9.

[309] Unterweges hatte Benno ein Misgeschick mit seinem Pferde … Er mußte dem Thier, das sich den Fuß verstauchte, mitten auf der Heide, in einer Schäferhütte der Campagna, einige Stunden Ruhe gönnen …

So war es schon spät Nachmittag, fast Abend geworden, als er in Rom ankam …

Er mußte sogleich das kranke Pferd in Palazzo Rucca den Leuten des alten Fürsten übergeben …

Dann eilte er in seine Wohnung …

Sein Zustand war der der Verzweiflung … Für morgen erwartete ihn die junge Fürstin auf Villa Rucca … Zu gleicher Zeit mahnten ihn die Freunde der Gebrüder Bandiera … Nicht umsonst war er in die Kreise der Revolution getreten … Unsichtbare Geister nicht nur, nicht nur die Stimmen seines Innern, sondern wirkliche Personen, die ihn beobachteten, ihn vielleicht richteten, verlangten eine Entscheidung ...

Todt blickte ihn die »Stadt der Städte« an … Nur Opfer des geistigen Despotismus sah er überall … Jeder Abbate, der an ihm vorüberhuschte, lächelte[310] ihm wie mit geheimem Hohn … Die Menschen gingen und kamen so gedankenlos und leer … Die Trümmer des Alterthums waren ihm mehr denn je nur Gräberstätten – und was war – die lebendige Gegenwart? Aus Gebetbüchern an den Schaufenstern der Buchläden sprach sie …

Es war fast Abend … Er fürchtete sich, zur Mutter zu gehen … Die Scham, eingestehen zu müssen, wie weit er mit Olympien gekommen, hielt ihn zurück … Aber dennoch, dennoch mußte er nach einer Trennung von mehreren Tagen sie begrüßen, mußte um die auffallenden Mahnungen Bertinazzi's nähere Erkundigungen einziehen …

Er nahm ein leichtes Mahl in der Nähe des Corso …

Im Winter besuchte er, um den Kaffee zu trinken, öfters das Café Greco … Sonst setzte er sich gern zu den deutschen Malern, die im Café Greco hausen … Aber auch hier war es ihm jetzt nur unheimlich geworden … Die Monotonie klappernder Dominosteine, das Rascheln der Tassen auf den schmuzigen Marmorplatten der Tische, die rauhen Kellnerstimmen, die in den lächerlichsten Tonschwingungen Erfrischungen, die aus der Küche herausgebracht werden sollen, ausschreien, die phantastisch aufgeputzten Bettler an der Schwelle, die sich als Modelle vermiethen zu jener unwahren Welt, die die Romantik der Maler noch immer in ihren Ateliers mit südlichen Staffagen gruppirt, während Italien diese Trachten und Sitten naturwüchsig nur noch an wenig Stellen bewahrt hat – vollends die Künstler selbst konnte Benno[311] schon lange nicht mehr sehen, ohne auch sie der Fortpflanzung jener lügenhaften Zauber anzuklagen, mit denen Rom die Welt gefangen hält … Die Akademie sage ihnen schon, was sie allein hier finden sollten … Selten, daß sich eine Urkraft gegen die Tradition erhöbe und von Rom nicht blos Lehren, sondern auch Warnungen mitnähme … »Eine phrasenhafte Welt, in die ich alle diese Künstler verstrickt gefunden habe! Klingsohr – das wäre ihr Mann! Klingsohr müßte auch hier mit der Cigarre sitzen und orakeln!« …

Benno begab sich, da er auf den Monte Pincio wollte, in ein Café am Spanischen Platz … Da konnte er eine deutsche Buchhandlung übersehen, besucht von ab- und zukommenden Geistlichen, die sich nur Schriften kauften, die in Wien, München, Regensburg, Münster und Köln erscheinen … Er sah die augsburger »Allgemeine Zeitung«, auf die ihn der Staatskanzler angewiesen hatte … Er fand in allem Deutschen nur noch die Spuren Klingsohr's … Es war ihm jener fortgesetzte Vatermord, dessen dieser sich fast in Wirklichkeit schuldig gemacht hatte … Er sah in Deutschland überall vom hohen Roß der gelehrten doctrinären Anmaßung die grünen Saaten der Neubildungen im Geistesleben der Völker zertreten und was gab den geheimen Druck der Sporen? Das egoistische Interesse der Fürsten, des Adels, der Geistlichkeit … Die Bewegung um den »Trierschen Rock« hatte immer mehr um sich gegriffen … Die »Allgemeine Zeitung« verrieth ihm, wie selbst nach Witoborn die Bewegung hinüberzuckte … Er dachte an Monika, Ulrich von Hülleshoven, Hedemann …[312] An Gräfin Erdmuthe und – ihre apokalyptischen Bilder über Rom …

Es gibt Naturen, die vom Zweifel und einer Weltauffassung der Ironie in überraschender Plötzlichkeit zu einer Leidenschaft überspringen können, die an ihnen völlig unvermittelt erscheint … Es gibt Naturen, die jede Voraussetzung, die sogar nur von ihrer Besonnenheit gehegt werden durfte, plötzlich durch die thörichtsten Handlungen Lügen strafen …

Die Umstände hatten Benno aus der Bahn des heimatlichen Lebens und Denkens hinausgeworfen …

Jene Courierreise, von den Umständen so harmlos geboten, gab ihm den Anstoß zu einer immer mehr um sich greifenden Revolution seines Innern … Auf dem Capitol beim Gesandten seines engern Vaterlandes war er deshalb vorm Jahr kalt empfangen worden … Aber auch auf dem Venetianer Platz beim Gesandten Oesterreichs, wo er ausgezeichnet worden, erwartete man vergebens seine Wiederkunft … Durch ein zufälliges Begegniß, durch einen Antheil seines Herzens, genährt durch die Erinnerung an seine Mutter, genährt durch die Mahnung, daß römisches Blut in seinen Adern floß, hatte er sich den hervorragenden Erscheinungen des »Jungen Italien« genähert – … Schon hatte man ihm mehr Vertrauen geschenkt, als er begehrte und als vielleicht von andern gutgeheißen wurde … Und dennoch lebte er in vertraulichster Beziehung zu Menschen, die er haßte und die er aus Grund der Seele hätte meiden sollen … Diese Gegensätze unterwühlten seine Ruhe, brachen seinen Muth … Auf seinem Antlitz fühlte er[313] eine brennende Maske, ein Mal der Scham … Sein Glaubensbekenntniß des Sichergebenmüssens in Lagen, in die uns die Laune des Zufalls gestellt hätte, war dahin … Nimm Partei! riefen ihm geheimnißvolle innere Stimmen schon seit jener Stunde, als sich ihm die Mutter in Wien in der ganzen Einseitigkeit ihrer Nationalität offenbart hatte … Als er dann Italien selbst gesehen, als er auch Bonaventura in so wunderbarer Schnelligkeit auf den gleichen Boden verpflanzt gefunden, da führten die gemeinschaftlichen Anschauungen, die übereinstimmenden Ergebnisse des Nachdenkens beide auf die feste Ueberzeugung, daß nur in Italien und vorzugsweise aus der römischen Frage heraus die Entscheidung der weltgeschichtlichen Schicksale Europas zu suchen wäre …

»Die Zeit deiner großen Revolutionen«, hatte Benno noch vor kurzem an den Onkel Dechanten geschrieben, »ist näher, als Du in Deinem friedlichen Asyle ahnst! … Die Frage, um die sich Beda Hunnius so erhitzt, die Frage eines Bruchs der deutschen Kirche mit Rom ist nur ein Symptom … Rom und die große Sache der Geistesfreiheit können zu ihrem Abschluß nur durch die politischen Schicksale Italiens kommen … Wird der Schemel der irdischen Macht dem Stellvertreter Christi unter den Füßen weggerissen, dann kann ihm nichts mehr von seinen alten, auch den geistigen Druck der Welt unterstützenden Machtansprüchen bleiben … Eine Weile wird er sich noch Patriarch von Rom nennen dürfen; aber jede neue Phase der Geschichte nimmt ihm eine Würde nach der andern … Damit bricht der[314] Bau der Hierarchie und das schon halbvollendete Werk der Jesuiten zusammen« …

Ob auch der Katholicismus? …

Benno hatte seinen zwischen Katholicismus und Protestantismus in der Mitte gehenden Standpunkt offen dargelegt … Er hatte dem Onkel geschrieben:

»Ich glaube nicht an die propagandistische Kraft des protestantischen Geistes; ich zweifle sogar an dem entscheidenden Ausschlag, den die Völker der germanischen Zunge überhaupt noch der Geschichte geben … Das germanische Mutterland ist in zwei Hälften gespalten: Oesterreich hat die Gedankengänge der romanischen Welt angenommen; Preußen hat die kühne Neugestaltung Friedrich's des Großen nicht zu verfolgen gewagt … Die germanische Welt wäre nur insofern kraftvoll, als ausschließlich mit ihr der Protestantismus geht … Eine durch Oesterreich vertretene germanische Welt ist keine oder der Name Deutschland wird zum Schrecken jeder Nation, die ihre Freiheit anstrebt … Nun aber lieb' ich Deutschland, liebe seine Bildung, anerkenne seinen Beruf … So seh' ich keine Hülfe, die ihm geboten werden kann, als den Untergang Roms, die Zertrümmerung derjenigen Bestandtheile der katholischen Kirche, die uns Katholiken von einer engern Gemeinschaft mit den Protestanten trennen … Ein gestürztes Papstthum wird Deutschland einigen; ein frei gewordenes Italien wird Oesterreich erinnern, wo Kaiser Joseph die Kraft des Kaiserstaates suchte – in einer Fortsetzung des Fridericianischen Zeitalters der Preußen … Gibt es einen Katholicismus ohne den Papst? … Das ist die große Frage[315] der Befreiung der Gewissen … Und wird sie in dem Sinne beantwortet, daß Rom aufhört, die Metropole der katholischen Kirche zu sein, was kann, das ist die zweite Frage, von ihrem Leben zurückbleiben, um die Schranken zwischen ihr und den Protestanten niederzureißen? … Bonaventura will die Bibel und eine geläuterte Messe … Es sind seine täglichen Gedanken – sie erfüllen ihn ganz … Ich selbst besitze zu wenig das Bedürfniß des – Cultus, um darüber ein Urtheil zu haben« …

Benno fand die Mutter nicht daheim … Marco, der ihn bei jedem Besuch mit größerm Befremden musterte, versicherte, er würde sie beim Kloster der »Lebendigbegrabenen« oder vielleicht jenseits der Tiber finden … Sie hätte Sancta Cäcilia, der heiligen Sangesmuse, ihrer alten Schutzpatronin, »der sie so vieles Gute dankte«, ihre Verehrung bezeugen wollen … Von bedenklichen Vorfällen meldete Marco nichts … Der Advocat Bertinazzi hatte in der That zweimal anfragen lassen …

Was ist Religion! sagte sich Benno – als er sich auf den Weg machte zu den »Lebendigbegrabenen« … Bei ihnen war heute die Mumie ausgestellt … Die Menschen standen noch bis auf die Straße hinaus und jeder hatte dem gläsernen Kasten ein Leiden vorzutragen … Starr hing das braune Schreckbild der Eusebia Recanati an seinen goldenen Klammern … Die Menschen berührten den Glasschrank und erwarteten Hülfe … Selbst aus der Zahl der Falten ihrer Kleider suchten sie sich die Nummern – die sie für die nächste Tombola setzen wollten! … Die Masse ist unverbesserlich! sagte sich Benno …[316] Die Eingeweide der Vögel oder die Gewänder einer Mumie – gleichviel! Auch in der protestantischen Kirche läßt die Hebamme unter dem Kissen des Täuflings die Nabelschnur der Gebärerin mittaufen –! … Nur auf die Vertheilung der Herrschaft kommt es an, nur darauf, was im Gesetz den Vorzug hat, die Vernunft oder die getaufte Nabelschnur – Alles andere macht die Strömung der Luft, der Wind, das ansteckende Beispiel – Ohne den Widerstand der Priester und der Doctrinäre könnte der Deutschkatholicismus sogar den Rationalismus zu einer Art von Mystik erheben, deren die Menschheit nicht scheint entbehren zu können …

Weder vor der Kirche, noch im Kloster bei Olympiens Mutter fand sich die Herzogin … Equipagen gab es genug; keine mit dem Wappen des Marquis Don Albufera de Heñares, Herzogs von Amarillas, ein Wappen, das der Miethkutscher auf seine Wägen zu setzen gestattet hatte … Benno wollte nach Sancta Cäcilia, zu welcher Kirche gleichfalls ein Kloster gehörte …

Es war nun in den Straßen dunkel geworden, obgleich die Abendröthe noch schimmerte … Das Volksgewühl begann in dieser Gegend wie täglich bei Untergang der Sonne … Da wogten die Menschen durcheinander, da erscholl jener Lärm des Südens – um ein Nichts, um ein Paar alte Schuhe, um Schwefelfaden, um etwas Wasser mit einem Stückchen Eis … Immer glaubt man, ein Kauffahrteischiff wäre eben angekommen und lüde die Schätze beider Indien aus … Schon dampften Maccaroni in den auf offener Straße errichteten Küchen … Fische wurden gesotten in Pfannen,[317] über die – wende dich ab, deutscher Geschmack! – der aufgekrämpte rothnackte Arm der Volksköchin die Oelflasche gießt … So mancher Arbeiter hält jetzt erst sein Mittagsmahl auf Piazza Navona … Die Fleischerbuden bieten noch feil … Seltsam geformt und fast an die alten Arenen erinnernd sind die zertheilten Stücke, an denen die Knochen mehr als bei uns zurückbleiben … »Unsere Sitten das und unsere Sitten sind gut!« – liegt auf den Mienen dieser schreienden, singenden, schmausenden – dann auch dazwischen wieder betenden Welt – … Die Thüren der erleuchteten Kirche Santa Agnese stehen weit offen … Auf ihren Stufen im herausströmenden Weihrauchduft lagert sich in bequemster Behaglichkeit das südliche Abendleben …

Vorüber am Pasquino – am Palazzo Rucca – am Ufficio delle SS. Reliquie e dei Catacombe, wo Cardinal Ambrosi wohnt …

Benno stand schon zu mehreren malen an dem grauen spanischen Gebäude mit den vergitterten Fenstern … Er dachte: Da hinten im düstern Hofe wohnt ein Mensch, der ein Geheimniß ist! … Bonaventura erfuhr sein Leben von mir … Er floh vor einem Sektirer – hatte die Mutter erzählt … Und doch soll er mit Fra Federigo im Einverständniß leben? …

So bilden sich die Sagen, so verknüpft der Volksglaube … Das Volk kann das Seltene sich nicht denken ohne unmittelbare Beziehung zu Gott; das Edle kann ihm nie ohne Wunder sein; zwei große Menschen können ihm nicht ohne das Band des Einverständnisses leben – … Dieser einfache, ascetische Mönch erhielt eine Geschichte,[318] von der er schwerlich selbst eine Ahnung hatte … Benno mußte auf den Beistand auch dieses Cardinals rechnen, wenn Bonaventura in Rom erscheinen sollte … Eine Regung der Dankbarkeit für Fra Federigo ließ sich bei ihm voraussetzen …

Und Fra Federigo selbst! … Benno's eigene Erinnerungen trugen von Friedrich von Asselyn kein Bild … Nur aus Bonaventura's Charakter, nur aus dem Bestreben seines Vaters, für die Welt seinem Weibe zu Liebe ein Gestorbener sein zu wollen, konnte er sich die Züge erklären, die allgemein von jenem Einsiedler unter dem Laubdach eines waldensischen Eichenhains erzählt wurden … Von Gräfin Erdmuthe wußte er, daß sie eines Tags vor längern Jahren aus einem waldensischen Gottesdienst zu Fuß nach Hause kam, mit einem ihrer Diener auf dem Heimweg deutsch sprach und darüber von einem Mann angeredet wurde, der hinter ihr her ging, sich als Deutscher zu erkennen gab, auf einer Fußwanderung nach den Seealpen begriffen zu sein erklärte und durch Zufall jener Predigt beigewohnt hatte, die ein Geistlicher gehalten, der keinen katholischen Ornat trug … Der Fremdling konnte diese fast altlutherischen Sitten des Gottesdienstes nicht unterbringen und ließ sich über die Waldenser von einer Dame unterrichten, in der er mit Ueberraschung einer geborenen Freiin Hardenberg, aus altem norddeutschen Geschlecht, begegnete … Ihm selbst, sagte er, wären die Gedichte eines Hardenberg (Novalis) von größter Anregung gewesen … Dann – bei einer Kapelle – zur »besten Maria«, an der sie vorüber mußten – bekannte er sich der über die Anerkennung eines[319] Verwandten freudigerregten Frau zwar als Katholiken, sagte aber: Was hat wol Ihr frühvollendeter Vetter unter jener Maria verstanden, die er zum Anstoß der Seinen so oft besang! Doch wol nur Sophia von Kühn, die er liebte und die ihm starb, noch ehe sie die Seine geworden! So wird unser eigenes Leben zuletzt die lauterste Quelle unserer Religion … Hardenberg-Novalis sang, fuhr er fort:


»Wenn alle untreu werden,

So bleib' ich dir doch treu –!«


Er sang es in so persönlicher Freundschaft für den Erlöser, daß ich diesem Lied mein Glaubensbekenntniß verdanke … Die Religion muß für jeden Einzelnen sein eigenes persönliches Verhältniß zu Gott werden und die Kirche soll nur so viel dazu mitthun und mithelfen, wie ein Wächter, der ein Stelldichein der Liebe hütet! Alles andere, jede andere Einmischung in unsere innere Welt ist vom Uebel! … Die Gräfin, die ihren herrenhutischen Glauben annähernd richtig gedeutet sah, bat den Fremdling, auf Castellungo einige Tage Rast zu halten … Er zögerte anfangs, folgte aber doch, da er ermüdet und offenbar im Beginn einer Krankheit schien … Diese überfiel ihn denn auch, als er das stolze Schloß beschritten und die erste freundliche Bewirthung der Gräfin genossen hatte … Sein überreizter Zustand gab sich sogleich in einem heftigen Strom von Thränen kund, dem ein Fieberfrost und eine lange Nervenkrankheit folgte … Die Gräfin widmete ihm die größte Sorgfalt und erfüllte zugleich die Bitte, die sich in einzelnen lichten Momenten von seinen fahlen Lippen stahl, daß sie keine Nachforschungen[320] über seinen Namen und seine Herkunft anstellen sollte … Er hätte keine Verwandte mehr, wollte todt sein und bäte, ihn nicht anders als Friedrich zu nennen – Das Reich des Friedens, sagte er, find' ich nicht mehr auf dieser Erde, ich zöge gern hinüber; mir selbst aber den Tod zu geben, wäre vermessen; unsichtbare Fesseln halten mich auch noch – doch bin ich nicht mehr, was ich war – ich bin ein Todter … Die Gräfin hatte Benno erzählt, daß der Fremdling damals wenig über vierzig Jahre zählte, eine seltene Bildung besaß und mit den Lehrsätzen seiner Kirche um persönlicher Erlebnisse willen in Spannung schien … Oft hätte sie ihn für einen flüchtigen Priester gehalten … In ihn zu drängen und Namen und Stand von ihm zu begehren, widersprach ihrer Sinnesart, ja die Verehrung vor dem »Signor Federigo«, wie ihn sogleich die Schloßbewohner nannten, wuchs bei ihr zu einer so innigen Freundschaft, daß die schon gereifte Frau, damals Witwe, sein Scheiden nur mit größter Betrübniß würde erlebt haben … Er seinerseits faßte die gleiche Neigung für die edle Dame, deren religiöse Denkweise nicht ganz mit der seinigen übereinstimmte, die aber Verbindungsglieder gemeinschaftlicher Ansichten und Stimmungen bot … So knüpfte sich zwischen beiden ein seelisches Band, das aus den Erzählungen der Gräfin mehr von Benno geahnt werden konnte, als ihre Worte schilderten … Sie ließ die jedenfalls auf Friedrich von Asselyn passende Aeußerung fallen, daß der Fremdling die Wappen und Farben ihres Hauses von der ältern Linie her kannte, sie oft mit Rührung betrachtet hätte und selbst wol[321] dem Adel angehörte … Fast wie aus Furcht vor Begegnungen, die gerade auf diesem Schlosse nicht unmöglich waren, hätte der Fremde sowol den langen Bart, der ihm in seiner Krankheit gewachsen war, nicht entfernen, noch auch auf dem Schlosse selbst länger wohnen mögen … Unter dem Schutz der Gesetze, die aus aufgeklärtern Zeiten, als die unserigen, stammten und den die Gräfin so muthig wiedererobert hatte, verweilte er eine halbe Meile vom Schlosse entfernt in einem Hause, das er sich im Wald aus Baumstämmen selbst gezimmert hatte … Die Menschen der Umgegend nannten ihn »Fra Federigo« … Man rühmte seine Kenntnisse in der Heilkunde, in Sachen des Ackerbaus und der Güterbewirthschaftung … Er kannte das Recht, die Geschichte, die Lehnsverhältnisse in allen europäischen Gesetzgebungen … Anfangs ließ er sich nur mit Widerstreben von den Umwohnenden besuchen. Zuletzt, wenn die Gräfin auf längere Zeit nach Wien mußte, war sein Rath allen und ihren eigenen Verwaltern unumgänglich … Unter seiner Eiche hielt er eine Bienenzucht und nahm in dieser summenden Gesellschaft, zu der noch eine Ziege und ein Hund gehörten, immer mehr die Weise eines Eremiten an, der, geschieden von der Welt, auch sein Aeußeres nicht mehr nach den Gesetzen der Gesellschaft einrichtet … Briefe empfing er nicht; ebenso las er anfangs keine Zeitungen; später desto theilnehmender, bis er sich, diese Lectüre versagte, nur um nicht den Reiz der Rückkehr in die Welt zu mehren … An Anfechtungen durch die Geistlichen und Behörden fehlte es nicht … Seine Anspruchslosigkeit und der Schutz der Gräfin bewahrte[322] ihn vor größern Unbilden … Bis dann freilich die Jesuiten immer mächtiger und mächtiger wurden und die Eifersucht der Dominicaner reizten … Hof und Cabinet von Turin kamen in die Hände der Jesuiten … Nun begannen Verfolgungen, Einkerkerungen … Bald nach Fefelotti's Erscheinen verschwand plötzlich der inzwischen zum Greise gewordene gütige und allgeliebte Waldbewohner … Eines Morgens fand man seine Siedelei leer; seine Ziege hatte noch ihr Futter für einige Tage, ebenso sein Hund, der angebunden war … Als er losgeschnitten wurde, rannte er schnurstracks nach Coni bis in das dortige erzbischöfliche Ordinariat, wo die übrigen Gefangenen saßen … Dort wurde er festgehalten und eingesperrt … Als man ihn eines Tags losgerissen fand, behauptete man, ihn in Robillante gesehen zu haben und zwar, wie die Gräfin Benno versicherte, mit eingeklemmtem Schweif, herabhängenden Ohren, trauernd hinter einer düstern und verschlossenen Kutsche herlaufen, die von zwei Gensdarmen begleitet wurde … Die Kutsche kam aus dem Officium der Dominicaner zu San-Onofrio und fuhr der großen Straße gen Osten zu … Das Thier, sagte sie, hatte die Witterung seines Herrn und konnte ihm in seiner verschlossenen Kutsche nicht beikommen … Selbst als man später vom Auftauchen Fra Federigo's bei Loretto und unter den Räubern der Mark Ancona gehört hatte, ließ sich die Gräfin nicht nehmen, daß jene noch an einigen andern Orten auf ihrer geheimnißvollen Fahrt gesehene Kutsche ihren Freund nach Rom abgeführt hätte – eine Ansicht, die niemand mehr als Bonaventura[323] theilte – er, der sie mit einem Schmerz nachfühlte, dem Benno in Gegenwart der Gräfin nur einen unvollkommenen Ausdruck geben konnte … Benno's Ansicht: Dein Vater erfuhr deine wunderbare Ernennung zum Bischof von Robillante und floh aus eigenem Antrieb vor dir und vor dem möglichen Wiedersehen deiner Mutter und Friedrich's von Wittekind! – ließ Bonaventura in einem Augenblick gelten, im andern trat ihm wieder das Bild der verschlossenen, von Gensdarmen nach Rom geführten Kutsche wie eine Mahnung entgegen, nicht eher zu ruhen und zu rasten bis sein greiser Vater aufgefunden war …

Benno wurde aufs mächtigste von diesen Räthseln ergriffen beim Hinblick auf San-Pietro in Montorio, wo Bruder Hubertus gewohnt hatte … Er hatte die Mutter in Trastevere gesucht … Auch in Santa-Cecilia, bei den Benedictinerinnen, fand er sie nicht … Nun wollte er einen Miethwagen nehmen und nach Monte Pincio zurückfahren … Da im allerletzten Abendsonnenstrahl leuchtete so schön und verklärt, San-Pietro in Montorio auf … Wo konnte er sich bessere Kunde vom Bruder Hubertus holen, als dort oder vielleicht – bei Sebastus in Santa-Maria? … Letztern zu meiden drängte ihn alles …

Er erstieg den Hügel, auf dem die Paolinischen Wasserleitungen sich sammeln, klopfte an das Kloster, neben einer Kirche, der einst Raphael seine Transfiguration gemalt …

Von den beim Nachtimbiß sitzenden Alcantarinern kam einer an das Sprachgitter und sagte auf Benno's Fragen:

Wir wissen von dem deutschen Bruder nur, daß man ihn[324] noch in Ascoli sah … Die Leiden des Bischofs von Macerata sind im Druck erschienen und Ihr werdet sie gelesen haben … Seine Befreiung ist dem wunderthätigen Marienbild von Macerata beizuschreiben, das eines Tages spurlos verschwand1 ... Das Volk gerieth in Aufregung und beschuldigte das Kapitel von Macerata, das Bild weggeschlossen zu haben, um auf diese Art die Räuber zu zwingen, den Bischof freizulassen … In der That bemächtigte sich eine solche Unruhe der Gegend, daß die Genossen des Grizzifalcone Angst bekamen und sich herbeiließen, lieber den Bischof auf freien Fuß zu stellen … Der Heilige hat viel dulden müssen – das Marienbild ist dann wieder erschienen … Von Bruder Hubertus, der dem Domkapitel jene Hülfe angerathen hat und so ohne alle Mühe den Bischof rettete, ist seither nichts mehr vernommen worden … Wir wissen, er hat den Grizzifalcone getödtet in einer Nacht, wo wir ganz andere Dinge von ihm erwarteten … Ein Tollkopf war's … Er auch nur allein konnte sich unter Räuber begeben, deren Hauptmann er getödtet hatte … Auch von dem Pilger wißt Ihr, der dem Grizzifalcone für seine Bekehrung hat alles lesen und schreiben müssen? … Ein Franciscanerbruder sprach vor einigen Tagen bei uns vor und hat ausgesagt, man hätte den Mönch mit dem Todtenkopf und mit ihm zugleich den Pilger jenseit der Grenze in den Abruzzen gesehen …

Auf Benno's dringenderes Forschen rief der Pförtner den Guardian …[325]

Dieser kam und versicherte, beide Verschollene wären auch schon lange nicht mehr in den Abruzzen, sondern in Calabrien, wo sie ein Wallfahrer in dem schluchtenreichen Silaswalde wollte gesehen haben …

Im Silaswalde! … An der äußersten Grenze Italiens – Auf den meerumbuchteten Landzungen Neapels schon – in den ältesten Hainen der Welt von Eichen- und Kastanienbäumen – … Immer weiter und weiter rückte die Beruhigung des aufgeregten und selbst so düster bedrohten Freundes in Robillante … Würde Benno sich freier bewegt haben, er hätte sich an Ort und Stelle begeben, um nach dem geheimnißvollen Pilger zu forschen … Die Ungewißheit, der Einfall der Gebrüder Bandiera, die Furcht vor Olympia's Rache, Bangen vor den Mahnungen Bertinazzi's hielten ihn von der Ausführung dieses Vorsatzes ab …

Benno kämpfte mit sich, ob er die Mutter heute aufgeben und nicht lieber sofort zu Bertinazzi gehen sollte, den er erst morgen in erster Frühe hatte besuchen wollen …

Die volle Nacht war hereingebrochen, als Benno von San-Pietro niederstieg …

Die Einsamkeit des Weges beflügelte seinen Schritt … Schon im zweifelhaften Abendlicht sind die nächste Trümmerhaufen und Gartenmauern Roms unheimlich …

Er wandte sein Auge vom Anblick der Peterskuppel ab … Das Bild: Morgen um diese Stunde werden dort die marmornen Bilder des Vatican lebendig! machte ihm das Blut erstarren … Er kannte diesen Braccio Nuovo … Hundert lachende Priester sah er in[326] festlichen Gewändern, bei Fackel- und Kerzenschein, durch die mit den Marmorsärgen der ersten Christen geschmückten Corridore schreiten … Die Statuen der römischen Kaiser wurden lebendig und schlossen sich ihnen an … Im Saal des Braccio Nuovo schimmerten Bankettische, Vasen voll Blumen, silberne Urnen voll Eis mit dem »Bier der Franzosen«, wie Sarzana gesagt hatte; alles im glänzenden Licht, ausgeströmt von zahllosen Kerzen … Die Julien, Livien und Agrippinen der Imperatorenzeit kamen mit ihren faltenreichen Gewändern in den Saal und setzten sich zu den Zechenden … Da thront Ceccone, mit dem Rücken gelehnt an die berühmte Gruppe des Nil … Sechszehn kleine Genien kugeln sich übermüthig auf dem kolossalen Sinnbild der Ueppigkeit und Fruchtbarkeit … Der lachende Silen blickt auf den neugeborenen Bacchus dicht neben Bischof Camuzzi … Fefelotti liebäugelt mit der berühmten Statue des Demosthenes, die soviel zierliche Fältchen wirft; mehr, als ein Redner voll Natürlichkeit seiner Toga erhalten konnte, als er gegen Philipp von Macedonien donnerte … Nun trommelt die Schweizergarde … Immer neue Gäste kommen im Purpur vorgefahren und die Medusenhäupter nicken ihnen den Gruß; die Athleten erheben sich, die Isispriesterinnen verneigen sich … Olympia – läßt lachend vor Erwartung den Arm auf dem Sockel ihres Apollin ruhen – … Oder blickt sie finster wie die »verwundete Amazone« –? … Er ahnte, daß sie diesmal seiner Flucht aus Villa Torresani nicht im mindesten zürnte, sondern fest und sicher ihn für morgen erwartete …[327]

Die Qual der Entschlußlosigkeit trieb Benno dahin, wie von Furien gepeitscht …

Er kam der Tiber näher … Die Brücken, die in die innere Stadt führten, waren entlegen … Hie und da ging eine Treppe nieder, wo in einem angebundenen Kahn ein Schiffer sich streckte und auf einen Verdienst wartete … Er wollte sich übersetzen lassen …

Wie ein Träumender blickte er um sich … Hier in der Nähe sind die Spitäler … Es konnte nicht befremden, daß da und dort jene gespenstischen Gestalten der Todtenbruderschaft auftauchten … Die Begräbnisse finden des Nachts statt … Memento mori! … Benno erblickte einige dieser bald weißen, bald schwarzen Kutten in Kähnen auf dem gelblichen Strom dahingleiten …

Die Via Lungaretta schien ihm heute endlos … Er hatte übersehen, daß er die Abbiegung zur Bartolomäusbrücke schon hinter sich hatte und sich an Ponte Rotto befand, einer Gegend, wo es schwerlich Fiaker gab …

Sollte er den Besuch der Mutter für heute aufgeben? … Sollte er zu Bertinazzi gehen? …

Da schritt wieder vor ihm her ein schwarzer Todtenbruder … Er kam aus dem engen Winkelwerk der Häuser heraus und stieg eine Treppe nieder … Hier glänzte die Tiber auf … Im Abenddunkel boten die Lichter am Ufer und die in den Strom hineingebauten Mühlen einen besonders lebhaften Anblick … Eine Schar von Bettlern und Straßenjungen zeigte Benno hinter einem Gebäude den Kahn, den der Todtenbruder suchte …[328]

Es zog auch ihn zum Tode … Er musterte die stolze Haltung seines Gefährten … Oft verbargen sich unter diesem Kleide die angesehensten Nobili, wenn sie gerade die Reihe des Dienstes in der Bruderschaft ihres Viertels traf …

Benno rief dem Schiffer, ihn noch mitzunehmen und stieg die Stufen nieder …

Der schwarze Leichenbruder, eine hohe, schlanke Gestalt, hatte eben zum Abfahren winken wollen … Jetzt erst, da er noch einen Passagier sich nachkommen sah, setzte er sich …

Auf dem trüben, ungleichen, strudelreichen Bett der Tiber glitt der leichte Kahn dahin, geführt von einem jungen halbnackten Burschen, der den vom Kopf bis zum Fuß verhüllten Todtenbruder scheu betrachtete und vor Freude über die glückliche Eroberung zweier Passagiere statt eines eine Weile sprachlos blieb … Rings funkelten immer heller und zahlreicher die Lichter von den Ufern auf … Auch bei den Benfratellen drüben war Licht … Mancher Leidende mochte dort eben seinen letzten Seufzer aushauchen, mancher Genesende die Hände zum Dankgebet erheben … Die hie und da auftauchenden Sterne spiegelten sich nur matt in den trüben Wogen, auf deren Grund so tausendfach die Reste der Jahrhunderte schlummern, so mancher Fund, dessen Entdeckung das Entzücken des Forschers sein würde … Auf der Quattro-Capi-Brücke war es so lebhaft wie auf Piazza Navona … Noch stachelten verspätete Fuhrleute ihre riesigen weißen Ochsen, deren stolzgewundene Hörner nur eines Kranzes bedurften, um den Opferthieren Griechenlands zu gleichen …[329] Noch zankten Treiber mit ihren schreienden, in Italien so heißblutigen Eseln … Die Glocken läuteten … Ein solcher Abend scheint im Süden erst das Erwachen zum Leben zu sein … Kähne glitten dahin mit aufgehäuften Gemüsen und Früchten schon für den morgenden Markt … Die Ruderer mußten Acht haben; von den Tausenden von Trümmersteinen, die in dem Bett des geschichtlichsten aller Ströme ruhen, ist die Fahrt auf ihm keine ebenmäßige …

Benno, tiefermüdet, redete den Todtenbruder, von dem er nur die Augen sehen konnte, mit den Worten an:

Dieser Dienst in der Nacht hat sicher seine Beschwerlichkeit …

Der Todtenbruder antwortete nicht …

Die Römer sind sonst höflich … Benno glaubte nicht verstanden worden zu sein, wiederholte seine Worte und setzte hinzu:

Aber Sie lösen sich häufig ab? …

Der Todtenbruder zog statt der Antwort jetzt sogar seine schwarze Kopfbedeckung so, daß selbst seine feurigen Augen verdeckt blieben …

Seltsam! dachte Benno … Der Mann ist schwerlich taub … Er trägt vielleicht ein Leid wie du …

Benno schwieg und hörte auf den Schiffer, der in italienischer Gewohnheit schon für jede andere Gelegenheit sich empfahl, wo die Herrschaften vielleicht wieder die Tiber befahren wollten … Er nannte sich Felice und beschrieb seinen Vater, der den Stand an Quattro-Capi drüben hätte und der beste Schiffer von der Welt[330] wäre … Benno kannte, was man alles bei solchen Gelegenheiten in Italien zu hören bekommt; jede neue Kundschaft wird sogleich fürs Leben festgehalten …

Er war nicht in der Stimmung, die Unterhaltung mit Felice fortzuführen … Er sah auf den Todtenbruder, der vielleicht das Gelübde des Schweigens abgelegt hatte … Vielleicht war es ein Vornehmer, den sein nächtliches Amt verdroß …

Wieder glitt eine Barke mit zwei Benfratellen, die von der Bartolomäusinsel kamen, vorüber … Auch diese hatten ihre Kapuzen über den Kopf gezogen … Sie wurden von einer dritten Barke gekreuzt, die gleichfalls ein Mitglied der Todtenbruderschaft führte – in weißer Verhüllung …

Der Gedanke lag nahe, an eine große Sterblichkeit zu denken, die über Rom gekommen … Im Herbst pflegte sich seit einigen Jahren regelmäßig die Cholera einzustellen …

Felice besaß den angeborenen Scharfsinn der Italiener … Eine angeschnittene Melone, die neben dem Mantel Felice's lag, betrachtete Benno mit einem Blick, der bei so vielen Todeserinnerungen keinen Appetit danach ausdrückte und Felice las sogleich die Gedanken in der Seele seines zweiten Passagiers, denn er sagte:

Eh! … Sie kommt dies Jahr nicht wieder …

Benno wußte, was Felice meinte, mochte aber die Conversation nicht fortführen …

Felice aber im Gegentheil …

Signore, flüsterte er, als handelte sich's um einen Gegenstand der größten Discretion, ich stehe drüben bei[331] Capo di Bocca – dicht an der Apotheke … Da, wo meine Mutter die Melonen verkauft … Saftige, Herr! … Sehen Sie, versuchen Sie! … Signore! Nein, sie kommt dies Jahr nicht wieder … Die Krankheit mein' ich, Signore … Der Padrone der Apotheke hat es selbst an die Leute gesagt … Signor, bei Capo di Bocca … Rufen Sie nur immer: Felice! …

Woher weiß der Padrone der Apotheke, daß die Cholera diesmal nicht wiederkommt? fragte Benno, um dem Redestrom ein Ende zu machen …

Signore! Weil sie kein Gift mehr verkaufen dürfen … Er sagt' es gestern erst dem Wirth der Navicella … Signore, das ist das Kaffeehaus drüben, wo mich jeder findet, der nur am Ufer nach Felice – …

Gift verkaufen? Wozu Gift –? unterbrach Benno, der sich die Pein dieser Kundschaftsempfehlungen abkürzen wollte …

Haha! lachte Felice und stieß sein Ruder auf ein hartes Gestein, das – vielleicht der Torso einer Statue des Praxiteles war … Die Brunnen vergiften sie nicht mehr … Das glauben die dummen Leute … Eh –! … Die Brunnen! … Haha, Signore! … Aber machen Sie eine Partie, Herr – Nach Ceri, Herr – Ceri ist die älteste Stadt der Welt – Ich nehme meinen Bruder mit … Morgen? … Meinen Bruder Beppo …

Warum sagt ihr: He? und lacht – Was glauben die klugen Leute über die Cholera –? …

Felice machte eine Miene, als durchschaute er alle Geheimnisse der Welt …[332]

Was ist's, wenn die Apotheker kein Gift mehr verkaufen dürfen? wiederholte Benno …

Gift? … Nicht verkaufen? … Die Apotheker sagen's und die armen Leute glauben's … Aber die Reichen – die bekommen Gift, soviel sie wollen … Und die Aerzte – die brauchen's gar nicht aus der Pharmacia zu kaufen …

Die Armen? Die Reichen? Die Aerzte … Wie hängt das alles zusammen? …

Felice machte Mienen, die Benno allmählich verstand … Er ließ nur einfach die eine Hand vom Ruder los und fuhr damit hinter's Ohr mit ausgespreizten Fingern … Eine Miene, die etwa sagte: Wir sind nicht so dumm, wie wir aussehen – die Aerzte vergiften zur Zeit der Cholera auf Befehl der Reichen die Armen – … Signore – nach Ceri! fuhr Felice fort, als Benno verstanden zu haben schien und seinerseits gleichfalls eine Geberde machte, die mit südländischer Offenheit soviel sagte, als: Felice, du bist ein Esel! … Ceri ist die älteste Stadt der Welt! … Vielleicht morgen – ich nehme noch meinen andern Bruder mit – Außer Beppo noch den dritten, den Giuseppe …

Die Cholera ist also eine Krankheit, die von obenher befohlen wird! unterbrach Benno … Alle Jahre soll einmal der Staatskörper von seinem Ungeziefer gereinigt werden! Nicht so, ihr Thoren? …

Die Miene und Betonung Felice's drückte das starrste Festhalten seiner Meinung aus … Wie wenig ihm daran lag, seine Gesinnung über die Aerzte, Apotheker[333] und die Reichen in Rom geändert zu bekommen, sagte die Mahnung:

Herr, die Tiber kennen selbst die Römer noch nicht alle … Gewiß, Herr, selbst wenn Sie ein Römer sind, haben Sie noch nicht Castellana gesehen … Civita Castellana ist das Wunder der Welt … Wenn wir Morgens um vier Uhr einen Kahn nehmen, natürlich – mit Beppo, mit Giuseppe und Francesco – Francesco, Herr, ist mein vierter Bruder …

Das erzählt man allerdings aus der Cholerazeit, unterbrach Benno mit Entschiedenheit … Wer einen Feind hatte, tödtete ihn bei dieser Gelegenheit; schlechte Frauen vergifteten ihre Männer, schlechte Männer ihre Frauen, ruchlose Kinder ihre Aeltern … Im allgemeinen jammervollen Klagen und Sterben ging eine Leiche mit der andern, ohne daß man danach fragte, ob wol das Gift, an dem sie den Geist aufgeben mußten, aus der schlechten Luft oder – aus den Kellern kam, wo nur die Ratten daran sterben sollten … Sagt man nicht das? …

Diese Frage richtete Benno an den schwarzen Todtenbruder …

Fast getroffen von Benno's Worten hatte sich dieser von seinem Sitz erhoben … Vom Nachthimmel sich abzeichnend stand die Gestalt in schöner, langer, schlanker Haltung – ein Bote des Minos, ein Abgesandter des Richters aus der Unterwelt …

Benno hatte noch einmal geglaubt den Versuch machen zu sollen, den stummen Passagier zu einer Antwort zu bewegen …[334]

Der Todtenbruder sprach in der That auf seine Frage ein leises und hohles:

Man – sagt – das …

Benno horchte der Stimme und fuhr fort:

Eine entsetzliche Vorstellung, sich so feige Mörder denken zu müssen, die eine Zeit der allgemeinen Auflösung des Vertrauens, eine Zeit der Trauer benutzen, um mit gedecktem Rücken einen dann wahrscheinlich sichern Mord auszuführen …

Wieder schien der Todtenbruder von diesen Worten eigenthümlich berührt … Er schwieg, fiel nicht zustimmend ein, drückte keine Verachtung eines so feigen Mordes aus, sondern wandte sich nur ab, um durch seine kleinen Augenöffnungen auf die bald erreichte Brücke der »Vier-Häupter« zu sehen …

Als sich nun auch Benno erhob, gerieth der Kahn in ein Schwanken …

Felice spreitete rasch die Beine aus und hielt das Gleichgewicht …

Um seine ohnehin wie auf der Flucht vor dem Schmerzlichsten befindlichen Gedanken nicht zu sehr aufzuregen, fragte Benno:

Kennst du das Haus des Rienzi, Felice –? …

Im selben Augenblick sprach aber auch der Todtenbruder noch eine Antwort auf Benno's Aeußerung von vorhin …

Sie kam verspätet, kam aus der kleinen Oeffnung der Kapuze, die nur allein dem Mund und der Nase das Athmen erlaubte, dumpf und hohl …[335]

O gewiß – es gibt – genug der Falschheit – in der Welt …

Diese Worte klangen seltsam … Sie klangen wie von einem Ergrimmten … Wenigstens wurden sie durch die Zähne gesprochen …

Benno, der selbst eben gesprochen hatte, verstand nicht sogleich und fragte:

Es gibt –? sagten Sie? – …

Genug der Falschheit in der Welt! wiederholte der Todtenbruder scharf und gereizt …

Benno horchte auf … Diesen Ton der Stimme glaubte er zu kennen … Noch kürzlich, vielleicht erst gestern hatte er diese Stimme gehört … Wer ist das –? sagte er sich staunend und haftete auf einer Erinnerung an einen der bei Olympien gesehenen Gäste – Zunächst an den Fürsten Corsini – der in der That seinen Palast jenseits der Tiber hatte …

Der Todtenbruder kehrte ihm jetzt den Rücken …

Eben fuhren sie unter der Brücke Quattro-Capi hinweg …

Wo liegt das Haus des Rienzi? wiederholte Benno noch einmal, sich zu Felice wendend … Er mußte dabei dem Klang der Stimme nachdenken …

Signore, das Haus des Rienzi kenn' ich nicht, erwiderte Felice eiligst, aber ich versichere Sie, nach Civita Castellana ist es die schönste Reise von der Welt … Auch Cicero hat da gewohnt … Es geht gegen den Strom, aber wir nehmen noch meinen fünften Bruder –

Euere Brüder sind zahllos! unterbrach Benno ungeduldig … Dann nach dem Todtenbruder sich wendend, sagte[336] er: Wo hat nicht alles in Italien Cicero gewohnt! … Cicero und Virgil sind dem Italiener geläufig wie die Heiligen … Aber Cola Rienzi, euer Volkstribun, ist euch unbekannt geblieben, Felice! …

Jetzt glaubte Benno für bestimmt annehmen zu dürfen, daß der schwarze Leichenbruder unter seiner Kapuze lachte …

Es war ein Lachen des Hohns …

Prinz Corsini konnte das nicht sein … Corsini gehörte zu den Freimüthigen, aber er war in seinen Manieren höflich …

Unter dem ersten Hermenkopf der »Vierhäupterbrücke«, eines alten Römerwerks, stieg der Todtenbruder aus … Er schien voll Ungeduld die Steintreppe erwartet zu haben … Beim Abschied bot er Benno auch nicht den leisesten Gruß … Seinen kupfernen Obolus warf er dem Schiffer in die Mitte des Kahns wie ein Almosen …

Felice's Grazie Eccellenza! sagte wenig über seinen Stand …

Benno zahlte mehr, als üblich … Da durfte er sich nicht wundern, daß Felice, den er fragte, ob er den Todtenbruder kenne, behauptete, diesen nicht blos öfters, sondern alle Tage zu fahren … Er nannte ihn einen Herzog, einen Principe, »wenn er auch nur zahlte, was in der Regel« … Daß er Cardinäle fahre, offen und geheim, Principessen, mit und ohne Schleier, setzte er ermuthigend hinzu … In jener Unermüdlichkeit, mit der der Italiener seinen Einen Gedanken des Gewinns, darin ganz dem Juden gleich, festhält, kam er wieder auf[337] die Reize einer Stromfahrt von zwei Tagen bis zu dem Ort zurück, zu deren Merkwürdigkeiten nun auch noch der Eingang in die Hölle gehören sollte …

Benno war endlich von ihm befreit und ging, umrauscht vom Lärm der Straßen …

Das Benehmen des Todtenbruders, sein stolzes, festes Dahinschreiten am Quai, das Benno noch beobachten konnte, sein höhnisches Lachen, die scharfe Betonung über die Falschheit der Welt veranlaßte Benno, dem Unfreundlichen noch einige Schritte weiter als nöthig zu folgen … Er hatte Worte gehört, die sein Innerstes erschütterten … Wandelte er denn auch auf Wegen, die offene und gerade waren? …

In wenig Augenblicken war die gespenstische Erscheinung verschwunden … Benno sah ein offenes Thor, durch das der Todtenbruder mit seinem flatternden schwarzen Gewande hindurchschritt …

Benno befand sich hier bei den Hinterpforten größerer Häuser, die nach vorn dem Theater des Marcellus zu liegen … Hier gibt es kleine Gärten, kleine Pavillons … Die Dunkelheit verbarg den unschönen Anblick italienischer Hinterfronten mit ihren schmutzigen Galerieen, ihren ausgehängten alten Teppichen, ihrer aufgehängten zerrissenen Wäsche, ihren schmutzigen Geräthschaften und jenem Colorit der Wände, dessen vorherrschender Ton ein verfängliches Gelb ist … Alles das vergißt man freilich in Italien um einer einzigen Palme willen, die aus solchem Gewirr in einem kleinen Gärtchen versteckt emporwächst …

Auch hinter jener Pforte, wo der Todtenbruder verschwunden[338] war, lag, wie Benno jetzt sah, ein solches Gärtchen …

Wer wohnt hier? fragte er einen am Wasser mit dem Ausladen eines verspätet angekommenen Kahns Beschäftigten …

In diesem Palazzo –? erwiderte der Angeredete und bot sofort statt der Antwort, auf die er sich die Miene gab, sich gründlich besinnen zu wollen, vorerst seine Waaren an, die der Herr gerade hier am zweckmäßigsten angetroffen hätte … Walzbreter zur Bereitung von Nudeln, hölzerne Löffel, einen Steinkrug zur Aufbewahrung seines Oels … Wer in Italien handelt, glaubt, daß man sich zu jeder Zeit aus dem Gebiete gerade seiner Branche assortiren könne; in die Eilwägen hinein reicht man zinnerne und blecherne Küchengegenstände, »die man jetzt gerade wohlfeil haben könnte« … Und auch dieser Mann wahrte erst seinen Vortheil und zeigte auf hundert Schritte weiter seinen Laden …

Aber den Besitzer des »Palazzo« konnte er nicht nennen … Dann war es eine großmüthige Regung von ihm, daß er, als Benno keinen Steinkrug für sein Oel mitnahm, doch einen andern Mann anrief und diesen fragte:

Wer wohnt in dem Palazzo? …

Nach vorn hin, hatte Benno inzwischen gesehen, stand allerdings ein stattliches Gebäude …

Ein Advocat … Ein reicher Mann – hieß es …

Ein Advocat? … Vielleicht Bertinazzi? dachte Benno und sah sich nach einem mittelalterlichen alten Hause, dem des Rienzi, um …[339]

Wie auch bei uns die Kinder in die Läden treten und fragen können: Wollen Sie mir nicht sagen, wie viel die Uhr ist? und, wenn sie's gehört haben, als Zugabe ihrer Frage ein Paar Rosinen verlangen, so tauschten sich auch hier mit den paar Worten die Interessen der sich versammelnden Italiener aus … Benno bekam so viel Anerbietungen von Waaren, so viel Verlangen nach Bajocci, so viel Anerbietungen zum Führen, zum Tragen, zum Helfen, daß er zu dem seiner Natur wenig entsprechenden Mittel greifen mußte, aus der Geberdensprache der Italiener eine Miene zu wählen, die die einzige ist, der die unerträgliche Zudringlichkeit weicht … Macht jemand diese Miene, so ist der Italiener gewiß, einen Landsmann vor sich zu haben, von dem er nichts zu erwarten hat … Benno streckte nicht gerade die Zunge aus, was in solchen Fällen, um vor dem italienischen Bettelgesindel Ruhe zu bekommen, das allersicherste Mittel ist; er warf nur einfach den Kopf in den Nacken mit der Miene eines gleichsam vor Hochmuth Närrischgewordenen … Da ließ man ihn gehen …

In der That hatte er aber doch erfahren, daß dieser Hausbesitzer, dieser reiche Mann und Advocat – Signore Clemente Bertinazzi war …

Bertinazzi! …

Wieder blickte er auf die Pforte und siehe da, wieder trat jemand, diesmal ein Mönch mit heraufgezogener Kapuze ein …

Das sind Verschworene! sagte sich Benno …

Der Gedanke überlief ihn wie siedende Glut …[340]

Er sann und sann nun um so mehr: Wer war der schwarze Todtenbruder, der dich offenbar kannte, der dir seine Verachtung ausdrückte – trotz deiner Erwähnung Rienzi's …

Benno wandte sich in größter Aufregung wieder der Brücke zu … Hier hatte er einen Fiaker zu finden gehofft …

Schon suchte er danach nicht mehr … Es trieb ihn in die Straße, nach der hinaus das Wohnhaus des Advocaten seine Vorderfront hatte …

Auch hier bemerkte er, rasch nacheinander kommend, zwei weiße Todtenbrüder, die in dem offenen Thorweg des Hauses verschwanden …

Bertinazzi hält eben seine Loge …

Diese Vorstellung stand nun fest bei ihm …

Sollte er folgen? …

Er hatte das Losungswort … Er trug in seinem Portefeuille ein Zeichen von Silberblech mit einem aus den Flammen sich erhebenden Phönix … Beides hatten ihm die Brüder Bandiera für den Fall gegeben, daß er in Rom die Bekanntschaft des Advocaten Bertinazzi machen wollte, dem sie aufs wärmste über ihn geschrieben zu haben behaupteten …

Mit lautklopfendem Herzen kehrte er zur Flußseite zurück …

Hier war es jetzt stiller geworden … Ruhig wogte der Strom …

Den Besuch der Mutter gab er auf … Schon schlug es zehn …

Im Hause des Advocaten, dem er von der Gartenseite[341] näher zu kommen suchte, war alles still und dunkel … Es mußte eine gewaltige Tiefe haben; die Entfernung vom Ende des Gärtchens bis zur Vorderseite war eine ansehnliche …

Wieder näherte sich ein Schatten der Gartenpforte – … Wieder huschte dieser an Benno vorüber und ging ins Haus …

Benno stand – wie am Scheidewege seines Lebens … Der Gedanke an morgen war ihm an sich schon der Tod – was verschlug es, wenn er den letzten Anlauf nahm und sich in den Abgrund stürzte? …

Wo sollte er die Stimme, den Wuchs, den Gang des schwarzen Todtenbruders hinbringen …

Eine fieberhafte Ideenverbindung zeigte ihm die drei Reiter, die ihm im Gebirge so seltsam den Weg hatten abschneiden wollen … Erschien sein Umgang mit den Tyrannen Italiens denen verdächtig, an die er empfohlen war? …

Voll Unruhe begab sich Benno abermals nach vorn …

Jetzt sah er einen Kapuziner zu Bertinazzi eintreten …

Und nur ihm schien alles das aufzufallen; die Straße hatte ganz ihr übliches Leben …

Schon griff Benno nach seinem Portefeuille und überzeugte sich, daß er das Symbol des Phönix bei sich hatte …

Einen in Hemdärmeln vor der Thür seiner Taverne stehenden Wirth fragte er:

Ist das – da drüben – ein Kloster? …

Nein, Signore! war die Antwort … Das Haus, des Advocaten Bertinazzi …[342]

Ich sehe Mönche eintreten …

Bei einem Arzt und Advocaten, Herr, sagte der Wirth lachend, hat alle Welt zu thun … Und nicht jeder zeigt's dann gern … Mancher Principe wartet auf den Abend, wo er die Kutte des Todtenbruders umlegen darf – Und – nun – die Pfaffen gar …

Der Wirth machte eine Miene, als wäre Rom einmal die Stadt des Carnevals und der Carneval stünde nicht blos im Februar im Kalender – sondern zu jeder Zeit und dann hätten am meisten die Priester ihre Heimlichkeit …

Die Geberdensprache des Südens ist die Sprache der größten Deutlichkeit …

Benno mußte, um dem vertrauensvollen Manne zu danken, seinen Wein versuchen …

Es war nicht der Wirth der nahen Goethe-Campa nella … Der Orvieto, den Benno begehrte, war gut … Stürmisch rollte das Blut in Benno's Adern auch ohne den Wein … Er war in einer Stimmung, die Welt herauszufordern …

In dem dunkeln Gewölbe der Kneipe saßen beim qualmenden Licht der Oellampe Männer aus dem Volk … Die Unterhaltung betraf noch immer den Grizzifalcone … Einige Häuser weiter hatte der Räuber gewohnt, als er die Courage gehabt, nach Rom zu kommen … Man erzählte seine Heldenthaten …

Man rühmte auch den Muth der beiden deutschen Mönche …

Benno horchte und horchte …

Der Wirth pries sich glücklich, den Pasqualetto nicht[343] beherbergt zu haben … Die Polizei hätte jeden Winkel der Herberge an der Tiber nach dem Tode des Räubers durchsucht … Alle Welt wußte, daß niemand durch diesen Tod glücklicher war, als die Zollbediente, auf deren Strafe der alte Rucca es abgesehen hatte …

Die Pfiffigen und Klugen haben hier immer Recht … Um den Grizzifalcone blieb es »Schade, daß er nicht – Gonfalionere in Ascoli geworden« …

Benno hörte lachen – die Gläser aufstampfen – hörte Gesinnungen, die denen der Lazzaronis Neapels entsprachen …

In seinem Innern klangen die Worte des Attilio Bandiera: »Man muß die Völker zur Freiheit zwingen!« …

Damals hatte er noch erwidert: »Mit der Guillotine?« …

Neue Welten waren in ihm aufgegangen …

In jenem Hause konnte er das Schicksal der Freunde erfahren, um die er sich in so große Gefahren des Lebens und der Seele gewagt hatte … Der Tag, vielleicht die Stunde konnte ihm dort genannt werden, wann die Brüder in Porto d'Ascoli landen mußten, wann Ravenna, Bologna sich erhoben …

Er sagte sich: Es ist der Weg des Todes! Sollst du ihn beschreiten? …

Und gehst du ihn nicht schon? antwortete eine Stimme seines Innern … Bleib' auf deiner Straße – des Verhängnisses! …

Wild mit der Rechten durch seine Locken fahrend erhob[344] er sich … Stürmenden Muthes verließ er die Schenke … Sie rufen mich! sprach er vor sich hin und sah – jene Geister des Beistands, von denen ihm Attilio gesprochen …

Auf der Höhe seines Lebens war er angekommen … Dahin also hatten alle Ziele seines Schicksals gedeutet … Er sah seine ersten Anfänge wieder – fühlte den Kuß jener schönen Frau, die sich trauernd über ihn beugte, wenn sie aus dem Wagen gestiegen – Die in Spanien erworbenen goldenen Epaulettes seines Adoptivvaters Max von Asselyn blitzten auf … Zigeunerknabe, du bist in deiner Heimat! klang es um ihn her wie aus tausend silbernen Glöckchen … Dann wieder waren es Geigentöne – wie sie damals der bucklige Stammer zwischen seinen Erzählungen von der Frau, die nur die deutschen Worte: »Tar Teifel!« kannte, auf dem Finkenhof strich …

Du gehst! sagte er sich und schritt dem Hause näher …

Und dennoch würde Benno vorübergegangen sein, wenn nicht die menschlichen Entschließungen unter dämonischen Gesetzen stünden …

Der eine Flügel des offen stehenden Hausthors war soeben von einer nicht sichtbaren Hand von innen geschlossen worden … Eben bewegte sich der andere Flügel, um gleichfalls zuzufallen … Der Anblick dieser kleinen, noch eine Secunde offen gelassenen Spalte bestimmte den wie vom Schwindel Ergriffenen und halb Besinnungslosen rasch vorzutreten und die beiden Worte zu sprechen:

[345] Con permesa! …

Eine Stimme antwortete:

Que commande? …

Eine kurze Pause folgte …

Die Schlange wechselt ihr altes Kleid! …

Das Erkennungswort des »Jungen Italien« war aus gesprochen …

Es war kein freier Wille gewesen, der diese verhängnißvollen Worte von Benno's Lippen brachte … Es war ein fremder Geist, der aus ihm sprach, ja – der ihn diese Losung ganz deutlich und fest aussprechen ließ …

Er trat in den wiedergeöffneten Flügel und befand sich in einem dunkeln Gange …

Die Thorpforte fiel hinter ihm zu …

1

Thatsache.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 8, Leipzig 1860, S. 309-346.
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