte bei Tag und bei Nacht. Einst ging er bei einem Schmied vorüber. Bei den Amboßschlägen hörte die Mücke zu summen auf. Da stellte sich Titus dreißig Tage an den Amboß und die Mücke schwieg. Am einunddreißigsten aber fing sie wieder zu summen an; sie hatte sich an den Hammerschlag gewöhnt und Titus mußte sterben. Als sie sein Gehirn aufmachten, kam ein Thier zum Vorschein, so groß wie ein Vogel. Der Mund war von Kupfer und die Füße waren von Eisen – –« Nun schloß die Spinozistin: »Daß Sie sind katholisch und ein[39] Mönch geworden, Herr Pater, das ist bei Ihnen die Schmiede gewesen und die Mücke ist nun auch vielleicht dreißig Tage still … Aber ich will nicht wünschen, daß sie am einunddreißigsten wieder lebendig wird!« …

Wie wurde sie aber schon so oft so lebendig! … Schon damals wurde sie's beim Schweigen, das der Kirchenfürst dem Pater als Buße auferlegt hatte, beim Begegnen Lucindens in der Kathedrale … Nun all dies Große und Majestätische Roms! … Und wenn auch Klingsohr damals zu Veilchen sagte: »Jehova rächte sich allerdings an den Römern zu Wasser – durch die Taufe!« – wie summte ihm doch die Mücke jetzt und wisperte: Ist Golgatha die Welt? Haben die alten Götter keine Rechte mehr? …

Klingsohr schritt dahin, fast wie einst in Göttingen, wenn er die Titel der hundert Bücher auf den Lippen führte, »die er schreiben wollte« …

Pater Vincente, in dessen Seele es still und ruhig schien, lenkte zum Coliseum ein … Er betrat es, den fremden armen Gefangenen zu Liebe …

Wäre die Nacht nicht so hell und belebt gewesen, so würde dies mächtige Rund den Eindruck eines Schlupfwinkels für Räuber gemacht haben … Es liegt so einsam – umwuchert von wildwachsenden Büschen, die oben aus den Fenstern herausbrechen; die Vegetation hat seit tausend Jahren in allen Stockwerken bis zur obersten Galerie Platz gegriffen … Die Bogengewölbe, die geborstenen Säulen, die zertrümmerten Rundmauern waren im Mondlicht wie die Erscheinung eines Traums … Von Luft und Licht gewoben schien dies Bild eine[40] märchenhafte Täuschung … Aber sicher, fest und natürlich widerhallte Schritt und Gespräch unter der Bogenwölbung des Eingangs; nur zu deutlich sah man drinnen die Sitze, von denen herab Tausende auf Menschenkämpfe einst blickten mit jenen Thieren der Wüste, die hinter den eisernen Gittern da geborgen und durch Hunger zur Wuth gereizt wurden … In der Mitte steht zur Entsühnung solcher Erinnerungen an den tiefsten Verfall der Menschheit ein kleines Kreuz … Rundum ziehen sich die Bilder eines Stationswegs … Eine Heiligung, die edler gedacht als ausgeführt ist! … Das sagte selbst Pater Vincente, der niederkniete und einen mit einem Kreuz bezeichneten Stein küßte, auf dem Hubertus mühsam las: »Wer – dies Kreuz – küßt, hat auf ein Jahr und 40 Tage – Ablaß.« …

Hubertus folgte dem Beispiel des frommen Paters … Natürlich mußte es auch der Mönch Sebastus thun, so wenig die Hoffnung, vierhundert Tage im Fegfeuer Linderung zu gewinnen, in diesem Augenblick seiner Stimmung entsprach … Die Mücke des Titus schwieg nicht mehr. Er stand nicht mehr an seiner Schmiede … Es ergriffen ihn die Schauer der Vergangenheit … Wenn er auch nur des heiligen Augustin gedachte, der seinen Freund Alypius von seiner Leidenschaft für Gladiatorenkämpfe hier im Coliseum durch einen plötzlichen Schauer vorm strömenden Blut der sich Mordenden geheilt sah, so mußten ihm wol seine hohlen großen Augen rollen und Gedanken kommen, wie der, den er aussprach:

Hier dies kleine armselige Kreuz! Hier hätte Miche Angelo einen seiner Giganten herstellen sollen! So groß,[41] so hoch, wie der Koloß von Rhodus! Bis an die obersten Sitze hätte der Blick eines Daniel reichen müssen, zu dessen Füßen die besänftigten Löwen sich schmiegten! Niederbohren mußte der Prophet mit dem Busch seiner Augenbrauen die wilden Thiere auf dem blutigen Sande um sich her und – die Thiere in den Herzen dieser Zuschauer! … Marcus der Evangelist, der die Bibel emporhält, hätte wie ein Geisterbeschwörer stehen müssen, sein aufhorchender Löwe neben ihm, auch gebändigt, auch in die Falten seines Gewandes scheu sich schmiegend! Was soll dies kleine Kreuz! …

Hier möcht' ich im Chor singen! sagte Hubertus … Er übte seine Stimme so laut, daß es weit dahinschallte …

Pater Vincente verstand sein deutsch gesprochenes Wort, nickte und entgegnete, das geschähe hier alle Freitage – von den Kapuzinern … Zeigte er dabei auf die Fenster hinauf mit dem vom Nachtwind leise bewegten wildwuchernden Gebüsch, auf den Mond, der hinter den Oeffnungen bald hervorblitzte, bald sich versteckte – und dann sie selbst in der Mitte des riesigen Baues beleuchtete, wovon sie Schatten warfen wie – »kleine bucklige Gnomen«, so war dieser Vergleich aus Sebastus' Munde die von ihrem Führer wol kaum verstandene – ironische Antwort …

Die Wanderer wandten sich der Eingangswölbung zu … Klingsohr fand sich allmählich zurück in seine Gegenwart; sie näherten sich heiligen Stätten … Sie bestiegen einen aufwärts gehenden Weg und kamen in eine Art Vorstadt, an deren äußerstem Ende einer der drei Paläste der Stellvertreter Christi liegt, der Lateran.[42] In alten Zeiten als Burg der dreifachen Krone hervorragend vor Quirinal und Vatican, erhält sich der Lateran jetzt nur noch in seiner Autorität durch die Gerechtsame, die nebenan auf der ältesten Pfarrkirche Roms, Sanct-Johannes, ruhen, auf dem Heiligthum des größten der von Thiebold de Jonge einst so kritisch beurtheilten Kreuzessplitter, auf der Platte, auf der einst das Abendmahl eingesetzt wurde, auf dem Heiligthum jener hier aufgestellten »Heiligen Treppe«, an deren Fuß Petrus den Herrn verleugnete … Sonst ist hier alles am Tag so still und öde, wie ein Sonntagsnachmittag in einer kleinen Stadt – in dieser Nacht rauschte ein buntes, bewegtes Leben …

Alles drängte dem Thor zu, vorüber am Obelisken des Constantin und zur Straße, die hinaus nach Albano führt … Militär sprengte dahin, um die Ordnung zu erhalten … Wagen in grotesker Vergoldung, mit Bedienten, die hier dem neuesten englischen Geschmack, dort der Rococozeit angehörten, folgten sich einander – jetzt schon in langsamerer Fahrt … Auf den Trottoirs und die langen Mauern der Vorstadtgärten entlang drängten die Bürger in ihren kurzen Jacken und Manchesterhosen, die kurzen Mäntel übergeworfen, weiße Hüte oder bunte Mützen auf den unrasirten braunen Köpfen … Die Frauen selten noch in der Tracht der alten Zeit … Englands Baumwolle hat die bunten Nationaltrachten schon aus Sicilien und Griechenland verjagt; die gelben Mädchen der Hindus gehen in Kattunröcken unsres Schnitts … Nur der Kopf bleibt noch zuweilen national; hier war das dunkelschwarze Haar der Römerinnen[43] schön geflochten, geziert vom bunten Kamm, vom silbernen Pfeil; selbst der Matrone wirres und weißes Haar blieb nicht ohne Schmuck … Würde und Selbstbewußtsein liegt im festen Gang aller dieser dicken Krämer und Wurststopfer … Von den ausgelassenen Späßen, mit denen sich bei solchem Anlaß jenseits der Berge die Volksmassen geneckt haben würden, fand sich wenig Spur … Kein Anschluß; Jeder für sich … Die Erwartung galt der »Girandola«, dem Anblick der geputzten Herrschaften, den ausgeworfenen Zuckerspenden und Schaumünzen … Höflich bog man dem schwarzen Rock des Augustiners aus, der braunen Kapuzinerkutte, der weißen Schnur des Franciscaners, dem grauen Rock des Karmeliters, dem weißen des Dominicaners … Alle diese kamen mit Körben und Säcken, mit riesigen Kannen sogar, ohne die mindeste Rücksicht auf lächerliche Störung ihres malerischen Effects … Italien hat seine eigne Aesthetik … Es besitzt Raphael – aber ein Offizier mit einem Regenschirm – ein Dorfpfarrer auf einem Esel – und zwei Reiter zugleich auf Einem Pferde erscheinen ihm nicht im mindesten lächerlich …

Die herrlichen Gärten dann … Leider nur mit hohen Mauern verschlossen, wie überall in Italien … Hängen die Jasminkronen auch nicht herüber, so erfüllen sie mit ihrem Duft die Straßen um so ahnungerweckender … Da und dort zeigt sich denn auch wol in den neidischen Mauern ein kleiner eiserner Ausbruch, durchzogen von blühenden Rosenranken oder purpurrothen Asklepiadeen … Jenseits des Thors schweift der freie[44] ungehinderte Blick auf die im blauen Licht schimmernde Campagna, auf die Gebirge; nun zur Rechten liegen Villen und Gärten, die sich an die des Lateran anlehnen … Die fünfte oder sechste darunter ist die heut an einer bunten Illumination weithin schon kenntliche, vom Volk umwogte Villa Rucca …

Vier mit blauen, rothen, gelben, violetten Lampen geschmückte Obelisken bilden die Eckpfeiler am heute geöffneten Eingangsgitter … Die hohe Gartenmauer ist mit einer flimmernden Guirlande von Hunderten kleiner Flammen geziert … Im Garten vor der beleuchteten Villa brennt eine riesige Sonne, rings umgeben von den kostbarsten Südpflanzen … Perspectivisch berechnet, am Ende einer schimmernden Ahornallee glänzt ein sichelförmig niedergleitender Wasserfall, hinter dessen krystallnen durchsichtigen Fluten geschäftige Hände die Künste der Sanct-Peterskuppel-Beleuchtung nachahmen, die beweglichen Lampenständer auf- und niederschwenkend … Musik hallt aus den beleuchteten Sälen der illuminirten Villa … Dann und wann schießt in die magisch blaue, unendlich weiche, milde Luft schon eine Leuchtkugel, ein mit dem Mondlicht wetteifernder Vorbote des Feuerwerks … Das ihm aufjauchzende Volk drängt bis an die große Sonne … Von da ab werden nur noch die Mönche und die Träger von privilegirten Büchsen hindurchgelassen … Todtenbrüder in ihren unheimlichen Hemden fehlen nicht … Man hatte ausgesprengt, der Cardinal Ceccone spendete heute Gaben im Werth von dreitausend Scudi und die Aeltern des Prinzen Rucca die nämliche Summe … Das Gerücht schien sich annähernd[45] zu bestätigen … Ein Harlekin ergötzte das Volk über das Gitter hinweg durch Würfe von Münzen … Diese waren freilich nur noch von gebackenem Zucker, aber eine Tombola war im Gange, bei der einige silberne Uhren ausgespielt werden sollten, ohne daß man den Einsatz bezahlte – die Loose wurden über die Häupter hinweggeworfen … Nächst Madonna Maria ist Fortuna die größte Heilige in Rom …

Pater Vincente, Pater Sebastus, Bruder Hubertus wurden durch die Chaine gelassen, die die Soldaten und Gensdarmen zogen … Man wies sie an ein Seitengebäude, wo vor einer noch geschlossnen Pforte eine förmliche Kirchenversammlung gehalten wurde … Am heiligen Grab in Jerusalem mag es zur Osterzeit so aussehen, wenn sich die Mönche aller Orden der Christenheit zusammenfinden und je nach Umständen beten, Tauschhandel treiben oder – sich prügeln … Die Türken sollen den christlichen »Caricaturen des Heiligsten« mit stillem Lächeln zusehen und abwechselnd bald zum Pfeifenrohr, bald zur Peitsche greifen …

Klingsohr fühlte heute ähnliche Anwandelungen aus Goethe's »west-östlichem Divan« … Er drängte vorwärts und staunte der Wiederkehr seiner alten göttinger Burschenkraft … Hubertus warf schon hier einen Kapuziner, dort einen Karmeliter aus dem Wege … Als die übrigen Franciscaner den heiligen Pater Vincente sahen, fielen sie ehrfurchtsvoll in den Ruf einiger Stimmen ein:

Platz dem Sack von San-Pietro in Montorio! …

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 8, Leipzig 1860, S. 22-46.
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