4.

[84] Ganz Rom war von der gestrigen Begebenheit erfüllt. Der Schrecken des Kirchenstaats, Grizzifalcone, war getödtet worden von einem deutschen Franciscanermönche! …

Der Messerstich, unter dem der Genosse des Mönchs zusammengesunken war, hätte besser diesem gebührt! hieß es bei den Meisten … Grizzifalcone wurde bemitleidet! … – »Der Aermste starb ohne Beichte –!« sagten selbst die, die ihm vielleicht den längst verwirkten Tod gönnten … Noch mehr! In der Sphäre der Prälatur, des Adels, des gebildeten Gelehrtenstandes gingen seltsame Versionen … Da war Grizzifalcone nicht zufällig, sondern aus geheimen Absichten »ermordet« worden … Man sah die Kutsche des Cardinals hin und her fahren … »Was man solchen Staatsmännern alles aufbürdet! Man beschuldigt sie, selbst ihre besten Freunde nicht zu schonen!« … So lautete ein bittres Wort, das aus der Sphäre der »Verschwörungen«, wir wissen nicht, ob des jungen oder des alten Italien kam …

Die Aerzte, die der Cardinal in die fürstlich Rucca'sche Villa geschickt hatte, erklärten, daß die Wunde, die[85] der deutsche Mönch und Gefangene von San-Pietro in Montorio empfangen, so besorgnißerregend wäre, daß sie einen Transport desselben auf die Tiberinsel San-Bartolomeo zu den Benfratellen für unerläßlich hielten …

Der Laienbruder Hubertus kam mit einem leichten Verband davon … Er ließ sich diesen nach seinen ihm eigenthümlich angehörenden chirurgischen Kenntnissen anlegen und bedauerte nur, nicht gleichfalls zu den Benfratellen kommen zu können, wofür nach Pater Vincente's Aeußerung keine Hoffnung war … Wenn der Tragkorb den Pater Sebastus abholte, wollten sie ihm das Geleit geben und dann in ihre luftige Höhe nach San-Pietro zurückkehren … Der Sack des Klosters war gestern über und über gefüllt gewesen; aber im Tumult des Ueberfalls, des Schießens, der allgemeinen Auflösung des Festes war er von irgend einer vorsorglichen Seele aufbewahrt, d.h. gestohlen worden …

Der Stiletstich war dem verwundeten Pater Sebastus in die Rippen gedrungen … Er hatte die Besinnung, athmete aber schwer und durfte nicht sprechen … Was in seiner Seele lebte, mühte sich Hubertus statt seiner zu sagen … Er traf nicht alles … Pater Vincente, der neben den beiden auf Maisstrohbetten ruhenden Verwundeten und mit dem Luxus einer auf der Erde ausgebreiteten Matratze geschlafen hatte, berührte das Unsagbare schon näher, wenn er sprach: »So ist es mit all unsrer Sehnsucht! Ich kann mir denken, daß ihr beide euer Leben lang nach dem Anblick Roms geschmachtet habt, und die erste Nacht, wo euch vergönnt war, euch am Ziel eurer Wünsche zu fühlen, mußte[86] so verderblich enden! Im Coliseum priesen wir die menschlichere Zeit, die uns nicht mehr den wilden Thieren vorwirft! Raub und Mord sind darum von diesem Boden nicht gewichen! …« »Man kann Italien nicht verwünschen, das neben Räubern auch einen Pater Vincente hervorbringt …« dachte Hubertus … Das sah er wol, Klingsohr's Bewegungen kamen nicht von den Phantasieen des Wundfiebers allein her … Lucinde in Rom! … Lucinde in so glänzenden Verhältnissen! …

Hubertus hatte die Landsmännin bei ihrer Annäherung an die Bettlerschaaren zuerst erkannt und Klingsohr auf sie aufmerksam gemacht … Diesem war sie anfangs eine Täuschung der Sinne, eine Luftspiegelung gewesen … Soll diese erste römische Nacht mich toll machen! rief er … Bald aber sah er, daß auch Lucinde sie erkannte, von dem Offizier, der sie begleitete, fortzukommen suchte und ängstlich ihren Anblick vermied … Nun wagte er dem muthigern Bruder Hubertus zu folgen … Sie umgingen den Stand des Feuerwerks, schlichen sich in den Park, in den Garten, sahen, wie Lucinde sich von ihrer Gesellschaft frei machte und entfloh … Dennoch schnitten sie ihr den Weg ab … Nun schien sie ihnen wirklich Gehör geben zu wollen und schon hatte Hubertus manchem Fragenden den Brief und die Landsmannschaft als einen äußern Grund bezeichnet, den ihr Verlangen haben durfte, jene Dame zu sprechen … Endlich riefen sie ihr zu, redeten sie an – nun war sie gezwungen, sich ihnen zu stellen … Hubertus wußte, was sie Klingsohr gewesen … Dieser sah, wie Lucinde, Rom[87] schon längst als das Höchste aus Erden an, als das Paradies der Seligen schon hienieden … Beim ersten Wort, beim ersten Gruß erging er sich in jenem Entzücken seines geknickten Geistes, das ihm in so beglückender Situation, wie in den besten Zeiten seiner Vergangenheit, wiederkehren mußte … Selbst die Eifersucht loderte auf, als Lucinde nach den Offizieren spähte, dann die Aufschrift des Briefes im Dunkeln zu erkennen suchte … Zerreiße den Brief! rief er. Wir wollen ihn nie, nie geschrieben haben! Bist du hier nicht mächtiger, als ein Bischof! Wer feiert eine Hochzeit – als mit dir! Sieh diese Fackeln, diese Feuerflammen – wie Nero möcht' ich Rom anzünden, um deine Epithalamien zu singen! … Jesus hilf, sprach diesmal voll Bangen Hubertus statt seiner … Dazwischen kam die Herzogin und bald der Trupp der Offiziere und der jungen Prälaten … Die beiden Bettler wurden verwiesen, hart bezeichnet mit den ihrer Keckheit gebührenden Worten … Aber die Ungeduld, die Freude, die Spannung auf Verständigung nach so langer Trennung hatte sie beide wie im Wirbel ergriffen … Diese wilde festliche Nacht konnte so nicht enden; sie schien alles zu erlauben … Sie ließen den Pater Vincente beim Sack des Klosters, den die Köche, Diener und vornehmen Damen füllten … Sie streiften zum Garten hinaus, erkannten die Möglichkeit, ihm von der Landstraße, vielleicht vom Feld her beizukommen … Nur ein Wort noch Lucinden, nur noch eine Bitte um Wiedersehen, um die Begegnung in einer Kirche, etwa wie im Münster zu Witoborn zu den Füßen des heiligen Ansgarius … So sahen sie jene[88] schleichenden Räuber, wurden Zeugen des Ueberfalls, Lucindens Retter … Klingsohr's Erinnerung an die Zeit der Mensur stählte seinen entnervten Arm; ohne Waffe erhob er ihn, rang gegen das geschwungene Stilet des Banditen, riß diesen nieder und erlag im Stürzen nur einer größern Gewandtheit und der gereizten Wuth der Entfliehenden, die den Garten sich beleben sahen, während Hubertus schon den Riesen zugleich mit Lucinden niederzog aus den Zweigen des Oleanders, in denen sie sich festhalten wollte … Hubertus drückte das eroberte Pistol los – ohne Scheu, wie einem Jäger geläufig war, der schon manchen Wilddieb niedergeschossen hatte …

Pater Vincente erfuhr, daß die gerettete Dame den beiden Deutschen werth und näher bekannt war … Wieder offenbarte er die Vertrautheit mit einigen deutschen Worten … Ueber sich selbst sprach Pater Vincente wenig … Selbst die Neigung des gesprächsamen Hubertus, sich, wo er nur konnte, in der Sprache des Landes der Schönheit und der Banditen zu vervollkommnen, ergriff er nicht als Anlaß weltlicher Unterhaltung, sondern erinnerte ernst an jene Bitten, die für Kranke zu sprechen die vorgeschriebene Regel des kirchlichen Lebens ist … Dann – ohne den Sack mit Lebensmitteln ins Kloster zurückzukehren –! Eine Aussicht war das auch auf einen Dorn zur Märtyrerkrone mehr …

Um elf Uhr sollte der Tragkorb jener Benfratellen kommen, die einst auch Wenzel von Terschka so wohl verpflegt hatten … Wäre Klingsohr nicht Mönch und bereits dem römischen Glauben gewonnen gewesen, so hätte man ihn jetzt in eine Anstalt gebracht, wo in Rom[89] »Neuzubekehrende« (Katechumeni und Convertendi) in solchen Fällen leibliche und geistliche Pflege zu gleicher Zeit erhalten … Das Geringste doch, womit sie dann für die Genesung beim Scheiden danken können, ist ein Uebertritt …

Um zehn Uhr schon kam die junge Signora vorgefahren, die gestern hatte von Räubern entführt werden sollen und heute der Gegenstand des Gesprächs und der Aufmerksamkeit für ganz Rom war … Man nannte sie, wie solche Verwechselungen vorkommen, bald eine Fürstin, bald eine »spanische Herzogin« … Das »Diario di Roma«, die Staatszeitung Sr. Heiligkeit, war noch nicht mit dem aufklärenden Bericht erschienen, wenn die schweigsamste aller Zeitungen überhaupt von dem ärgerlichen Vorfall Act nahm …

In Italien ist noch bei Hochzeiten die Sitte des »Lendemain« üblich … Der Palazzo Rucca am Pasquino wurde von Wägen und den Abgeordneten der fünftausend privilegirten Bettler Roms (der »Clientela« der alten Römerzeit) den ganzen Tag nicht frei … Auch nach dem Befinden der Donna Lucinda mußte gefragt werden … Sie selbst hatte ein Dankopfer darzubringen für ihre Rettung … Der nächsten Madonna gebührte der Sitte gemäß diese Huldigung … So hörte sie die Messe in San-Giovanni di Laterano, dem der Rettung nächstgelegenen Gottestempel … Graf Sarzana hatte sie auf diese Sitten beim Nachhausefahren aufmerksam gemacht … Er war im Wagen zurückhaltender gewesen, als in der Gesellschaft … Am Pasquino war er ausgestiegen … Vom Wein, von den Abenteuern[90] und dem Rendezvous bei der Messe – so ließen sich denn doch wol auch seine Andeutungen verstehen – erregt, declamirte er Verse an die Säule des Hadrian, an die Obelisken des Venetianerplatzes, an denen sie vorüberfuhren, misbrauchte aber nicht die Vortheile des Alleinseins mit dem offenbar zum Tod erschöpften Mädchen … Als sie heute den Pasquinostein mit Gensdarmen besetzt fanden, sagte er: Ist diese Wache nicht selbst schon eine Satire? …

Die Messe war wie immer in dem »stiefmütterlich« behandelten und gegen die Sanct-Peterskirche zurückgesetzten Gottestempel am Lateran einsam und der große, wie fast alle römischen Kirchen einem Concertsaal ähnliche Raum lag ganz in jenem Schweigen, das die Sammlung unterstützen konnte … Lucinde kniete und träumte … Graf Sarzana fehlte … Er hatte sich in aller Frühe schon wegen seines Ausbleibens entschuldigen lassen – Im Duft des Weihrauchs sammelte sie sich … Secreta – Canon – »Wandlung« – sie unterließ kein Kreuzeszeichen und dachte an die noch schlummernden jungen Ehegatten – an die Morgengeschenke, die Ceccone schon in aller Frühe für das junge Paar geschickt hatte – auch für sie lag eine kostbare Broche, Venetianer Arbeit, dabei – An Graf Sarzana's Schnurrbart und unheimliche Augen – An die schlaflose Nacht ihrer Feindin, der Herzogin von Amarillas – An Hubertus und seine Vertrautheit mit der ältesten Geschichte des Kronsyndikus – An Klingsohr's möglichen Tod – An Bonaventura … Dann sang der Priester: Ite Missa est! …[91]

Mit gestärkter Kraft schritt Lucinde über die bunte Marmormosaik des Fußbodens dahin … Sie trat aus den Reihen der großen Porphyrsäulen hinaus auf den Platz der »heiligen Treppe« und ließ sich von ihrem Bedienten in den Wagen helfen …

Der Bediente erzählte, der ganze Weg bis zu Castel Gandolfo, wohin Se. Heiligkeit heute frühe hinausgefahren, wäre des Räuberüberfalls von gestern wegen mit Carabiniers besetzt und würde eben noch von einzelnen Trupps der Leibwache bestrichen, unter denen sich auch Graf Sarzana befunden hätte … Deshalb hatte er bei der Messe fehlen müssen … Lucinde konnte erwarten, daß Se. Heiligkeit selbst sie nächstens beriefen und ihr persönlich seinen Glückwunsch abstatteten … Daß die Regierung hier über den Tod Grizzifalcone's anders dachte, als jeder gewöhnliche Freund der Ordnung, wußte sie schon … Besonders sollte der alte Fürst Rucca daran auf verdrießliche Art betheiligt gewesen sein … Er hatte ihr kaum einen guten Morgen! gewünscht, als er ihr auf der Marmortreppe seines Palazzo bei ihrer Ausfahrt begegnete und murmelnd in die Bureaux seines Parterre schlich …

Die Fahrt zur Villa Rucca dauerte nur wenige Minuten … Aber der Ueberblick einer Welt konnte sich für ein Wesen wie Lucinde in sie zusammendrängen ... Das Nächste: Sollte Klingsohr die Nacht über gestorben sein? war schon abgethan … Vor einigen Jahren hätte Lucinde darin eine Gunst des Zufalls gefunden … Auf ihrer jetzigen Höhe war ihr ein in Clausur eines strengen Klosters lebender ehemaliger Verlobter kein zu[92] gefährliches Schreckbild mehr … Sie hätte ja lieber mit Klingsohr und Hubertus mehr verhandelt … Sie mußte es auf alle Fälle … Der Herzogin von Amarillas wegen, die sie »unschädlich« machen wollte …

Wie stand sie überhaupt jetzt zu dieser »Posse des Lebens?« …

Sie lehnte in ihrem offnen Wagen, die Hände ineinandergeschlagen und auf ihren weißseidnen Polstern ausgestreckt, wie eine Fürstin … Das also bot ihr denn doch in der That Rom! … Sehet her, so lohnte sich jener Gang zu dem Bischof, bei dem sie einst ihre »hessische Dorfreligion«, das Lutherthum, abgeschworen hatte … Der »Augenblick«, der goldene »Augenblick«, wie er jetzt dem auf dem goldenen Kreuz über der Kapelle »zur heiligen Treppe« blitzenden Sonnenschein glich, gehörte ihr, ihr, der »vom Leben Erzogenen«, mit »Thränen Getauften« – – wie sie im Beichtstuhl zu Maria Schnee in Wien, anzüglich genug für – den ungetauften Bonaventura, gesprochen hatte. Sie wollte diesen Augenblick ihr Eigenthum nennen; sie wollte ihn sobald nicht wieder fahren lassen … Sie wußte, daß sie hinuntersteigen würde … O, das kannte sie schon als ihr altes Lebensloos … Aber bei einem Sturz kommt es auf die Höhe an, von wo herab! … Die Bedingungen des künftigen Elends, das sie vollkommen voraussah, richteten sich nach der Lage, die sie verließ ... So dachte sie: Jetzt oder nie! …

Was ist das mit dem Grafen Sarzana? … Warum will mich die Herzogin von Amarillas nicht bei sich behalten? … Warum flüstert der Cardinal so lächelnd[93] mit dem interessanten, geistvollen Offizier, der mir offenbar den Hof macht und doch – … Warum lächelten beide so zweideutig? … Seitdem Lucinde damals vor Nück zu Veilchen Igelsheimer entflohen war, hatte sie für die Verwickelungen des Lebens Gigantenmuth bekommen … Sie hatte auch den Muth, vor nichts mehr – zu erröthen … Sie ahnte, was zwischen Ceccone und dem Grafen Sarzana vor sich ging … Daß sie nicht um Kleines zu erobern war, hatte sie wol schon gezeigt … Ja – haßte sie nicht eher die Männer überhaupt? …

In »Maria Schnee« hatte sie nicht Zeit gefunden, Folgendes zu beichten:

Sie hatte das Kattendyk'sche Haus um den Thiebold'schen Streit über die Kreuzessplitter verlassen … Sie war zur Frau Oberprocurator Nück gezogen, die sich schon längst ihre wärmste Freundin und Bewundrerin nannte … »Jede kluge Frau« – stand in Serlo's Denkwürdigkeiten – »macht die zu ihrer Freundin, die ihrem Platz bei ihrem Manne gefährlich zu werden droht. Kühlt sich durch eine nähere Bekanntschaft dann nicht an sich schon die Glut des Interesses beim einen oder andern ab, so hat die Frau den Vortheil, der Welt die böse Nachrede zu verderben …« So dachte freilich die Oberprocuratorin nicht, aber die Wirkung blieb dieselbe … Lucinde war bei den täglichen, mit Frau Dr. Nück gepflogenen Erörterungen über Kleiderstoffe, Farbenzusammenstellungen und die Echauffements ihres Gesichts nirgends vor ihrem Mann sicherer, als in seinem eignen Hause … Dennoch verließ sie es, als sie eine grauenhafte Sage, die über Nück im Munde[94] des Volkes ging, bestätigt fand. Er selbst hatte es ihr einst gesagt, daß sich ihm zuweilen eine Binde vor die Augen legte, die ihn verhinderte zu wissen, was er thäte ... Dann müßte er Hand an sich selbst legen … Es waren wirkliche Thränen – »der Nervenschwäche«, die ihm flossen, als er sagte, in solcher Lage würd' er einmal sterben, wenn nicht ein Wesen um ihn wäre, das ihn vor Wahnsinn bewahrte … Was halfen die »Davidsteine« aus seiner Beichte bei Bonaventura –! Was half die Erkenntniß, daß jeder, jeder Geist untergehen muß, der anders spricht und handelt, als er denkt – … Am achten Tag nach Lucindens Einzug in sein Haus wollte sie ihm in seine Zimmer einen spätangekommenen Brief tragen und fand ihn hängend unterm Kronleuchter. Das Sopha darunter, das auf Rollen ging, war zurückgeglitten … Der Anblick war furchtbar … In Momenten der Gefahr bewährte sich Lucinde nicht. Sie sah Hammaker den schwebenden Körper hin- und herschaukeln; sie hörte die »Frau Hauptmännin« ein Wiegenlied auf ihrer Guitarre dazu klimpern; die Blätter in Serlo's Erzählungen vom Pater Fulgentius und Hubertus flogen auf … Sie floh vor dem grauenhaften Anblick, ohne den Muth zu haben Lärm zu machen … Ja sie fühlte mit grausigem Gelüst der That des Hubertus nach – ihn ruhig hängen zu lassen – den lebensmüden, gewissenszerrütteten Mann – der sie in so entsetzliche Verwickelungen des Lebens geführt, der so viel Verleumdungen und Zweifel über sie in Bonaventura's Urtheil verpflanzt hatte … Aber nun vor sich selbst als dann einer Mörderin erbebend, konnte sie nichts thun als die Flucht ergreifen … Sie raffte[95] ihre wichtigsten Sachen zusammen, klingelte und lief wie von bösen Geistern verfolgt zu Veilchen Igelsheimer in die Rumpelgasse … Die Nacht über mußte sie annehmen, daß der Oberprocurator – durch ihre Schuld! – todt war … Sie blieb einige Tage versteckt, sie, die Mörderin des Verhaßten … Allmählich erfuhr sie, daß Nück noch lebte und nur heftig erkrankt war … Ueber diese Annäherungen ihres Lebens an Brand und Mord verließ sie die Residenz des Kirchenfürsten. Sie folgte Bonaventura nach Wien … Gefeit gegen alles, zog sie Männertracht an und lebte wie ein Mann … Sie hatte seitdem nichts mehr von Nück gehört, als daß er, zurückgezogen von den Geschäften, auf dem Lande wohnte …

So war sie reif für Rom! … Ihrem Auge hatte sich die sittliche Welt aller Hüllen entkleidet, wie nur einem katholischen Priester, der, um den Himmel lehren zu können, in den Vorkommnissen der Hölle unterrichtet wird … Sie haßte und verachtete, was sie sah – und im Grunde nichts mehr, als die Männer … Für diese hohen Würdenträger der Kirche, für diese Tausende von ehelosen Geistlichen, die Rom zählt, war ihr jeder Begriff von Tugend zur Täuschung geworden. Ist Rom »mit Ablässen gepflastert«, wie jener Pilger zu Bruder Federigo gesagt hatte, so sind die Sünden dort wie Straßenstaub … Die Beichtstühle der katholischen Welt scheinen in Rom mit den Geheimnissen der Menschen seit zwei Jahrtausenden umgestürzt und ausgeschüttet worden zu sein … Ja sogar der Heiligste der Menschen, der Bischof von Castellungo, war – »ungetauft«! … Sein Rival,[96] Pater Vincente, hatte für einen geträumten »Kuß in der Beichte« gebüßt! … Lucinde nahm nichts mehr, wie es sich gab; sie zweifelte an Allem …

Dem »ungetauften Heiligen« hatte Lucinde in Wien Dinge gebeichtet, die bei diesem allerdings ihren Besitz der Urkunde Leo Perl's in Schach halten konnten …

Bonaventura durfte nach diesen Geständnissen ruhiger werden …

Sie hatte in der That begonnen von ihrer Bonaventura schon bekannten Begegnung mit Räubern … Sie hatte erzählen müssen vom Eindruck, den auf eine nicht von ihr genannte, aber leicht zu erkennende Person (Bonaventura ergänzte sich: »Nück!«) die Mittheilung gemacht hätte, daß jener Hammaker seinem frühern Gönner eine tödliche Verlegenheit hinterlassen wollte durch eine ins Archiv von Westerhof einzuschwärzende falsche Urkunde … Sie hatte Nück's Betheiligung als eine nur passive dargestellt, ihren eigenen Zusammenhang sowol mit dem Brand wie mit dem Fund des Falsificats nur als die äußerste Anstrengung, das Verbrechen zu hindern … Dennoch – sie gestand es, war es ausgeführt worden …

Ein kurzer Schauder Bonaventura's – ein Seufzen – »Was muß ein katholischer Priester alles in der Beichte hören und verschweigen!« …

Dann fuhr sie fort und berichtete vollständig, Jean Picard hätte sogar für seine Rettung und Flucht den Beistand eines Mannes gefunden, der zufällig in ihm denjenigen erkannte, für dessen Wohl er noch die letzten Anstrengungen seines Lebens hätte machen wollen …[97] (Bonaventura sagte sich: »Hubertus!« …) Was aus dem Brandstifter geworden, wußte sie nicht … Nück hätte das Geschehene nicht ohne die größte Gefahr für seine Ehre aufdecken können, wäre auch durch nichts dazu gedrängt worden, da sowol ein Ankläger fehlte wie die anfangs von ihm so gefürchteten Gelderpressungen des Brandstifters, der sich von seinem Unternehmen mit gutem Grund die stete Beunruhigung und Ausschröpfung Nück's hätte versprechen dürfen … Picard war in einem Grade verschollen, daß man selbst seinen Tod – wer weiß, ob nicht von den Händen seines ungenannten, von Bonaventura errathenen Retters – annehmen durfte …

Alle diese Vorgänge beichtete Lucinde in ihrer vollen Wahrheit, gedrängt von den Drohungen des Grafen Hugo … Sie warf ihre Sorge auf die heilige römische, alleinseligmachende Kirche, auf die nahe Beziehung derselben zu Gott, auf den Schatz der guten Werke, der die reichste Vergebung aller der Sünden gestattete, die die weltliche Welt, die Welt des Gesetzes, die Welt der Fürsten, ihrer Helfer und Helfershelfer nicht zu wissen braucht – – …

Das war die Lehre der Kirche, die ihr immer so wohlgethan … Die gab ihr jenen Muth und jenes Talent, eine »Beate« scheinen zu können … Was auch an Angst über diese Verbrechen in ihrer Seele lebte, sie warf alles auf Bonaventura … Seiner Vermittelung der grauenhaften und für ihren Ruf, ihre Freiheit so gefährlichen Vorgänge vertraute sie – seiner »vielleicht noch für sie erwachenden« Liebe – seiner Furcht auch vor ihrem zweiten »Geheimniß« – über ihn selbst … Zu[98] Enthüllungen über die Ursachen der Flucht Lucindens aus dem Nück'schen Hause blieb die Zeit nicht gegeben …

Den Ton der tiefsten Entfremdung gegen sie, einen Ton aus dem Urgrund der Seele, den Bonaventura nicht überwinden konnte, milderten die priesterlichen Formen … Da erklang der sanfte Ton der Güte, da das stille Murmeln des Gebetes, da die ernste Ermahnung … Furcht über ihre Mitwissenschaft an seinem eigenen tiefen Lebensunglück beherrschte ihn nicht … Schon beim ersten Nennen Bickert's unterbrach er sie mit den Worten: Jener Verbrecher, dessen Reue Sie immer noch unvollständig machen durch das Zurückbehalten seines Raubes! Warum erhielt ich nie, was Sie von ihm besitzen? Ist Ihr Bedürfniß, sich an mir zu rächen, noch so lebhaft? Warum sagen Sie mir nicht, was ich aus dem beraubten Sarge von Ihnen zu fürchten habe? … Alle diese Fragen ließ Lucinde ohne Antwort und ihn selbst verhinderte sein Stolz, verhinderte sein Schmerz um seines Vaters so schwer bedrohtes Schicksal anzudeuten, daß er den Inhalt der Leo Perl'schen Schrift kannte … Vollends mahnte die nächste Gefahr, die vom Grafen Hugo mit Erneuerung des Processes drohte, zu dringend … Zu dringend sogar die Möglichkeit, daß Lucinde ihrer Freiheit beraubt werden und die Beschlagnahme ihrer Papiere gewärtigen konnte …

Nachdem Lucinde in Bonaventura's Ohr geflüstert hatte, was sie vom Brand in Westerhof und aus Nück's Mittheilungen über Hammaker's Vorhaben wußte, verlebte sie Stunden der höchsten Angst … Sie durfte irgend eine Unternehmung, irgend eine Berührung[99] mit dem Grafen Hugo erwarten … Es wurden aber Tage daraus – zuletzt Wochen … Niemand mehr erkundigte sich nach ihr … Weder der Graf, noch Bonaventura … Hatte dieser den Grafen so vollständig beruhigt, so ganz die von ihr eingestandene Fälschung der Urkunde verschleiert? … Sie hörte Bonaventura's italienische Predigt; sie theilte die Bewunderung der Hörer sowol über den Inhalt, wie über die Form; sie frischte selbst ihre alte Kenntniß des Italienischen auf und nahm Unterricht darin … Kein Wort aber kam vom Grafen, kein Lebenszeichen von Bonaventura, der inzwischen nach Italien abgereist war – ohne von ihr irgend einen Abschied gekommen zu haben …

Anfangs sandte sie ihm einen zornigen Fluch nach, dann erstickte der Schmerz in Schadenfreude … Graf Hugo war denn also wirklich nach Schloß Westerhof gereist und alle Welt erklärte die Heirath zwischen dem Grafen und Comtesse Paula für so gut wie geschlossen … Paula vermählte sich! … Es war das Gespräch der ganzen Stadt …

Inzwischen fing sie an bittre Noth zu leiden … Ihre Geldmittel waren erschöpft … Was sollte sie beginnen? Welchen Weg einschlagen, um sich in dieser so schwierigen Stellung eines alleinwohnenden Mädchens zu behaupten? … Durfte sie es ein Glück nennen, wenn sie hier plötzlich – Madame Serlo und ihren Töchtern wieder begegnete? … Wol durfte die theaterlustige Stadt beide alte Gegnerinnen zusammenführen. Serlo's Kinder waren schnell herangewachsen und gefällige Tänzerinnen geworden. Sie protegirten Lucinden,[100] die sie herabgekommen, eingeschüchtert, in schon schwindender Jugend sahen. Sie boten ihr nicht nur ihren eigenen Beistand, sondern auch den – ihrer Beschützer. Die Kinder waren leichtsinnig. Die Mutter »genoß« nun, wie sie sagte, ihr Leben nach langer Entbehrung; sie genoß es auch im Behagen, prahlen zu können; ja – »Herz« zeigen zu können, gewährte ihr, ganz nach Serlo's Theorie, eine eigene Genugthuung … Frau Serlo – das war ein elektrischer Leiter für die ganze begrabene Vergangenheit Lucindens … Sie erzählte jedem, was sie von Lucinden und Klingsohr, von Jérôme von Wittekind, vom Kronsyndikus wußte … Daß Dr. Klingsohr in Rom gefangen saß, war allgemein bekannt; oft genug wurde Lucinde in die Lage gebracht, über diese Beziehungen Rede zu stehen …

Sie wohnte in der ärmlichsten Vorstadt … Empfehlungen von Beda Hunnius und Joseph Niggl öffneten ihr wol manches fromme Haus; die Gewohnheiten einer Convertitin behielt sie bei; sie blieb eine der eifrigsten Besucherinnen der Kirchen und Andachten; aber ihre Lage wollte sich nicht dadurch bessern … Von Nück wollte sie nichts begehren … In ihrer steigenden Noth dachte sie: Du schreibst an den Dechanten, wie ihr damals Bonaventura durch Veilchen hatte rathen lassen … Sie unterließ es … »Wenn es nicht die Asselyns wären!« … Nun suchte sie selbst Stunden zu geben … Ihre Musik suchte sie hervor … Sie versuchte sich sogar in dem ihr gänzlich versagten Gesange … Dies Letztere, um zugleich in der italienischen Sprache sich zu vervollkommnen und sich rüsten zu können zu ihrer[101] letzten »Pilgerfahrt nach Rom« – »vor'm Zusammenbrechen« …

Sie nahm Singstunden bei Professor Luigi Biancchi … Sie waren bei diesem gesuchten Maestro theuer … Aber für jede Stunde, die sie in der Currentgasse nahm, gab sie eine in der Weihburggasse, wo Serlo's Kinder wohnten … Diese wollten den Cavalieren gegenüber, die die Tänzerinnen des Kärnthnerthors auszeichneten, ihre vernachlässigte Bildung nachholen … Eine Weile ging das alles leidlich … Aber wie viel Stunden ließen die undankbaren Mädchen, die sie einst auf ihrem Schoose geschaukelt und so oft auf ihrem Arm getragen hatte, absagen und rechneten sie nicht an! … Zum Glück – bei ihrer Manie für die Ausbildung im Italienischen konnte sie so wol sagen – wurden eines Morgens die beiden alten Männer Biancchi und Dalschefski – verhaftet! … Der Italiener, der Pole verschwanden auf dem Spielberg bei Brünn, wo die »schwarze Commission« über die Revolutionen tagte …

Das Aufsehen, das dieser Vorfall in ganz Wien machte, der Schrecken, den darüber vorzugsweise Resi Kuchelmeister und Jenny Zickeles empfinden mußten, führte Lucinden diesen beiden Damen näher … Vielleicht würde sie ganz in das Zickeles'sche Haus eingedrungen sein, wenn ihr nicht die noch bei Madame Bettina Fuld verweilende Angelika Müller, »die diese Abenteurerin schon seit Hamburg kannte«, mit mehr als drei Kreuzen entgegengetreten wäre …

Kurz nach Weihnachten hatte Lucinde Tage der Verzweiflung … Sie sprach italienisch, wie eine geborene[102] Italienerin, aber sie hatte Schulden – Schulden – bis zum Ausgewiesenwerden aus Wien …

Schulden machen den Menschen erfinderisch … Sie wecken Genie bei Dem, der dergleichen nicht zu besitzen glaubt … Die Resultate des Nachdenkens jedoch über die Mittel, sich zu helfen, sind nicht immer unserer moralischen Vollkommenheit günstig … Lucinde war nie »gut«; Mittel und Wege, entschieden »schlecht« zu werden, boten sich ihr genug … Das wohlfeilste darunter, sich unter die Protection irgend eines Mannes, der sie zu lieben vorgab, zu begeben, vermied sie – … Aus zunehmender Abneigung gegen die Männer überhaupt? … Wozu hatte sie so gut Italienisch gelernt! – … »Freund der Seele, ich komme, um meinen Spuk mit dem Fund aus dem Sarge zu entkräften! Ich will ihn in deine Hände zurückgeben! Ich will mit dir die Frage erörtern: Was ist diese Welt, was Glaube, was unsere ganze dies- und jenseitige Seligkeit?« … »Das blieb ihr denn doch noch immer übrig, noch einmal nach Robillante und Castellungo schreiben zu können … Jetzt vollends, wo sich Paula in der That – dem Verbrechen der Fälschung? – hatte opfern müssen« – …

Lucinde rechnete und wühlte … Serlo's Kinder waren hübsch, aber ohne Geist. Ihre Lehrerin brauchte nur bessere Kleider anzuziehen, als sie sich erborgen konnte, und sie hätte schon die Aufmerksamkeit dauernder gefesselt … Wie sonst, so auch jetzt … Lucinde konnte verschwinden und auffallen; sie konnte als Magd und als Königin erscheinen; die Devotion war die Maske für beides … Blinzelte sie nur einmal mit der vollen[103] Macht ihrer kohlschwarzen Augen, gab sie sich mit dem ganzen Vollgefühl ihres übermüthigen Geistes, so erstaunten Grafen und Fürsten, die, mit Serlo's Töchtern und Madame Serlo plaudernd, die schlanke schwarze Lehrerin im einfachen Merinokleide nicht beachtet hatten … Nach einem solchen Lächeln war ihr Mancher schon nachgesprungen, wenn die schlanke Kopfhängerin mit ihren französischen, von den Jesuiten de la Société de Marie herausgegebenen Geschichtsbüchern sich empfahl … Madame Serlo hatte sie dann beim Wiederbesuch mit einem Hohngelächter empfangen … Wäre Lucinde sentimental gewesen, sie hätte über dies ganze Familienleben ausrufen müssen: O wärst du noch zugegen, du abgeschiedener Geist des armen Vaters dieser Kinder! Sähe dein erbittertes Gemüth eingetroffen, was du schon alles ahntest, als du auf dem Sopha lagst – und ich die Uhr zog, die ich vom Kronsyndikus damals noch hatte, um nach der Stunde zu sehen, wo du die Arznei nehmen mußtest! … Wie oft hatte Serlo gesagt: Und gesetzt, ich würde alt und erlebte, was ich voraussehe, ich kann mir denken, daß ich das Gnadenbrot bei den Meinigen annehme! Nicht wie den alten Lear hinausjagen würden sie mich; nein, ich bekäme die Reste von den Orgien, die sie feiern; ich würde lachen wie ein Lustigmacher, würde leuchten bis zur Treppe und die Trinkgelder nehmen, die dem Papa in die Hand gesteckt werden … »Hunger – thut weh«! konnte Serlo dann wimmern, wie Edgar im Lear …

An Menschenhaß und Weltverachtung nahm Lucinde immer mehr zu … Sie hatte schon im Spätherbst[104] bei einem Besuch des Praters die Entdeckung gemacht, daß die aufgeputzte Besitzerin jener Menagerie von einem jungen Mann begleitet war, über den die alte Holländerin mit ängstlicher Eifersucht wachte … Lucinde wagte nicht ihn schärfer zu betrachten, seitdem sie entdeckte: Das war Oskar Binder, der entlassene Sträfling, der spätere Spieler unter dem Namen »Herr von Binnenthal«! … Und von einem aufgehobenen Spielclub hatte sie gehört, den ein Herr »Baron« von Guthmann hielt … Die Entdeckung war bei einer polizeilichen Recherche erfolgt, von der die ganze Stadt sprach … Frau Bettina Fuld wünschte bei ihrer Abreise Andenken zu hinterlassen und kaufte zu dem Ende allerlei Schmucksachen. Sie wollte ihre Kasse nicht zu sehr in Contribution setzen und wandte sich auf den Rath der praktischen »Frau von Zickeles«, ihrer Mutter, an eine Auction im Versatzhause … Wie erstaunte sie, dort jenes Armband verkäuflich zu finden, das ihr vor einem Jahr in ihrer Villa zu Drusenheim abhanden gekommen! … Das verfallene Versatzstück war auf den Namen einer Frau von Guthmann eingetragen, derselben, die damals bei ihr so gastlich aufgenommen gewesen! … Die Anzeige, die Arrestation erfolgte … Lucinde las in den Zeitungen die nähern Angaben … Wie versetzte die Hellauflachende das alles in ihre erste Jugendzeit … Vom Lauscheraugenblick, als jene Frau vor ihrem spätern Mann auf den Knieen lag, fing ja ihr ganzes dunkles Leben an …

Lucinde würde zur Verzweiflung gekommen sein, hätte ihr jenes Bild der Jugend nicht auch Treudchen Ley[105] als freundlichere Erinnerung vorgeführt … Durch diese beschloß sie sich zu helfen … Sie schrieb an »Madame Piter Kattendyk« nach Paris, erzählte, daß sie in der größten Noth wäre, und bat um Hülfe … Da kam ein unorthographischer, liebevoller Brief, der einen Wechsel auf hundert Dukaten einschloß … »Das Glück liegt irgendwo, sagte sich Lucinde – wer es nur fände!« …

In einem kurzen Sonnenschein des Glücks suchen wir die zuerst auf, denen wir gefallen möchten … So eilte Lucinde zu Resi Kuchelmeister, deren gesunder Ton ihr in freundlicher Erinnerung geblieben war … Sie fand diese in ausdauernder schmerzlichster Trauer über das Schicksal der beiden alten Männer aus der Currentgasse … Resi war an sich so loyal, daß sie jedes dem Kaiserhause und ihrem großen schönen Vaterlande bedrohliche Unternehmen für eine Ausgeburt absoluter Nichtswürdigkeit erklärte; seitdem sich aber Dalschefski und Biancchi auf geheimen Umtrieben hatten betreten lassen, anerkannte sie wenigstens psychologische Möglichkeiten solcher Verirrungen – Frauen beurtheilen alles aus dem Herzen … Biancchi war denn nur geizig gewesen zum besten der Conspirationen! … Ein weitverzweigtes Netz von London über Paris, nach Italien, Ungarn, Polen hatte sich auch um ihn geschlungen! … Und Dalschefski lächelte nur deshalb so ironisch, weil ein Greis mit Jugendmuth in den schmerzlichen Nachklängen des Finis Poloniae lebte … Emissäre hatte »das arme Lamm« nach Krakau und Galizien befördert, Flüchtlinge, Mitverbundene – Spione … Dem »elenden Pötzl« schrieb Resi, vielleicht mit Unrecht, das Unglück der[106] beiden alten Männer zu, die mit ihren verwöhnten Bedürfnissen, mit ihren großen edlen Fähigkeiten jetzt in grauen Kitteln zwischen den Wällen des Spielbergs leben mußten … Resi's Unmuth war ebenso groß, wie ihre Erbitterung über die Gesinnungslosigkeit der Zickeles, wo Jenny plötzlich that, als erinnerte sie sich kaum des »Schöpfers ihrer Stimme« – sie hatte inzwischen einen neuen Maestro gefunden, der die Methode des vorigen verwarf, wunderbare Enthüllungen machte über den falschen Gang ihrer bisherigen Tonbildung und ihres Stimmansatzes – »eine dilettantische Sängerin ist zu allem fähig!« sagte Resi … Aber auch die Bühne gab sie inzwischen jetzt selbst auf …

Wer kann den unglücklichen Männern helfen! … dachte Resi … Sie hatte so vielfache Beziehungen – die einflußreichste, Graf Hugo, war nicht anwesend … Da fiel ihr ein: Die Herzogin von Amarillas hatte so treu ausgeharrt bei Angiolinens Seelenmetten …

Zu dieser ging sie in den Palatinus … Olympia, die sie immer noch die Mörderin Angiolinens nannte, war glücklicherweise nicht anwesend …

Als die Herzogin die Bitte vernommen, die darauf hinausging, daß sie sich für einen Landsmann beim Cardinal, dieser aber beim Staatskanzler verwenden möchte, sagte sie voll Staunen: Luigi Biancchi! … Sie hörte allem, was Resi in leidlichem Italienisch von einem ihr so wohlbekannten Namen erzählte, mit größtem Interesse und versprach auch das Möglichste zu thun …

Die Herzogin konnte nichts thun … Zu Olympien durfte kaum der Name Biancchi ausgesprochen werden,[107] ebenso wenig wie zu Ceccone … Resi vergab ihr den Nichterfolg um des Antheils willen, den die weiche Seele um Angiolinen zeigte … Resi erzählte das Leben ihrer Freundin, soweit es ihr bekannt war … Die Herzogin war über jede ihrer Mittheilungen zu Thränen gerührt …

Resi's leidliche Gewandtheit im Italienischen bestimmte die Herzogin, von einem Verlangen der Gräfin zu sprechen, eine Deutsche als Gesellschafterin zu engagiren und sie vielleicht mit nach Rom zu nehmen … Olympia glühte noch ganz für Benno und Bonaventura … Die Herzogin trug ihr diese Stellung an … Resi ergriff anfangs den Vorschlag und schien nicht abgeneigt … Zuletzt legte sich die Anhänglichkeit der Wienerin an ihre Vaterstadt verhindernd dazwischen und so brachte sie »eine Schülerin Biancchi's«, ein Fräulein Lucinde Schwarz für diese Stellung in Vorschlag …

Diese bewarb sich und reussirte … Das System, sich anspruchslos, unbedeutend, vorzugsweise nur an den Uebungen der Religion betheiligt zu stellen, stand Lucinden bei allen Anfängen ihrer Unternehmungen bei … So sehr es aufregt, stets in einer fremden Sprache reden zu müssen; so mächtig Phantasie und Herz von den Zaubern Italiens ergriffen wurden, sie beherrschte sich; sie suchte weder Mistrauen noch Eifersucht zu erregen … Der Cardinal reiste erst später nach in Begleitung des jungen Fürsten Rucca … Olympia, die Herzogin und Lucinde gingen voraus …

Lucinde erkannte bald die Natur der Gräfin, die man flüsternd die Tochter des Cardinals nannte … Sie erstaunte[108] über die Leidenschaft, die sie für Benno von Asselyn zur Schau trug … Jetzt erst erfuhr sie den eigentlichen Zusammenhang, wie Bonaventura zu einem Bisthum in Italien hatte kommen können … Benno wurde in Rom erwartet; die Gräfin sprach von ihm, als sollte ihre Vermählung nicht mit Ercolano Rucca, sondern mit Benno stattfinden … Nun – war er aber wieder entflohen … Jetzt wurde sein Name mit Verwünschungen genannt … Sie hütete sich wol, von ihrer Bekanntschaft mit Benno zu viel zu verrathen … Bald war ihr der junge Principe Rucca eine Art Piter Kattendyk; der alte Rucca ein Stück Kronsyndikus; die Fürstin Mutter eine der vielen alternden Koketten, die sie in ihrem Leben schon kennen gelernt hatte … Der allmächtige Cardinal hatte geistig alles von Nück; nur in seinen Manieren war das Streben nach Glanz und Anmuth vorherrschend … Sie hatte einigemal scharfe Urtheile gefällt, Ansichten über die Zeit, die Verhältnisse Deutschlands ausgesprochen; bei einigen Festen ging sie in gewählter Toilette; da merkte sie – Ceccone warf verstohlene, glühende Blicke auf sie … Es ließ sich ganz so an, als wenn sie eines Tages seine Beute werden sollte – … Sie dachte über die Bedingungen eines so außerordentlichen Sieges nach … Hätte sie sich je dergleichen von Rom träumen lassen! … Nur die Herzogin von Amarillas wurde ihr mit einem jeweiligen sonderbaren Lächeln bedenklich …

Den Lebensbeziehungen Bonaventura's war sie wieder in einem Grade nahe, der ihr die glänzendste Genugthuung werden mußte … Sie sah, daß er sein[109] Amt mit einem auffallenden Streit gegen den Erzbischof von Coni begonnen hatte … Der Gegenstand desselben gehörte den Gerechtsamen der Inquisition an, die zwar nicht mehr mit Scheiterhaufen, aber immer noch mit Einkerkerungen strafen kann … Die Dominicaner sind die Wächter des Glaubens; sie halten auf ihre Vorrechte um so eifriger, als die Jesuiten sie im übrigen überflügelt haben … Der gestürzte, von Bonaventura befehdete Fefelotti war nicht im mindesten in dem Grade unterlegen, wie Ceccone gewünscht hatte … Gegen einen unruhigen Bischof seiner Diöcese konnte ihn Rom vollends nicht fallen lassen … Noch mehr; Fefelotti kam in die unmittelbarste Nähe des Vaticans zurück. Er wurde der erste geistliche Minister Sr. Heiligkeit, während Ceccone der weltliche war … Jetzt wurde Bonaventura's Lage vollends schwierig – … Noch ein anderer Schlag gegen ihn war in Vorbereitung, die Verurtheilung der dem apostolischen Stuhl aus Witoborn vorgelegten Frage über den Magnetismus – »ob sich ein Priester nicht durch magnetisches Handauflegen verunreinige«1? …

Mitten im Gewirr dieser sich durchkreuzenden Gerüchte und leider nur halbverbürgten Nachrichten, hörte Lucinde, daß Paula's Bund mit dem Grafen Hugo wirklich im Frühjahr war geschlossen worden … Resi Kuchelmeister schrieb ihr authentisch diese Nachricht … Resi schilderte, was sie gehört von der in der Libori-Kapelle bei Westerhof stattgefundenen Trauung … Sie schilderte Paula's erstes Auftreten – in Wien – wie die geisterbleiche,[110] mehr dem Himmel, als der Erde angehörende Gräfin ein Aufsehen sondergleichen mache, wie sie alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung setze … Lucinde befand sich im Glück; das machte ihr Urtheil milder … Bonaventura hatte Paula aufgeben müssen; das ließ eine Weile ihre Eifersucht schweigen … Auf der Höhe des Verständnisses dieser unglücklichen Liebe stand sie ohnehin und wohl empfand sie, was in Paula's Seele vorgehen mußte … Graf Hugo hatte ihr einmal eine schreckhafte Stunde des Lebens bereitet, er hatte zornig und drohend mit ihr gesprochen und so schrieb sie denn an Resi: »Das ist unser Frauenloos! Die Lilie vom See in einen Stall verpflanzt! Veilchenkränze vom Bachesufer in ein mit Tabacksqualm durchzogenes Zimmer! Hände, weich und weiß wie Schwanenflaum, blätternd jetzt in einem abgegriffenen Lebensbuch! Aber gewiß! Der Graf wird sie schonen! All die Künste der ›Egards‹, mit denen die Männer sich zu verstellen wissen, wird er entfalten … Er wird sich auf den Ton der Tugend und Achtung vor dem Schönen stimmen! Wie wird er um sie her einen Tempel aus bunten Lügen-Wolken bauen, einen Tempel mit schönen Säulen und Vorhängen, die undurchsichtig sind, um – den Stall, die Cigarre, den Wein, die Untreue zu verbergen! … Aber manchmal verwickelt sich denn doch der Sporn des plumpen Fußes in die zarten Teppiche, die auf dem Boden gebreitet sind; manchmal reißt er die Herrlichkeit der Lüge zusammen. Da stürzen die alabasternen Vasen, zerbrechen die kleinen Hausgötter des Friedens, der erlogene Seladon wird zum schnurrbärtigen Barbaren, wie ich sie alle gefunden habe, diese Erlauchts, diese[111] Excellenzen, diese Durchlauchts … Dann kommen Dinge zu Tage, die für uns Frauen wie Offenbarungen aus der Welt des Mondes sind! Seit dem Anfang der Welt belügen so die Männer die Frauen, misbrauchen mit ungroßmüthiger Kraft unsere urewige Schwäche, die immer wieder die Füße küßt, die uns getreten … Vielleicht führt der Graf seine Rolle wenigstens durch bis zum stillen Verlöschen des Lichts, das ihm der Himmel zu hüten beschieden hat. Vielleicht besitzt er, da sie ihn gutmüthig nennen, wenigstens die Geduld des Ausharrens bis zum Ende … Ich kann mir den Glauben der Aerzte nicht geben, die diese Paula wie eine welk gewordene Blume an solchen Küssen und Umarmungen aufleben sehen und eine gesunde Mutter mit sechs pausbackigen Jungen in Perspective dieser Ehe erblicken. Zieht der Graf nach Schloß Salem, so fällt aus der dortigen Luft allein schon ein Mehlthau auf die zarte Pflanze; selbst wenn sie nie erfährt, wer die andre arme Seele war, die einst dort in den kleinen Entresols des Casinos gehaust hat« … Resi Kuchelmeister nahm diesen Brief sehr übel und antwortete nicht mehr …

Es war eben in der Welt nur Ein Mann, der Lucinden liebenswerth erschien … Hochthronender denn je unter allem Elend und aller Schwäche dieser Erde lebte er in seinem einsamen Alpenthale … Wie gern hätte sie ihn in seinem jetzigen Glanz erblickt! In seiner langen weißen Dalmatica, mit seinem silbernen Bischofsstab, unter seiner spitzen Bischofskrone, die ein Haar bedeckte, das schon, wie sie bei ihrer Beichte zu Maria-Schnee gesehen, zu ergrauen anfing![112]  … Wie gegenwärtig war ihr alles, was Bonaventura über diesen Bund Paula's empfinden mußte … Sie ängstigte sich um die Gefahren, die ihn bedrohten … Hätte sie nur mehr davon erfahren … Sollte sie sich an den Cardinal wenden? … Ceccone hatte den Kopf mit dem »Jungen Italien« und den Vorwürfen des Staatskanzlers voll und Olympia sprach nur selten noch anders, als mit Hohn über den von ihr zum »Heiligsten der Christen« und zum Bischof ernannten Deutschen … Die Herzogin schien ihr eher eine Bundsgenossin; doch mußte sie mit dieser – »erst einen Vertrag abschließen« …

Eines Tages hatte sich Lucinde, als Olympia nicht anwesend war, nach einem kleinen Diner bei der Herzogin, dem der Cardinal, einige Prälaten und Offiziere beiwohnten, den Scherz erlaubt, den großen rothen Cardinalshut des erstern aufzusetzen und damit vor den Spiegel zu treten … Das Gespräch war so lebhaft, das Lachen so natürlich gewesen, daß Lucinde sich diesen kleinen Rückfall in ihre alten »Hessenmädchen«-Naivetäten glaubte beikommen lassen zu dürfen …

Una porporata! rief Ceccone mit glühenden Augen und beifallklatschend …

Der große rothe Sammthut mit den hängenden Troddeln von gleicher Farbe stand dem schwarzen Kopfe in der That allerliebst …

»Die Päpstin Johanna!« sagte ein Offizier, der Lucinden zu Tisch geführt hatte … Er schien sich gut mit ihr unterhalten zu haben … Man nannte ihn den Grafen Sarzana … Er stand bei der Nobelgarde und war noch nicht lange von Reisen zurück …[113]

Der Cardinal drohte ihm für sein Wort schelmisch mit dem Finger, sagte, wie zur Strafe: »Nein! Die Gräfin Sarzana!« … Damit setzte er Lucinden den schönen Helm des Offiziers auf …

Eine Purpurglut überfloß sie … Ihre verunglückte Johanna d'Arc auf der Bühne stand wieder vor ihr … Sie hatte keine Kraft, ein Wort zu sprechen, keine Kraft, den Helm wieder abzunehmen, bis es Herzog Pumpeo that … Der Cardinal hatte den seinigen ergriffen …

Seit dieser Zeit wurde sie mit »Gräfin Sarzana« geneckt und von niemand mehr als von Ceccone … Der Graf, der sie nach dieser Scene anfangs auffallend gemieden hatte, fing plötzlich sogar selbst an, den Scherz wahrmachen zu wollen … Er zeichnete sie aus …

Lucinde wußte, daß Don Agostino ein Graf »ohne Baldachin« war, d.h. ohne Stellung zum hohen römischen Adel. Ein Marchese ist mehr als ein römischer Graf. Sie wußte, daß Graf Sarzana arm war und unter Cavalieren nach dem Schlag des alten Husarenrittmeisters von Enckefuß lebte. Galanterie und die Kunst, mit 1500 Scudi für sich und ihre Diener auszukommen, erfüllte das Leben dieser »armen Ritter« – unter denen sich Frangipanis und Colonnas befinden …

Wie sich aber die Neckereien mit der »Gräfin Sarzana« mehrten, trat ihr die Vergleichung des alten Enckefuß mit diesen römischen Rittern noch in einer andern Beziehung entgegen … Der alte Husarenrittmeister hatte Ehrgeiz, Ritterlichkeit, Treue, Aufopferung für gute Freunde, Tugenden, die die Fehler seines Leichtsinns vergessen ließen … Seltsam aber, sagte sie sich, diese romanische Art[114] besitzt von alledem wenig oder gar nichts und regiert doch die Welt! … Die anständigsten Menschen hatte Lucinde hier gewinnsüchtig und schmutzig geizig gefunden; ein gewisser Adel der Auffassungen, der ihr selbst noch in der äußersten Entartung des heimischen Junkerthums, im Kronsyndikus, bei ernsten Krisen erinnerlich war, fehlte hier … Sie sah anständig gekleidete Männer Abends in die Kaffeehäuser zu den Gästen treten, die Achsel zucken und den Hut hinhalten – um einen Bajocco zu erhalten … Selbst die Herzogin von Amarillas fand in solchen Vorkommnissen nichts als die allgemeine Consequenz des südlichen Lebens … Mit dem äußern Schein der Demuth verband sich, wo Lucinde hinblickte, eine Gewöhnlichkeit der Anschauungen, die selbst ihre leichte Art zu denken und zu urtheilen noch überschritt … Im Theater, das sie wegen Olympiens Koketterie besuchen mußte, sah sie zwanzig Tage hintereinander dieselbe Oper oder Farce … An manchen Stellen, wo Rührung hervorgebracht werden sollte, zitterten wol die Stimmen der Sänger, der Schauspieler; die Taschentücher wurden gezogen; aber meist waren es Ausbrüche von Klagen, die ihr weit eher lächerlich vorkamen … Anderes wieder, das selbst für sie roh und herzlos erschien, ging bejubelt oder als »großartig« vorüber … Maßstab aller Beurtheilungen war die Klugheit oder Dummheit, die man bewiesen. Eine geschickt ausgeführte List erntete Bewunderung … Und nicht anders im täglichen Leben. Der alte Rucca war, wie alle sagten, ein Gauner. Er stand im besten Einvernehmen mit den Cardinälen … Sein Sohn hatte die[115] Eitelkeit eines Affen. Seine Kameraden waren ebenso. Anmaßung, Unwissenheit überall … Einige der römischen Junker trieben Politik und hielten sich zur »nationalen« Partei. Ihre Unzufriedenheit bestand darin – daß im Sanct-Peter bei großen Festlichkeiten »die Gesandten und die Fremden die Plätze erhielten, die ihnen gebührten«! … Oder sie fanden, daß der Kirchenstaat zu sehr von Paris, Neapel und Wien beherrscht wurde; sie wollten die Herrschaft der alten Geschlechter wiederherstellen. Selten, daß sich einmal bei der Herzogin eine unterrichtete Persönlichkeit einfand. Die »Prälaten« besaßen Kenntnisse, mehr noch, angeborenen Geist; aber eine Einbildung verband sich damit, die jedes Maß überschritt. Nach ihnen war jede Wissenschaft zuerst in Italien entdeckt worden … Wenn Cardinal Ceccone »auf sein Alter Neuerungen liebte«, so bestanden diese nur in dem eifrigsten Verlangen, den Einfluß der fremden Cabinette zu beseitigen … Seitdem hatte freilich der Staatskanzler auch ihm von dem »Salz« gesprochen, das auf das dem Erdboden gleichzumachende Mailand gesäet werden müßte … Doch ging alles so keck, so sicher, so maßgebend her! … Diese elende Verwaltung! … Die Zölle befanden sich in den Händen von Pächtern, die so rücksichtslos verfuhren, daß Zahlungsunfähige wider Willen zu Flüchtlingen, Räubern und Mördern wurden … Auf Anlaß des gestern von Hubertus niedergeschossenen Pasqualetto wußte Lucinde zwei Thatsachen. Einmal daß sämmtliche fremde Weine, die Ceccone trank und seinen Gästen vorsetzte, unversteuerte waren. Zweitens daß Graf Sarzana gesagt hatte: Diese Kugel hat den Pasqualetto[116] für seinen letzten Räuberspaß zu früh gestraft! Er wollte ja von morgen an ehrlich werden! Er war nur hier, um nach Porto d'Ascoli mit einer Pension zurückzukehren! …

Die scharfen und freisinnigen Urtheile des Grafen kamen nur in vereinzelten Augenblicken … Sie schienen einer Stimmung des Hasses gegen den Cardinal zu entsprechen, des persönlichen Hasses; denn die sämmtlichen Sarzanas waren Creaturen des Cardinals und ihm auf Tod und Leben verpflichtet … Don Agostino hatte Verwandte, die nicht gerade des Abends in den Kaffeehäusern achselnzuckend bettelten, aber für jede Gefälligkeit eine Bezahlung verlangten … Die Schwester des Grafen war eine Geliebte Ceccone's gewesen – alt geworden hütete sie seine Landökonomieen … Ein Bruder von ihm verwaltete des Cardinals Oelmühlen – … Als er sich zu viel Privatvortheil aus ihnen gepreßt hatte, ließ ihm der Cardinal die Wahl zwischen dem Tribunal del Governo oder der Heirath einer seiner vielen Nichten, die er nicht alle so auszeichnen und unterbringen konnte wie Olympia … Ceccone trieb, das entdeckte ganz aus sich selbst Lucinde, die Ostentation mit dieser Nichte nur deshalb, weil so der Schein gewonnen wurde, als hätte er überhaupt nur Eine dergleichen zu versorgen! … Der Cardinal lachte überlaut, als ihm Lucinde zwei Tage nach dem aufgesetzten Purpurhut diese Andeutung mit einem verschämten Blinzeln durch die Finger ihrer vors Gesicht gehaltenen linken Hand gab … Ein dritter Verwandter des Grafen war durch Verheirathung mit einer andern Geliebten des Cardinals Aufseher aller Häfen geworden … Und Don Agostino? … Pah, dachte Lucinde,[117] sieht Ceccone ein, daß du nicht, wie hier Sitte ist, durch eine Verheirathung mit seinem Majorduomo oder seinem Koch zu erobern bist? … Sollst du deßhalb, deßhalb die Gräfin Sarzana werden –? … In diesen Grübeleien lebte sie jetzt … Es gab Entschlüsse zu fassen fürs Leben … Es standen Erwägungen bevor, die die außerordentlichste Anstrengung des Verstandes, der List, der Berechnung, vielleicht – des Herzens kosteten …

Sie hatte noch keinen klaren Entschluß gefaßt – … Aber das stand fest: Benno von Asselyn urtheilt gering über dich und seine Mutter infolge dessen lächelt und zuckt dir die Achseln! … Das soll nicht mehr sein! Dies Lächeln der Herzogin von Amarillas soll ihr ein für allemal verdorben werden! …

Lucinde wollte auf Villa Rucca den beiden ihr so nahe stehenden Mönchen die Theilnahme alter Freundschaft und Dankbarkeit nicht versagen, sich aber im übrigen durch sie vergewissern, ob die Herzogin jene Betrogene von Altenkirchen, jene Römerin war, von der auf Schloß Neuhof soviel Sagen gingen, die Hubertus doch wol wissen mußte …

Einen fatalen Eindruck machte es ihr jetzt beim Anfahren, daß sie die Villa Rucca keinesweges in der Stille antraf, die sie zur Ausführung ihrer entschlossenen Absichten bedurft hätte … Nicht nur wurden eben von einer Menge Arbeiter die Spuren des gestrigen Festes, entfernt, sondern auch eine Gerichtscommission war zugegen, die die gestrigen Vorfälle aufnahm und der nun gerade ihr Erscheinen zu statten kam, um von ihr noch einige an sie gerichtete Fragen beantworten zu lassen … Der Cardinal sogar und der alte Fürst Rucca[118] waren zugegen … Sie hörte schon, daß beide am Ort des gestrigen Ueberfalls mit den Mönchen Hubertus und Vincente im Gespräch verweilten … Ueber Sebastus erfuhr sie, daß es mit seiner Wunde nicht gut stand und die Benfratellen jeden Augenblick erwartet wurden, ihn abzuholen …

Auch dem Cardinal und dem Fürsten war sie im höchsten Grade und als Dolmetscherin willkommen … Beide suchten mit dem drolligen Laienbruder, dessen Aeußeres vom Dienertroß belacht wurde, eine Verständigung, die Pater Vincente nur mühsam vermittelte … Lucinde wurde sofort gerufen, in den Garten zu kommen …

An der Stelle des gestrigen Erlebnisses harrten ihrer die drei geistlichen Herren und der alte Rucca im lebhaftesten Gespräch …

Hubertus grüßte sie mit aufrichtigster Freude und drückte nur mit Trauer Befürchtungen wegen seines Freundes Sebastus aus … Seine Augen sagten: Sei dankbar! Es geschah alles um dich! Bleibe uns ein guter Engel! Entsende den Brief – wenn er noch nöthig ist – Deinen Verbindungen gegenüber! Du weißt, was wir beide seit Witoborn gemeinschaftlich zu tragen haben! …

Lucinde beglückte und beruhigte ihn durch einen ihrer gütigsten Blicke …

Pater Vincente und der Cardinal erhielten von ihr die Ehren, die der kirchlichen Stellung derselben gebührten … Pater Vincente – »der Rival Ihres Bonaventura um die nächste vacante Heiligenkrone« –! wie neulich Olympia zur Herzogin gespöttelt hatte – Ceccone das Bild des Versuchers,[119] der mit einiger Reserve über alle Schätze der Erde gebietet … Lächelnd stand er und schien Lucinden mit geheimnißvollen Zeichen begrüßen zu wollen … Aber sie blieb voll Demuth …

Der alte Fürst war wie ein luftschnappender Hecht, der sich nicht in seinem Elemente befindet … Vor dem heiligen Pater Vincente mußte er Ehrfurcht bezeugen und ärgerte sich doch, daß dieser nicht geläufiger deutsch verstand … Mit gemachtem süßsauern Lächeln verwies er Lucinden auf den von Pater Vincente vorgetragenen Stand einer Verhandlung, der zufolge sie erfuhr, daß der Räuberhauptmann Pasquale Grizzifalcone in der That nach Rom gekommen war auf Veranlassung – zunächst des Fürsten Rucca …

Sie traute ihrem Ohre nicht … Der Fürst versicherte jedoch ungeduldig: Ebbêne! und wendete sich zu Vincente mit einem drängenden Parla dunque! nach dem andern …

Lucinde hörte, daß der berüchtigte Verbrecher, der schon vielfach sein Leben verwirkt hatte, hier auf dieser Villa erwartet worden war zu einem friedlichen Gespräch, das der Fürst mit ihm unter vier Augen hatte halten wollen …

Pasqualetto, wie er im Munde des Volkes hieß, hatte die Bürgschaft der Sicherheit verlangt … Diese hatte er erhalten auf das dem Fürsten gegebene Ehrenwort – des Cardinals …

Dieser nickte ein Ja! und setzte sich jetzt …

Zur Summe, die der Räuber als Bedingung seines Erscheinens verlangte, hatte dieser »dumme Kerl«, wie der Fürst sagte, noch eine »buona manchia« extra[120] verdienen wollen; eine Summe von einer der »Prinzessinnen«, die sich vielleicht im Garten zu sicher dünkten … Vielleicht auch – eine Geisel für seine Sicherheit zu denen, die er schon in den Schluchten der Mark Ancona besaß … Dies setzte der Fürst mit einem seltsamen Streiflicht auf das »Ehrenwort« des Cardinals hinzu …

Sie hätten nun gestern beinahe noch zwei solcher Geiseln gefunden, aber Pasqualetto hätte leider dran glauben müssen … Leider! betonte der alte Fürst in allem Ernst und corrigirte sich nur pro forma: Der Bluthund! … Dabei sah er über die Mauer, wo noch die Spuren der gestrigen Verwüstung nicht getilgt waren …

Der Nimmersatt! ergänzte Ceccone ironisch und ließ zweifelhaft, wen er meinte …

Lucinde orientirte sich allmählich …

Der Fürst erging sich in der heftigsten Anklage eines Menschen, der hier den Staatsbehörden völlig in der Eigenschaft einer gleichberechtigten Macht gegenüberstand … Dabei richtete er seine Vorwürfe geradezu wie die öffentliche Meinung gegen Hubertus …

Dieser Arme verstand sie nicht und suchte nur mit seinen glühenden Augen, die im Knochenschädel hin- und herfunkelten, zu deuten, was seine Ohren nicht begreifen konnten … So viel merkte er allmählich, daß er den hohen Herren wol gar keinen Gefallen mit seiner raschen Anwendung des Pistols gethan hatte …

Der Cardinal wiegte sich im Sessel, brach über sich Lorberblätter, die er in seiner flachen Hand zerklopfte, und beobachtete nur scharf fixirend Lucinden … Daß[121] diese die Mönche Hubertus und Sebastus kannte, schien ihm darum von Interesse, weil sich die kleinen pikanten Episoden der gewöhnlichen Devotion und amazonenhaften Kälte dieses fremden Mädchens immer zahlreicher einzufinden begannen …

Durch diesen Tod, krächzte der alte Fürst offen zu Hubertus heraus, haben Sie die heilige Kirche um eine große Gelegenheit gebracht, Gerechtigkeit zu üben! … Sie hätten sich getrost von hier sollen entführen lassen, schöne Signora! scherzte er, sich mäßigend … Ich würde mit Vergnügen das Lösegeld gezahlt haben – Der Cardinal da hätte den Rest hinzugefügt – setzte er mit sardonischem Lächeln und seine Aufregung zügelnd hinzu …

Senza il supplimento! … Ohne das Agio! erwiderte der Cardinal ebenso trocken ironisch … Er streckte seine rothen Strümpfe vor sich auf die unteren Sprossen eines Sessels aus … Sein Bein war noch untadelhaft … Kopfnickend bestätigte er alles Erzählte, nur mit einer gewissen ironischen Bitterkeit …

Sie können alles wieder gut machen, fuhr der alte Fürst zu Hubertus fort, wenn Sie sich die Gnade des Pater Campistrano erwerben und wirklich diese Reise nach Porto d'Ascoli unternehmen wollen …

Nach Porto d'Ascoli? fragte jetzt Lucinde staunend über die Anrede, die sie übersetzt hatte …

Beim Namen des Pater Campistrano blickte Pater Vincente besonders ehrfurchtsvoll – …

Hubertus stand unbeweglich, dem alten knorrigen Myrtenstamm nicht unähnlich, an den er sich lehnte … Er[122] hatte schon vorhin von einer Reise nach der Küste gesprochen – das war richtig – er verstand nur noch zu dunkel den Zweck und sah auf Lucinden als Hülfe …

Diese wollte sich erst vollständiger zurecht finden, wollte auch die Interessen des Cardinals erst sondiren, ehe sie vermittelnd eingriff … Wie den Cardinal diese Klugheit entzückte, die er vollkommen übersah! … Ceccone schien gleichgültig, spielte mit seinem Augenglase, fixirte bald Lucindens Toilette, bald das Curiosum der Gesichtszüge und Gestalt des deutsch-holländischen Laienbruders, das er belachte …

Hubertus hatte allerlei Dinge von einem Pilger, von einem Deutschen gesprochen, die ihrerseits Lucinde nicht verstand …

Erst allmählich lüftete sich ihr folgender, größtentheils von Pater Vincente vermittelter Zusammenhang …

Der Räuber Pasqualetto war, wie im Musterstaat der Christenheit, im Eldorado der katholischen Sehnsucht, üblich, unter dem Versprechen der Sicherheit nach Rom entboten worden, um für eine bedeutende Summe dem Fürsten Rucca Mittheilungen über die Lage seiner Interessen an der adriatischen Küste zu machen …

Der Gewinn, den der gefürchtete Räuber von seinen Unternehmungen zog, mußte sonst mit seinen Gefährten getheilt werden; diesmal wollte er die Frucht langer Verhandlungen, eine lebenslängliche Pension ganz für sich allein, wollte seine Wohnung inskünftige in der frommen Stadt Ascoli nehmen und sein bisheriges Leben der Nachsicht der Behörden empfehlen … Solche letzte Friedensschlüsse der Regierungen mit den Fra Diavolos[123] der Landstraßen sind in Italien nichts Seltenes und für Jedermann daselbst das Erwünschtere, weil Sicherste … Wenn auch zugestanden werden muß, daß sich Ceccone und das Tribunal gegen diese Uebereinkunft sträubten, so wußte doch Fürst Rucca seinen Wünschen Nachdruck zu geben und nicht blos im Scherz sagte er zu den höchsten Richtern: Fürchtet ihr, daß eure Namen auch auf der Liste derer stehen werden, die mir die Füllung des Schatzes des Heiligen Vaters mit der Zeit unmöglich machen? … Besonders sah wol gar Ceccone den Enthüllungen des Pasqualetto mit unheimlicher Spannung entgegen … Der Fürst hatte heute ganz den übeln Humor, der jeden Gastgeber am Morgen nach einem Feste, wenn es auch noch so schön ausfiel, zu erfüllen pflegt … Er äußerte ihn in aller Offenheit mit den Worten: Ich glaube, diesen Mord des armen Pasqualetto hat jemand auf dem Gewissen, der sich fürchtete, auf zehn Jahre zurück seinen Champagner versteuern zu müssen! …

Der Cardinal zog verächtlich die Lippen … Lucinde sah, daß, wenn der Cardinal hier etwas fürchtete, mehr im Spiele sein mußte als sein unversteuerter Champagner … Doch auch schon diese Beschuldigung durfte den Cardinal mit Recht reizen … Er verwünschte alle die, die der Kirche und ihren Cardinälen Uebles nachsagten …

Hubertus horchte nur …

Der Räuber war, erfuhren er und Lucinde, am Tiberstrand mit einigen alten Kameraden aus San-Martino, einem bekannten Räubernest im Albanergebirg, in Berührung gekommen und hatte bloß den Spaß am[124] Feste seines versöhnten Feindes noch als »Zugabe zum Fleisch« ausführen wollen … Die Verständigung zwischen dem Fürsten Rucca und Pasqualetto war auf brieflichem Wege vor sich gegangen – wenn auch mit der größten Schwierigkeit … Der Schmuggler- und Räuberhauptmann konnte natürlich selbst weder lesen noch schreiben … Für sein Vorhaben, die Hehler unter den Kaufleuten und die mit ihnen und den Schmugglern unter einer Decke wirkenden Zollbedienten anzugeben, mußte er sich eines verschwiegenen Beistandes, der schreiben und lesen konnte, bedienen. Für solche Fälle gibt es in Italien die Mönche, falls sie – schreiben können … Aber selbst diesen hatte Pasqualetto nicht getraut. In Ascoli wollte er seine Tage in Ruhe beschließen; er war wol auch gerüstet, die Rache der von ihm Verrathenen zeitlebens gewärtigen zu müssen, hatte sich auch deshalb für die Schlimmsten unter den Defraudatoren die Verzeihung erbeten; aber er vertraute sich sogar den Mönchen nicht gern an. Wo fand sich auch bei ihnen der Muth, Vermittler eines so eine ganze Provinz in Furcht und Schrecken versetzenden Strafgerichts zu werden! Die Mönche mehrerer Klöster, bei denen er anklopfte, baten ihn himmelhoch, keine dergleichen Thorheit zu begehen und in solcher Form reuig werden zu wollen! Wendet Euch doch an uns und die Madonna! sagten sogar die Aebte … In der Kathedrale von Macerata gab es ein wunderthätiges Marienbild, das alles vergab … Kurz Pasqualetto war loyaler, als die ehrwürdigen Väter und vollends als die einsam wohnenden Landpfarrer, die sich mit einer solchen Provocation der Rache der Betheiligten am wenigsten[125] einlassen wollten … Wie sehnte sich der riesige Pasqualetto, der eiserne Pfosten aus Brettern ausbrechen, nur nicht schreiben konnte, nach einem Dolmetscher seiner Wünsche! … Kaum daß er einige Mönche so weit brachte, für die Verständigung mit dem Generalpächter der Steuern die ersten Einleitungen zu treffen …

Hier wollte der Fürst wieder selbst erzählen … Pater Vincente trug ihm alle diese Geschichten mit einem zu elegisch eintönigen Klange und wie von der Sündhaftigkeit dieser Welt wenig erbaut vor …

Man hörte indessen doch aus des Priesters Munde:

Seine Hoheit waren seit lange in ihren Einnahmen nicht so verkürzt gewesen, wie in den letzten Jahren. Während die statistischen Ausweise aller Staaten eine Zunahme der Zollerträgnisse erwiesen, sanken in schreckenerregender Weise die des Kirchenstaats. Ein Gewebe von Defraudationen hatte sich gebildet, das neben dem geregelten Steuerwesen des Staats und der Pächter ein zweites der Schmuggler, der treulosen Zollbedienten und Consumenten bildete. Fürst Rucca schwur, daß er im vorigen Jahr den Ausfall einer halben Million gehabt und in diesem Jahr würde das Uebel noch ärger werden. Er wollte ein Gericht mit Schrecken halten. Wozu war Ceccone's Nichte seine Schwiegertochter geworden …

Pater Vincente sprach letzteres nicht alles … Lucinde ahnte es … Der Pater senkte die langen schwarzen Augenwimpern … Wie sah er so heilig aus … Ceccone fing an, ihn schärfer zu beobachten … Er dachte: Fefelotti will Dich zum Cardinal machen? … Das ist von meinem Gegner theils Koketterie mit der Mode[126] der Frömmigkeit, theils eine erneute Schaustellung der Lebensweise Olympiens und eine Verurtheilung meines Systems … Die geistliche Intrigue ergreift jedes weltliche Mittel … Ceccone versank in brütendes Nachsinnen …

Hubertus aber und Lucinde erfuhren:

Pasqualetto wollte sich durchaus noch immer nicht nach Rom begeben, aber auch seine Liste von Kaufleuten, reichen Grundbesitzern, vielen vornehmen Männern in Rom, vorzugsweise von Zollbedienten und Helfershelfern der Schmuggler blieb ungeschrieben … Das Geschäft rückte nicht vorwärts … Endlich begab sich Pasqualetto mit seinen nächsten Vertrauten in die Gegend von Loretto … Dort wollte er nächtlich einen Pfarrer überfallen und ihn mit geladener Flinte zwingen, niederzuschreiben, was ihm »unter dem Siegel der Beichte« dictirt werden würde … Da fiel ihm vor Loretto ein Haufe Pilger in die Hände. Diese, so arm sie waren, plünderte man aus und entdeckte, daß einer derselben, der der ärmste von allen schien, nur eine Bibel (ein verbotenes und allen Steuerbeamten als zu confisciren bezeichnetes Buch) und ein Taschenschreibzeug besaß … Diesen glücklichen Fund hielt man fest … Ein Gefangener, der schreiben konnte! … Ein Bettler, der sich, wenn es sein mußte, aus der Welt schaffen ließ, ohne daß viel Nachfrage danach war … Diesen Unglücklichen schleppten die Räuber mit sich und hielten ihn seit Monden gefangen. Es war ein Greis, krank, hinfällig; er kam von den Alpen her, hatte nach dem südlichen Italien gewollt – er nun war der Vertraute einer hochwichtigen Staatsaffaire geworden …[127]

Und hier eben war es, wo schon bei der früheren Erörterung dieser Dinge Hubertus in seiner regsten Theilnahme aufgewallt war …

Ingleichen gab auch Vincente jetzt wie vorhin über diesen gefangenen, dem Verderben preisgegebenen Pilger Zeichen eines gesteigerten Interesses …

Den Pilger zwangen die Räuber, Nachts über die wildesten und schroffsten Felsenwände zu klettern und mit ihnen in einsamen Höhlen zu campiren … In einer verlassenen Zollwächterhütte am Meeresstrand fand sich nach drei Tagen das nothwendige Papier und nun begann die Correspondenz mit Rom … Das war ein Verkehr wie zwischen zwei Cabinetten … Grizzifalcone ging vorsichtig zu Werke … Die Actenstücke seines Verrathes mehrten sich … Der Pilger mußte Namen und Orte, alle Waaren, die seit Jahren nicht versteuert gewesen zu sein sich die Schmuggler entsannen, alle Hehler, auch die Schlupfwinkel niederschreiben, wo die Waaren geborgen wurden, Fischerhütten bei San-Benedetto, Leuchtthürme am Fosso Bagnolo, Felsenschluchten bei Grottamare, Zollwächterhäuser beim Hafen von Monte d'Ardizza – nichts blieb ungenannt … Der unglückliche Pilger hatte Bogen vollgeschrieben mit Geständnissen, die dem Fürsten Rucca Gelegenheit zu einem Strafgericht geben sollten … War nun dies Convolut mit Pasqualetto mitgekommen? … Wo befand es sich? … Es fehlte …

Hier fragte Lucinde, warum sich der Fürst diese Papiere nicht schon früher hätte zuschicken lassen …

Er erwiderte, er mistrauete der Post …[128]

Wer kann sich auf Eure Post verlassen! sagte er bitter und zornig …

Der Fürst, entgegnete Ceccone sich bekämpfend, wollte nur noch mehr vom Pasqualetto erfahren, als was dieser wagen würde niederschreiben zu lassen …

Lucinde sah, daß es den alten Fürsten mächtig gereizt hatte, gerade die Würdenträger der Kirche, die festesten Säulen der Prälatur, einer Aristokratie, die noch immer in ihm den Nachkommen eines Bäckers sah, wenn nicht zu compromittiren, doch necken und in Schach halten zu können … Er glaubte nicht, daß der Räuber schriftlich diese und ähnliche Namen angeben würde … Deshalb wünschte er das persönliche Erscheinen …

Vincente's Stimme erhöhte sich jetzt seltsam … War es deshalb, weil sich die Zahl der Unglücklichen, die in den Händen der Räuber lebten, mehrte und es dem Frevel galt, daß sogar das gesalbte Haupt eines Bischofs in diese blutigen Dinge verwickelt wurde? …

Lucinde hörte, daß Grizzifalcone endlich hatte kommen wollen … Doch ließ er vorher noch den Bischof von Macerata verschwinden … Vom Besuch eines Weinbergs, zwischen den Bergen dahinreitend, war der hohe Prälat nicht wieder nach Hause gekommen. Pasqualetto hatte sich seiner als einer Geisel versichert … Im »Diario di Roma« wurde die Schuld dieses Ueberfalls allerdings nur dem Pasqualetto zugeschrieben; aber wie sehr man versicherte, daß die bewaffnete Macht ausgezogen sei, den gefangenen Prälaten zu befreien, man konnte seiner nicht habhaft werden und wollte es auch nicht – das sagte[129] sich Lucinde … In der officiellen Zeitung stand nichts von diesem geheimen Zusammenhang eines so betrübenden Vorfalls mit einem großen Staatsact der dreifachen Krone …

Nun endlich erscheint Pasqualetto. Vielleicht, um sich noch sicherer zu stellen, raubt er vom Hochzeitsfest des Fürsten Rucca noch einen der Gäste … Da unterliegt er selbst! Alle Hoffnungen sind dahin! Die Verhandlungen eines Jahres vereitelt! …

Der Stand der ganzen Frage beruhte jetzt auf dem Leben und der Freiheit zweier Gefangenen, von denen der eine ein hoher kirchlicher Würdenträger war, der andre die Kenntniß der Liste hatte …

Wäre nur diese Liste gerettet! seufzte der Fürst ... Die Gerichtspersonen hatten ausgesagt, daß sich, als man die Kleider des Erschossenen untersuchte, in den Taschen Amulete, Muttergottesbilder, geweihte Schaumünzen genug vorfanden, auch sämmtliche Briefe eines Kochs des Fürsten, der die Correspondenz geführt hatte; aber weder in den Taschen, noch in der Spelunke, wo Pasqualetto abgestiegen war, noch bei gefangenen Complicen fand sich die Liste, auf die die ganze Sehnsucht des Fürsten brannte … Nun bereuete er, den schriftlichen Verkehr durch die Post nicht vorgezogen zu haben. Nun bereuete er seine gestrige Angst, die ihn bestimmte, so eilends zu entfliehen … Wie bitter deutete er dem Cardinal an, daß dieser die Liste wahrscheinlich gestern sogleich aus der Tasche des Ermordeten selbst zu sich gesteckt hätte …

Es waren freilich nur Blicke und Flüsterworte, die[130] die in Demuth fern Stehenden nicht hörten … Lucinde verstand sie aber …

Der Cardinal nannte in allem Ernst den Zischelnden jetzt einen Hanswursten und verlangte von ihm – ja von Ihnen, Altezza! – den Bischof von Macerata heraus …

Pater Vincente hatte vom Schicksal des Bischofs mit bebendem Ton gesprochen …

Pasqualetto ist todt! rief Ceccone. Wo finden wir das gesalbte Haupt eines der frommsten Priester der Christenheit wieder! …

Und wo – wo find' ich – die von dem Pilger geschriebene Liste! fiel der ergrimmte Fürst ein …

Der Koller des Zorns ergriff den kleinen Mann zum Schlagtreffen. Wenn er den fremden Franciscanerbruder nicht um seine vorschnelle Art, hier in Rom auf Spitzbuben Pistolen abzuschießen, persönlich mishandelte, wenn er sich durch die Ankunft der Donna Lucinde hindern ließ, die Worte, die er vorhin gesprochen, zu wiederholen: »Ihr hättet eine Zofe wie diese, und wäre es auch Eure spanische Herzogin selbst gewesen, zehnmal sollen zum Teufel fahren lassen –! Wo in aller Welt ergreifen hier Mönche die Waffen!« so war es, weil er wiederholt von Hubertus verlangte, daß dieser seine Uebereilung durch eine That voll Muth, Entschlossenheit und Discretion wieder gut machen sollte …

Hubertus stand erwartungsvoll und im höchsten Grade bereit dazu …

»Wie soll ich es?« fragte nur über die näheren Einzelheiten statt seiner Lucinde …[131]

Sie hörte jetzt noch mehr von jenem Pilger … Hubertus hatte erklärt, diesen Pilger zu kennen … Unfehlbar müsse es derselbe gewesen sein, mit dem er über die Apenninen geklettert und zuerst beim Besuch der »heiligen Orte« des Sanct-Franciscus auf der Penna della Vernia zusammengetroffen war … Das Leben dieses Pilgers hing ohne Zweifel von einem Haar ab, falls er noch unter den Räubern geblieben war und unter den Zollbedienten die Kunde seiner Beihülfe zum Verrath sich verbreitete, die Kunde seines vielleicht abschriftlichen Besitzes der Liste … Hubertus hatte schon so viel von diesem Pilger erzählt, daß Lucinde begreifen konnte, warum auch Pater Vincente lebhaft für ihn eingenommen schien und einmal über das andere das Schicksal des armen Gefangenen beklagte …

Lucinde hörte das Gepolter des Fürsten … Sie hörte, was sie übersetzen sollte … Die Schilderung der unzugänglichen Schluchten am Meer, wo Pasqualetto zu hausen pflegte … Die Schilderung der List und Verschlagenheit, mit der man allein sich diesen eigenthümlich organisirten Banden zu nähern vermochte … Die Schilderung der Ehren und Auszeichnungen, die den Pilger hier in Rom erwarten sollten, wenn ihn Hubertus glücklich auffände und über die Gebirge brächte … Sie übersetzte eine wiederholte Aufforderung des Fürsten an Hubertus … Reiset nach der Gegend von Porto d'Ascoli! Sucht, da Ihr muthig und unerschrocken seid, das Gefängniß des Bischofs von Macerata und des Pilgers von Loretto! Alle Briefe, die Pasqualetto seit Monaten schon mit mir wechselt, sind von diesem frommen[132] Mann geschrieben, den die Räuber zu diesem Behuf gewiß in den unwegsamsten Höhlen verborgen halten …

Ceccone ergänzte:

Der Bischof von Macerata ist ein Greis – …

Der Bischof von Macerata ist ein Greis, sagen Seine Eminenz – fuhr Lucinde fort … Aber mit allen Fähigkeiten der Jugend ausgestattet, setzen Seine Hoheit, den Pilger meinend, hinzu … Seine Briefe – der Cardinal meinen die Klagen des armen Bischofs – sind gewandt und in jeder Beziehung vollkommen, meinen Seine Hoheit – Beide sprechen zu Euch: Kann eine fromme Seele dulden, daß die Mittel, die den Stellvertreter Christi auf Erden in seiner nothwendigen Würde erhalten sollen, durch Schurken, ungetreue Haushalter, Judasse verkürzt werden? … O hätt' ich das Verzeichniß, spricht der Fürst, das dieser Mann unter den Flinten der Räuber schreiben mußte! Oder könnte den Pilger, wenn Ihr ihn findet, Eure Entschlossenheit überreden, Euch die vorzüglichsten Namen zu nennen, die auf diesem Papier zur Schande der Christenheit glänzten! Die Namen von Herzögen und Excellenzen behält man doch wol –! … Ich will ihm hier in Rom die glänzendste Wohnung einrichten, will ihn schadlos für alles halten, was er erduldete! … Suchtet Ihr den Pilger und – den Bischof, sagen der Cardinal, so würdet Ihr eine Krone mehr im Himmel gewinnen! Ich fahre sofort, sagen Seine Hoheit, nach Santa-Maria und werfe mich dem Pater Campistrano zu Füßen, um Eure Verzeihung, Eure Freiheit zu gewinnen, damit Ihr einen Zweck vollführt,[133] der Euch in jeder Beziehung den Dank der Christenheit erwerben wird! …

Hubertus übersah jetzt in voller Klarheit das an ihn gestellte schwierige, lebensgefährliche Begehren …

Aber seine Bereitwilligkeit, einer so ehrenvollen, wenn auch den Tod – und nicht allein von Räuberhand – drohenden Aufgabe sich zu unterziehen, gab sich mit der ihm eigenen Liebe zu Abenteuern um so mehr kund, als ihm die Ueberzeugung innewohnte von einer Identität des Pilgers mit jenem Deutschen, den er trotz seiner Ketzerei auf der Reise nach Rom liebgewonnen … Zuletzt konnte er hoffen, durch solche Dienste, die er dem Heiligen Vater leistete, auch für seine Wünsche über die Person Wenzel's von Terschka ins Reine zu kommen … Hatte er bei seinem General die Freiheit gewonnen, so wollte er unerschrocken seine desfallsigen Wünsche vortragen, ehe er die Reise antrat … Das Vertrauen, heil und gesund nach Rom zurückzukehren, besaß er vollauf …

Jetzt ergänzte mit verklärten Augen Pater Vincente seine Mittheilungen … Alles, was Hubertus erzählt und Lucinde übersetzt hatte, traf auf die Erinnerungen zu, die Pater Vincente vom Bruder Federigo zu Castellungo hatte … Auch Lucinde kannte ja diesen Deutschen, bei dem Porzia Biancchi sich die Fähigkeit erworben, sich als Müllerin Hedemann in Witoborn mit ihren deutschen Mägden verständlich zu machen … Endlich sprach sogar zu ihrem höchsten Erstaunen der Cardinal:

Gelobt sei unsere gute Mutter Kirche! Diesem Pasqualetto verdanken wir, wie es scheint, mehr als einen[134] großen Gewinn! Nicht daß ich Hoffnung habe, Eure Hoheit in den Stand gesetzt sehen, Ihre Klagen über die Diener der Gerechtigkeit und unsere Subalternen bestätigt zu erhalten – ich würde nur auf die Aussagen eines Räubers am Fuß des Schaffots, nicht auf die Lügen eines Bösewichts etwas geben, der sich mit lächerlichen Hoffnungen schmeichelte, ja noch als Bürgermeister von Ascoli ein Leben der Achtung führen zu können wähnte –; aber darin hat er uns einen großen Gewinn verschafft, daß er den edeln Söhnen des heiligen Dominicus Gelegenheit gibt, die Milde zu beweisen, die sie gegen Ketzer schon zu lange ausüben! … Signora, Sie fragten mich vor kurzem nach den Streitigkeiten des Bischofs von Robillante? … Hören Sie, was eintreffen muß! … Wenn der apostolische Eifer des Herrn von Asselyn sein neues Vaterland beschuldigt, daß Ungläubige hier spurlos in den Kerkern der Inquisition verschwinden können – so erleben wir die glänzendste Genugthuung! Frommer Bruder, rettet den Bischof von Macerata! Wagt Euch in die Klüfte, wo diese Räuber hausen! Rettet aber auch diesen Pilger! Gebt den Beweis, daß dieser Flüchtling, den von uns die sardinische Regierung reclamirt, den die Gesandtschaften Englands, Schwedens, der Niederlande, Preußens in den Händen der Dominicaner vermuthen, in keinem heiligen Inquisitionsofficium, weder sonstwo, noch hier in Rom, festgehalten wird! Er ist gefangen! Ja! Aber von Räubern! Er muß, auf den Tod bedroht, diesen die Beförderung der öffentlichen Wohlfahrt erleichtern, wodurch ihm Verzeihung werden könnte für die viele Mühe und Sorge, die uns bereits[135] die Nachfragen nach dem Verschollenen nicht blos von Castellungo und Robillante aus, sondern von Turin, London, Berlin und Wien gemacht haben! Fefelotti wird mir, so wenig er es sonst um mich verdient hat, dankbar sein, wenn ich ihm den Beweis an die Hand liefere, daß nichts mehr im Wege steht, sich mit seinem feuerköpfigen Nachbar zu versöhnen! Guter Bruder! Ihr seid von einem Blut, das Euch zu leicht in Euern schönen Kopf steigt! Wandert getrost, wandert immerhin! Leiht dem Vorschlag eines Eurer drolligen Ohren! Laßt für Euch in Santa-Maria Seine Hoheit jenen Fußfall thun! Euch wird es Segen bringen und einem so vornehmen Mann, wie ihm, nichts schaden! …

Ceccone hatte sich lächelnd erhoben und schüttelte Hubertus, dessen Augen vom Feuer seines Unternehmungseifers blitzten, die Hand … Dieser küßte die seinige voll Demuth … Pater Vincente stand aufhorchend und feierlich … Lucinde staunte des Zusammenhangs aller dieser seltsamen Unternehmungen … Nur der alte Rucca zweifelte – Ceccone schien ihm auf alle Fälle eine doppelte, ihm wahrscheinlich nur feindliche Rolle zu spielen …

In diesem Augenblick hörte man in der Ferne das Läuten einer kleinen Handglocke …

Das Glöcklein der Benfratellen! sagte der Cardinal. Sie kommen mit der Tragbahre, den zweiten unsrer tapfern deutschen Lanzknechte des Heilands abzuholen! … Frater Hubertus, gebt ihm vorläufig das Geleite; grüßt Euern Guardian in San-Pietro und dann – ans Werk! Ihr seid, bei Sanct-Peter, der rechte Mann für diese Aufgabe, die ich Niemand in Rom so gut wie Euch anzuvertrauen[136] wüßte … Ihr aber, Pater Vincente, wandte sich Ceccone ehrerbietig zu diesem; – die junge Fürstin Rucca hatte gestern das dringendste Verlangen nach Euerm Segen … Ich hoffe, Euer Kloster wird mit dem Thier nicht unzufrieden sein, das, statt Eines Sackes, Euch jetzt zwei zu tragen draußen empfangen soll! … Die Zeiten müssen wiederkehren, wo unsere rothen Hüte auf die Stirn von Priestern gedrückt werden, die dem Volk das Schauspiel der Demuth geben … Laßt mir die Ehre, den rothen Zaum von einem meiner Rosse zu nehmen und den Esel zu schmücken, den Eure Hand durch die Straßen Roms führen wird! …

Dies war keine jener südländischen Artigkeiten, nach denen der Spanier sein eigenes Haus demjenigen anbietet, der dessen Lage reizend findet; es versteht sich von selbst, daß das Anerbieten abgelehnt wird … Bei Pater Vincente lag in der That eine Bezüglichkeit des Ernstes nahe. Er durfte voll Erröthen und mit Nachdruck die angebotene Auszeichnung ablehnen …

Grüßen Sie die junge Fürstin, sprach er leise zum Cardinal, und sagen Sie ihr, daß ich oft für das Heil ihres neuen Bundes beten werde …

Er faltete die Hände … Das Glöcklein der Benfratellen erklang düster und traurig … Vincente's Auge erhob sich, wie von einem sanften Liebesstrahl entzündet … Die beiden so weltlichgesinnten Männer mußten erleben, daß Pater Vincente sie zum Beten zwang … Ecce, Domine, sprach er mit dem Psalmisten in einer eigenthümlich erhöhten Stimmung, tu cognovisti omnia, novissima et antiqua! Quo ibo a Spiritu tuo? Et quo[137] a facie tua fugiam? Si ascendero in coelum, tu illic es! Si descendero in infernum, ades! Vide, si via iniquitatis in me est et deduc me in viam aeternam! Amen! …

Es war ein Gebet wie die Sühne für die sündhafte Weltlichkeit aller dieser Verhandlungen …

Vincente's Augen blieben gehoben wie mit der Bitte, ein Strafgericht des Himmels abzuwenden … Der Geist Bartolomeo's von Saluzzo, der Geist des Philippo Neri schien über ihn gekommen … Sein schöner, weicher Mund betonte scharf die Worte: »Via iniquitatis!« … Er richtete damit die Falschheit und Unreinheit dieser Welt und schüttelte fast den Staub von seinen Füßen, als er dann Hubertus' Hand ergriff und ihn fast fortführte, als würde ihm eine Seele abwendig gemacht, die ihm anvertraut war …

Bei alledem blieb es entschieden, daß der Fürst zum General der Franciscaner fuhr und diesen unternehmenden Mönch sich auserbat, der den Grizzifalcone getödtet hatte und nichtsdestoweniger den Muth besaß, noch den Bischof von Macerata und den Pilger von Loretto retten zu wollen … In dem Muth, der zu einer solchen Unternehmung gehörte, lag allein schon die Bürgschaft des Erfolgs … Dem Italiener imponirt jede Kühnheit … Bald mußten über den »Bruder Todtenkopf in der braunen Kutte« Sagen hinausgehen – märchenhaft und wie ein entwaffnender Schrecken …

Ceccone starrte mehr noch dem Pater Vincente … Ist das Papst Sixtus V., der sich als Cardinal solange unbedeutend stellte, bis er als Papst die Maske[138] abwarf? dachte er … Nun sah er sogar den alten Heuchler, den Fürsten Rucca, beim Abschied an der Villa den Strick des Paters ergreifen, diesen küssen, dann sogar niederknieen, Hubertus und Lucinden gleichfalls, alle um den Segen des begeisterten Sprechers zu empfangen …

Diesen Segen ertheilte Pater Vincente mit dem verzückten Liebesblick des Sanct-Franciscus …

Die Jesuiten haben ihren Popanz für den Stuhl der Apostel gefunden! sagte sich Ceccone … Er blickte staunend den beiden Mönchen nach, die sich jetzt empfahlen, begleitet von dem alten, gleich einem Aal sich bis in die Villa windenden Fürsten Rucca …

Das Glöcklein der Benfratellen tönte draußen fort, und fort …

Miracolo! rief Ceccone Lucinden zu und pries galant die Dienste, die sie geleistet …

Lucinde stand gedankenverloren … Sie sah nun die Gefahren, die den Bischof von Castellungo umgaben …

Der Cardinal konnte jetzt sich nicht weiter aussprechen … Die »Caudatarien«, die ihn an eine Sitzung im Vatican und die Anwesenheit seines Secretärs zu erinnern hatten, standen harrend in der Nähe …

Ceccone plauderte, wie gleichgültig, von der heutigen Speisestunde im Palazzo Rucca und seufzte über seine Sorgen … Eine »Hochzeitsreise« hatte Olympia abgelehnt. Sie feierte ihren »Lendemain« nach italischer Sitte ... Vor hunderttausend Zeugen … Heute Abend sollten zwei Musikchöre die halbe Nacht hindurch am »Pasquino«[139] spielen … Große Feuerbecken beleuchteten dann den Platz … Fässer, mit Reisholz gefüllt, Pechkränze wurden abgebrannt … Der Volksjubel sollte nicht enden …

Der Fürst war in der That schon nach Santa-Maria zum General der Franciscaner gefahren …

Die Benfratellen befanden sich im Nebenbau, um den Pater Sebastus zu holen …

Pater Vincente leitete das bequemere Heraustragen …

Hubertus suchte noch einen Moment Lucinden beizukommen, der sich eben Bischof Camuzzi genähert hatte …

Lucinde verbeugte sich ausweichend dem Priester, der sie gestern eine »Creolin« genannt, und versicherte Hubertus, soweit es in der Eile ging, daß er sich aus seiner Haft als entlassen betrachten dürfte. Den Brief an Bonaventura gab sie darum nicht zurück … Eine Gelegenheit, sich dem Bischof in Erinnerung zu bringen, behielt sie fest … Und konnte sie ihm doch auch jetzt Aufklärungen und Warnungen über den Bruder Federigo schreiben … Sie forderte Hubertus auf, sie erst noch im Palazzo Rucca zu besuchen, wenn er wirklich den Bischof von Macerata und den Pilger entdecken und befreien gehen wollte … Ihr unternehmt das Kühnste und doch thut ihr, als rieth ich in Witoborn gut, als ich damals sagte: Flieht in einen hohlen Baumstamm? fragte sie lächelnd …

Hubertus, der unruhige Waldbruder, hätte die endlich errungene Freiheit des Wanderns und des Lebens wieder in freier Luft laut ausjubeln mögen … Ohne die[140] mindeste Furcht bejahte er und zeigte nur traurig auf den verdeckten Tragkorb, den eben die schwarzen Söhne des heiligen »Johannes von Gott« aus dem Hause brachten …

Lucinde zuckte bedauerlich die Achseln und neigte sich auch diesen Mönchen …

Der Cardinal sprengte in seinem Wagen mit den weißen, purpurgeschirrten Rossen zur Porta Laterana hin … Die »Caudatarien« fuhren in einem zweiten Wagen … In einem dritten mußte Monsignore Camuzzi, Bischof in partibus, der erste Secretär des Cardinals, folgen …

Lucinde wartete, bis das Glöcklein der Benfratellen verklungen war … Hinter dem verdeckten Korbe, der ebenso eilends dahingetragen wurde, wie Klingsohr in letzter, Nacht die Leiche hatte tragen sehen, trottete der vorher erwähnte, von Ceccone's Majorduomo besorgte Esel mit den zwei mächtig gefüllten Säcken … Pater Vincente schritt mit demüthig gesenktem Haupt und hielt den Esel an einem einfachen Zügel … Hubertus hatte einen Jasminblütenzweig am Portal der Villa gebrochen und wehrte damit, gedankenvoll in sich selbst verloren, dem Thier die Fliegen ab …

Nun setzte Lucinde sich in ihren Wagen und fuhr mit blitzschneller Eile an dem unheimlichen Tragkorb und dem Esel vorüber …

Unter dem weißen ausgespannten Leintuch des Korbes lag Klingsohr –! …

Sie schauderte – als sie im Vorüberfahren wie auf ein Leichentuch blinzelte …[141]

Der Wagen fuhr am Coliseum vorüber, durch den Bogen des Titus, die Basilika entlang … Der Kutscher ließ das Capitol links und lenkte zur Säule des Trajan …

Lucinde lebte innenwärts … Sie merkte nicht, daß sie schon an Piazza Sciarra, dicht in der Nähe des »Schatzes der guten Werke« war …

Hier hielt der Wagen …

Der Kutscher blickte sich fragend um, ob sie nicht zur Herzogin von Amarillas wollte, die hier wohnte …

Sie winkte: Weiter! Weiter! …

Sie mußte zu Olympien …

Die höchste Zeit war es, diese nach ihrer Brautnacht zu begrüßen …

Sie durfte nicht fehlen zur Chocolade, die heute das junge Paar allen Gästen, die ihre Aufwartung machten und die Neuverbundenen mit lächelnder Zweideutigkeit nach ihrem Befinden fragten, in goldenen und silbernen Tassen mit eigner Hand zu credenzen hatte.

1

Thatsache.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 8, Leipzig 1860, S. 84-142.
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