10.

[264] Hoiho! … Hoiho! … Hoiho!

So rief es hellauf hinter einer lieblichen Gruppe von Birken und Hängeweiden und von einer weiblichen Stimme, rein, metallen, wie Silberton.

Die Ruferin war ein junges Mädchen in blauem Kleide, einem leichten runden Strohhut auf dem einfach gescheitelten Haare –

Ein Ruder in der Hand stand sie in einem leichtgebauten Kahn, ihn hin- und herwiegend mit herausforderndem Muthe. Noch lag der Kahn an einer Kette, die ihn am Ufer festhielt; noch stieß und rauschte sein Vordertheil an den Sand und die Steine des Strandes der Insel Lindenwerth. Ein Schifferknabe saß an der entgegengesetzten Seite; das Steuerruder schon in der einen Hand und auf den erwarteten Befehl bereit, die Kette mit der andern zu lösen.

Die Ruferin winkte jetzt durch die Hängeweiden und Birken hindurch einem alten, von Linden umstandenen Gebäude zu, das klosterähnlich dicht in der Nähe, in der Mitte der kleinen Insel lag. Sie schien es auf ein Fenster[265] abgesehen zu haben, an dem auch eben eine andere, ältere weibliche Gestalt sichtbar wurde.

Der Seemannsruf Hoiho! Hoiho! schien aber dort nicht die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen.

Armgart von Hülleshoven – sie nur ist es – befahl mit einem kurzen vertraulichen Winke dem Schifferknaben, weiter ins Wasser hinauszustechen und lehnte sich selbst über Bord, um die Kette vom Pflocke, der sie festhielt, abzunehmen. Als zu dem Ende der Knabe sein zweites Ruder ergriffen hatte, nahm sie ihren Hut ab und setzte sich ans Steuer statt seiner. Der Knabe wußte schon, sie wollte, um von der Dame am Fenster gesehen zu werden, mehr die Höhe der kleinen Hafenbucht gewinnen.

Nun mußte doch gewiß das Winken mit dem großen Hute sichtbar werden an dem Fenster des Klostergebäudes!

Aber jetzt war die daselbst ersichtlich gewesene Dame vollends verschwunden.

Armgart harrte erst, ob die Gerufene inzwischen vielleicht herabkäme … Da sie aber ausblieb, forderte Armgart den Knaben auf, einige hörbare und kräftige Zeichen von sich zu geben.

Hast ja dem geistlichen Herrn neulich um deine Stimme so gefallen, sagte sie, und sprichst als Ministrant dein »Saecla Saeclum« so prächtig laut, daß sie dich hören muß, Tönneschen! Ruf' einmal recht Juhu!

Und Antonius, genannt Tönneschen, rief denn auch, immer auf ihr Auge sehend, ein Juhu um das andere lautschallend in die Weite hinaus. Freilich mußte er dazu von Armgart erst wieder aufs neue ermuthigt[266] werden, denn es ging gar still her um die Insel Lindenwerth und wirklich war er von jenem geistlichen Herrn um seines schönen Aussehens und seiner sanften Augenwimpern willen in allem Ernst zur Verfolgung der kirchlichen Laufbahn ermuntert worden, als er ihn beim Ueberfahren zu den Englischen Fräulein in einem Büchlein schon vor Wochen auf den Thuriferar studiren sah, den er am morgenden Sonntag drüben in der Kirche zu Drusenheim – noch nicht in der byzantinischen des Herrn Bernhard Fuld, sondern in der alten – beim Hochamt übernehmen sollte.

Ei, Tönneschen! Lauter! Lauter! Was schadt's! rief Armgart.

Nun ließ Tönneschen ganz den Schifferknaben los und wagte einen Naturlaut von einer solchen Kraft, daß man das Echo vom jenseitigen Ufer drüben im Enneper Thale, wie hüben vom vielbesungenen Hüneneck zurückschallen hörte.

Dann sah er Armgart an, als wollt' er sagen: Nun, war's so recht? Aber dir überlass' ich die Verantwortung!

Die Dame erschien wieder am Fenster …

Sie machte jedoch die entschiedensten Zeichen der Ablehnung der ihr offenbar zum Mitfahren gestellten Aufforderung.

Mit zärtlich winkender Geberde wiederholte Armgart ihr Anliegen. Sie zeigte ringsum in die Gegend, deutete mit dem Hut auf die wundervolle Luft und beschrieb mit dem einen Arm, den sie frei hatte, einen Kreis, als wollte sie sagen: Gibt es denn etwas Schöneres in der[267] Welt, als so auf dem schönsten Strom der Erde an einem Sonnabend Nachmittag im Kahne durch die Wellen zu kreuzen! Gibt es denn etwas Vernünftigeres, da du doch immer die Vernunft im Munde hast, als eine Erlaubniß zu benutzen, die die gestrengen Englischen Fräulein mir Unverbesserlichen zugestanden haben! Ist denn der Antonius Hilgers trotz seiner unverkennbaren Bestimmung zum Priester nicht der beste und kundigste Ruderer der Insel? Meiden wir denn nicht sorglichst die Dampfschiffe, obgleich, im Vertrauen gesagt, nichts über das Schaukeln geht, wenn sie vorüber sind und der Nachen in ihre zurückgelassenen Furchen geräth? Hüten wir uns denn nicht vor Thiebold de Jonge's großen Holzflößen, mit denen nicht zu spaßen ist? Und ist denn nicht jetzt die Stunde, wo wir möglicherweise drüben –

Alles das sagte ihre Geberdensprache und ihr Blick, aber die grausame Dame zeigte auf eine Näharbeit, die sie hoch emporhielt …

Ach was! war Armgart's Geberdenantwort. Sonnabend Nachmittag! Die seligste Zeit im Leben lernensgeplagter Jugend! Sonnabend Nachmittag mit seinem Stillstand aller theoretischen und praktischen Lehrcurse, mit seinem Wonnegefühl vollbrachter geographischer und linguistischer Anstrengungen, mit seinem erhebenden Rückblick auf wenig Lob und viel Tadel, mit seiner zurecht gelegten Sonntagswäsche, seinem erquickendsten Reinigungsbehagen, auch dem geistigen, dem abgelegten Sündenbekenntniß in der Beichte; Sonnabend, Sonnabend mit seinen Ahnungen und Hoffnungen auf Sonntag, auf die Extramehlspeise, Nachmittags auf die Landpartieen der[268] Philister, denen diese schöne Natur Feiertagskuchen ist, uns das tägliche Brot! … Alles das wurde durch Deuten auf Himmel, Wasser, Erde, Luft, Ohr, Auge, Herz und ähnliche erfinderische Mimoplastik ausgedrückt. Und zuletzt stand sie sogar ganz still, bat nur mit den Augen und ließ die an ihr jetzt sogar seit dem Abend bei Piter Kattendyk stadtbekannten zwei weißen Zahnperlen unter den vor Ungeduld und Schmerz halbgeöffneten Lippen sichtbar werden. Die Dame oben – es war Angelika Müller – sollte daraus entnehmen: Meine drei Aves, die ich für meine heute gebeichtete bekannte Ungeduld und Verzweiflung um das lange Schweigen des Dechanten und meiner angebeteten Paula und mein Herzpochen um die Antworten auf die Briefe nach Kocher am Fall und nach Wien zur Buße zu beten vom Pastor Engeltraut drüben aufbekam, hab' ich bereits hinter den ausgenaschten Brombeerhecken und beim Auflesen der auf den Boden gefallenen ersten reifen Mirabellen in aller Stille hinter mir … also so komm' doch, so komm' doch, so komm' doch!

Da nun aber bei alledem die Grausame hartnäckig und lächelnd ablehnend verblieb, da es auf der Insel sogar schon lebendig wurde über den Lärm des sonst so still sittsamen Tönneschen, da die Mitbewohnerinnen der Pension sich aus den Fenstern, ja sogar schon im Gemüsegarten meldeten und zwei davon, die kein Deutsch konnten, in französischer Sprache sich vom Ufer aus über Nautik und den Atlantischen Ocean mit Armgart zu unterhalten anfingen, was leicht damit enden konnte, daß ihrer mehrere mitfahren wollten, und als vollends von[269] dem Ufer am Hüneneck her schon ein Kahn voll natur- und romantiktrunkener Engländer und Engländerinnen angefahren kam, so wandte Armgart ihr letztes und stärkstes Beschwörungsmittel an.

Tönneschen riß die Augen auf über die Geberden, die plötzlich das Fräulein von Hülleshoven machte. Sie ließ das Steuer fahren, hob noch einmal das zweite schwere Ruder in die Luft und beschrieb mit ihm allerlei wunderliche Zeichen. Erst einen großen Kreis, dem sie gleichsam zuletzt in der Mitte einen Punkt gab. Dann ein Dreieck, in das sie wieder ein Dreieck hineinzeichnete. Dann ein Viereck, durch dessen vier Winkel sie einen Kreis beschrieb … So, eine mathematische Figur nach der andern, und wie die Hand müde wurde, legte sie das Ruder nieder und drehte mit dem Finger Spirallinien und Wellenlinien und machte Schnörkel über Schnörkel in die Luft.

Da schüttelte denn endlich Angelika Müller am Fenster lächelnd den Kopf. Sie schüttelte ihn wie über ein Wesen, mit dem man die unsäglichste Geduld haben müßte … Wir wissen aber schon, daß dies jene Zeichen sind, auf welche Dr. Laurenz Püttmeyer, Angelika's Freund und funfzehnjähriger Verlobter (Hegel lebte nicht mehr, aber sein vom Staate respectirtes Testament duldete keinen neuen Lehrstuhl neben dem von ihm selbst bestimmten Nachfolger) seine rechtgläubige Philosophie begründet hatte.

Jetzt kam denn Angelika …

Rasch war Armgart bei der Hand, setzte ihr Ruder wieder ein und wies auf den Punkt, wo Angelika immer[270] vorzog, zu einer Stromfahrt einzusteigen … Und es war die höchste Zeit. Junge Mitpensionärinnen machten schon Miene, mitfahren zu wollen »nach Amerika«, wie es hieß, »nach Canada« … Alle hatten seit einiger Zeit nur Amerika und Canada im Munde; Thiebold de Jonge hatte zwar keine Verwandte im Stifte und durfte es deshalb nicht betreten, trug aber doch die Verehrung für die Tochter seines Lebensretters nicht wenig zur Schau. Stundenlang in einem gelben Nankinghabit, das ihm mit rothseidenem Sacktuch auf der Brust und gelbem Strohhut allerliebst stand, in der Gegend der Insel allein herumzusteuern war seiner Schwärmerei »eine Kleinigkeit«. Ja, alle wußten schon, daß morgen im Enneper Thale Thiebold de Jonge und seine Freunde, Piter Kattendyk ausgenommen, zu den Hunderten von Gästen gehören würden, die sich Sonntags hier regelmäßig drängten, ja sie wußten schon durch Briefe aus der Stadt von Gebhard Schmitz, daß es ganz ausdrücklich auf eine Begegnung mit den Stiftlerinnen abgesehen war.

Angelika Müller kam, einen mächtig großen runden Hut auf dem Kopf, mit einem Shawl in Reserve für etwaige Zugluft, mit einem Regenschirm in Reserve für etwaiges Gewitter, mit einem Sonnenschirm in Reserve für etwaige zu stechende Sonnenhitze, mit einem Proviantbeutel in Reserve für etwaigen Schiffbruch und eintretende Hungersnoth.

Trotz der nicht erfüllten äußerlichen Erwartungen, die einst Frau von Gülpen auf die Dame setzte, die ihr diese »Nichte« anempfahl, hatte sie ein überströmendes Herz voll Güte und Antheil. Sie lehrte in der Anstalt Rechnen[271] und Mathematik, ohne jedoch irgendwie geistig so abstract zu sein, wie sie es allerdings zum damaligen Schrecken des Dechanten äußerlich war.

Als die allverehrte Docentin der Mathematik, nicht ohne ein leises Kichern der Aengstlichkeit, über einige große Steine, unterstützt von dem hülfreichen Beistande der mürrisch zurückbleibenden Pensionärinnen, eingestiegen war, rief Armgart ein im Grunde des Herzens tief vorwurfsvolles: Gott sei Dank! und war über die Sprödigkeit ihrer besondern Freundin und Gönnerin fast dem Weinen nahe.

Du weißt doch, sagte sie und setzte sich wieder ans Steuerbord, während am Backbord Tönneschen jetzt beide Ruder zugleich mit kräftig ausholenden Armen in Bewegung setzte, du weißt doch, wie mein Herz bekümmert ist und wie ich ohne Beistand geradezu vergehen muß!

Angelika breitete im Kahn ihre Sachen aus und prüfte vor allem erst des Fahrzeuges Gleichgewicht. Da sie die unruhigen Bewegungen Armgart's, ihr Aufstehen und Aehnliches voraussah, legte sie alles, was sie bei sich führte, sich gegenüber, um, so leicht sie war, doch Gegengewicht zu haben. Dann spähte sie rundum. Gefahr von größern Schiffen war nicht vorhanden. Die große Strömung des Flusses geht auf der entgegengesetzten Seite der Insel nach dem Enneper Thale zu. Tönneschen wußte schon, er hatte nach dem Hüneneck zu fahren. Prächtig ging es mit dem Strome; nur laviren mußte man, um nicht zu weit unten zu landen, sondern mehr nach oben, womöglich an des Herrn Joseph Zapfs stattlichem Wirthshause Zum Roland.[272]

Das Kummervollste bleibt immer unsere baldige Trennung! sagte Angelika. Tante Benigna und Onkel Levinus machen jetzt Ernst mit Heiligenkreuz!

Armgart's Ausdruck nahm den eines Schmerzes an, der den Blick, den Mund, die Bewegung der Arme, alles ergriff und sie einer jener leidenden, stillergebenen Heiligen ähnlich sehen ließ, die Murillo und Carlo Dolce gemalt haben.

Angelika! Was soll ich in Heiligenkreuz! sagte sie.

Erst nur die Stelle einnehmen; das Uebrige findet sich! Hunderte beneiden dich um das Glück, eine Stiftsdame zu werden!

Ein Jahr zur Probe, wie eine Nonne! Wie werden die alten Fräulein mich zurecht setzen in dem düstern Hause! Jetzt, wo ich Flügel haben möchte, um ans Ende der Welt zu fliegen!

Angelika vermied es auf diese Wünsche und Klagen zustimmend einzugehen …

Liebes Kind, sagte sie, eine Stiftsdame zu Heiligenkreuz schon in seinem sechzehnten Jahre zu werden, ist eine Auszeichnung, die man nur Familien vom ältesten Adel und von besonderer Distinction zuwendet. Nach einem Jahre kannst du dann mit deiner Pension wohnen, wo du willst, vorausgesetzt, daß du alle zwei Jahre einige Monate unter den Damen zubringst, die es vorgezogen haben sich im Stift für immer anzusiedeln. Und ist denn Westerhof so entfernt von Heiligenkreuz? Ein schöner Waldspaziergang und du hörst schon die großen Hunde von dem Kamp her bellen, aus dem Schloß Westerhof wie eine alte Gluckhenne heraussieht![273]

Angelika lachte, scheinbar über ihren eigenen Einfall; aber sie lachte eigentlich nur vor Behagen, weil Armgart sich so ruhig verhielt … auch sah die kleine Träumerin in ihrem Leid gar komisch aus.

Das ist noch mein Trost! sagte Armgart, setzte aber seufzend hinzu: Wer weiß, was aus Paula wird!

Das kann noch lange währen, liebes Kind! Rechnet man z.B …

Nur nicht rechnen! rief Armgart.

Nicht rechnen? Als Stiftsdame wirst du den ganzen Tag rechnen! fuhr Angelika fort. Die Einkünfte bestehen in Naturalien und die vornehmen Fräulein müssen ihre Butter, ihre Eier, ihre Hühner, ihr Korn und ihr Stroh selbst verkaufen!

Also ewig – dividiren! sagte Armgart träumerisch seufzend. 16 Jahre in 1111 – so viel Jahre mögen im Stift beisammen sein – wie viel kommt da auf mich?

Du meinst, die Einkünfte werden insgesammt verkauft und jedem wird dann je nach seinem Alter sein Antheil gegeben? Bewahre, Kind! Früher war das so! Aber einige alte Fräulein kamen, die sehr geizig waren, andere trauten sich viel Kenntnisse von Handel und Wandel zu, jede hoffte für sich allein bessere Preise zu gewinnen, als der Verwalter, und nun verkauft jede ihre Einkünfte apart auf ihrem Zimmer für sich und hält alle vier Wochen bei sich Markt …

Nun gut! ergab sich Armgart. Wenn ich also auch Fische bekommen sollte aus unserm berühmten Lago Maggiore, dem Ententeich, so soll sie immer durch die neue Eisenbahn hier unser Tönneschen da kriegen und auf die Tables d'hote[274] am Hüneneck verkaufen! Nicht wahr, lieb Tönneschen? Bis du nach Belgien gehst?

Tönneschen lachte über die schmachtend elegische Huldigung und lachte nicht ohne Pfiffigkeit. Er gehörte zu den Knaben, die der Kaplan Michahelles vorhatte auswärts von den Jesuiten erziehen zu lassen …

Dem kleinen Kahne begegneten andere mit Fremden, die diesen schönen Punkt nach allen Richtungen hin genießen wollten …

Zur Belohnung für das von Armgart dabei heute so ruhig eingehaltene Gleichgewicht zog Angelika aus ihrer Provianttasche einen Brief …

Da rief Armgart: Wie? und sprang nun auf …

Jesus Marie! entsetzte sich Angelika. Das hatte sie nicht bedacht. Der Anblick eines Briefes ließ Armgart sofort alle Schrecken eines umstürzenden Kahnes heraufbeschwören. Vom Dechanten! rief Armgart und wollte den Brief haben.

Diese Worte hörte Angelika kaum vor verzweifelnder praktischer Anwendung der von ihr so oft vorgetragenen Theorie des Gleichgewichts.

Als die Bewegungen Armgart's und des Kahnes sich beruhigt hatten, sagte Angelika:

Nein, wie du bist, Armgart! Es ist ein Brief aus Eschede! Der Herr Doctor ist mit deinem Vorschlage, die Seelen der Abgeschiedenen mit einem kurzen Symbol zu bezeichnen, überraschend einverstanden …

Armgart setzte sich mit einem tief geseufzten: So? Das! und voll bitterer Täuschung.

Angelika jedoch, der offenbaren Geringschätzung des »Herrn Doctors« nicht achtend, rückte ihr zärtlich und mit[275] einer seit funfzehn Jahren auf die Sparkasse der Hoffnung gelegten Herzensinnigkeit näher und las:

»Ja, meine theure Freundin, daß … (die Liebenden nannten sich seit funfzehn Jahren noch ›Sie‹) Sie auch in den Ihrer geistigen Pflege anvertrauten Gemüthern Bekenner für meine Wissenschaft gewinnen, verpflichtet mich zum wärmsten Danke! Wie sehr Ihre Empfehlung meiner schwachen, von Gott sicher noch mit größern Erfolgen als bisher bedachten Bemühungen um das ewig Eine, ewig Viele und ewig Besondere in Ihrer Nähe Wurzel faßt, erseh' ich allerdings aus dem Gedanken der holden Armgart, den abgeschiedenen Seelen, wenn sie zunächst dem Fegefeuer zufliegen, tiefbedeutungsvolle Abkürzungszeichen zu geben. Ja gewiß, es gibt Semikolon-Seelen, die ihr Dasein auf Erden fast zweifelhaft und unbeendet gelassen haben und dem Himmel nur ganz unfertig, vollkommen noch weltlich und fast leichtsinnig zufliegen:


10.

es gibt Fragezeichen-Seelen, die ganz nur im Jenseits von der Gnade Gottes abhängig sein werden und etwas noch ordentlich sich Aufbäumendes, Eulen-, ja Fledermaus- und Drachenartiges im Aufflug haben:


10.

Und daß dann Fräulein von Hülleshoven ihre Freundin[276] Comtesse Paula in der Betrübniß, die junge Gräfin könnte ihrem wieder recht nervenkrank gewordenen Zustande erliegen, gar schon innerhalb des großen Gottesherzens, das die Welt bedeutet, dem Fegefeuer in dieser Gestalt zufliegen sieht:


10.

das hat wirklich in allen Bewohnern von Eschede, denen ich dieses Symbol mittheilte, in der Frau Steuerinspectorin Emminghaus, in der Frau Geometer Schmedding, in der Frau Hofräthin Tübbecke und allen meinen treuen Anhängern und Anhängerinnen den Wunsch erweckt, auch einst nur in dieser Gestalt das Zeitliche zu segnen. Aufwärts die Flamme der Läuterung, das große Herz die das Universum zusammenhaltende göttliche Liebe und die Seele drinnen in Gestalt des geflügelten Kreuzes feierlich senkrecht emporsteigend« …

Was schreibt er von Paula? unterbrach Armgart, durch das Wort »recht nervenkrank« geängstigt …

Angelika hörte aber nicht, wollte nur fortfahren und las mit der Phantasie tief versunken in die kleine escheder Gemeinde ihres Freundes, die sie ihm ohne alle Eifersucht als Ersatz für einen Lehrstuhl in Berlin oder München gönnte:

»Frau Emminghaus« –

Nein, nein! unterbrach Armgart. Schreibe deinem Freunde, daß die alle nicht so ins Fegefeuer auffliegen werden, wie Paula! Frau Emminghaus muß als geflügelte Kaffeekanne hinauf, Frau Tübbecke als geflügelter[277] Strickstrumpf und dein Doctor, der auch als schwarzes großes geflügeltes Dintenfaß –

Armgart! verwies Angelika aufs heftigste und wäre nun fast selber aufgestanden. Da jedoch suchte Armgart sofort ihre Unart durch eine Umarmung wieder gut zu machen und nun hätte selbst die ruhige Nachhülfe Tönneschen's nichts gefruchtet, ein Unglück zu verhüten, wenn nicht glücklicherweise der Kahn schon dicht an das Uferschilf angekommen gewesen wäre … Der ausgestoßene Schrei der Lehrerin erstickte in einem Vergib mir, das Armgart schmeichelnd mit einem ihrer süßesten Töne sprach.

Von der gewaltigen Flut fortgetrieben, landete der Kahn weit unterhalb des Roland und mitten im Schilfe … Dem Tönneschen war dieser Landungsplatz gerade recht, denn er wollte im Kahne verbleiben, um noch zu morgen sein Latein zu lernen, das keineswegs blos aus Spiritu tuo und Saecula saeculorum bestand … Pfarrer Engeltraut ließ alle Knaben seiner Gemeinde, die sich durch Bravheit auszeichneten und solche Aeltern hatten, die ein glattgekämmtes Haar, ein sonntäglich Gewaschensein von Kopf bis zu Fuß, Schuhe und ein weißes, sauberes »Röckel« über den rothen Talar, den die Kirche gab, verbürgten, nacheinander dem heiligen Meßdienst administriren. Tönneschen war zum ersten male zum Schwingen des Weihrauchfasses bestimmt und beide Mädchen lobten ihn und versprachen ihm, an dieser Stelle sich wieder einzufinden und bestiegen das Ufer.

Armgart wollte Angelika helfen … Diese lehnte es jedoch ab …[278]

In ihrem, wenn auch in allen Literaturzeitungen verspotteten, doch von ihr und seiner Stadt und seiner Provinz hochverehrten Freunde war sie denn doch aufs tiefste gekränkt worden.

Ernstlich schmollend erwehrte sie sich eine Weile jeder Annäherung an ihr schwer verletztes Herz …

Armgart's Anmuth aber trug den Sieg davon. Während Angelika erst die Lehre von den Curven zu befragen schien, bis sie den Ansatz machte, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, sprang jene schon voraus und machte den von Angelika endlich gewählten Weg zweimal und da gab es denn bald wieder Heiterkeit, Lachen, Kuß und Umarmung.

Das gewohnte Ziel ihrer stillbeschaulichen Wanderungen lag auf der Anhöhe. Angelika wäre heute lieber in die schönen, eleganten Wirthschaften und Gasthöfe gegangen, die am Fuße des Hüneneck liegen oder in den dem Wasser näheren, wenn auch weniger comfortablen Roland.

Doch dahin brachte Armgart nichts. Sie wies zu Hecken und Obstgärten hinauf und umschmeichelte die Freundin so lange, bis diese zuletzt zu den bekannten drei Birnbäumen folgte. Das waren drei einsame Birnbäume auf einem terrassenartigen Vorsprung der hohen Berglehne am Fuße des Hüneneck mit einer kleinen Bank und einer ganz himmlischen Aussicht.

Hier oben pflegte sich Armgart, wenn sie etwas athemlos von der steilen Anhöhe angekommen war, gleich in das rings wachsende Gras zu werfen und sich manchmal noch ganz wie ein fünfjähriges Kind zu kugeln, manchmal[279] aber auch von hundert Sorgen, von denen sie bedrückt zu sein vorgab, sich auszuklagen und auszuweinen …

So heute … Und heute nicht einmal vor Sorgen allein, sondern nur vor Ungeduld und Unruhe. Sie wußte, daß Benno in der Gegend war … Er hatte ihr durch Tönneschen's Vater, der ihn gestern oberhalb der Insel übergesetzt hatte, sagen lassen, er hätte zwar bald in diesem, bald in jenem Dorfe ringsum zu thun, aber auch am Hüneneck, und vielleicht könnte er sie am Sonnabend Nachmittag irgendwo flüchtig begrüßen, am liebsten da, wo nicht die ganze Pension dabei wäre und jedenfalls nicht auf der Insel. Nun denke man sich die Unruhe, als die Beichte und das Mittagessen vorüber waren! Und sagen wollte sie es Angelika auch nicht, was sie von Tönneschen's Vater wußte, den sie mit ganzen fünf Silbergroschen für seine Mittheilung belohnt hatte.

Kind! sprach Angelika, die noch immer nicht ganz die Kränkung ihres funfzehnjährigen Geliebten vergessen konnte, mit ernstem Verweise. Ich bewundere die Nachsicht, die Pfarrer Engeltraut mit dir hat!

Er kennt mich immer noch besser als du! antwortete Armgart mit klagender Stimme …

Weil er so nachsichtig ist, dir alles zu glauben! Freilich, wo soll auch der gute Mann all' die Geduld herbekommen, von so vielen jungen, zur Hälfte erst gefirmelten Mädchen sich ihre Unarten erzählen zu lassen! Sprach der Pfarrer heute von deinen abgeschickten beiden Briefen?

Wovon nur sonst!

Was sagte er?[280]

Ich würde die Mutter doch nicht sehen können, ohne ihr nicht gleich ans Herz zu fliegen!

Das denk' ich auch! Und du gelobtest es?

Nein!

Armgart!

Ich werde die Mutter umarmen, wenn ich dabei die Hand des Vaters halte! Bisjetzt war Onkel Levinus mein Vater; Tante Benigna meine Mutter! Ich will Aeltern haben, aber Aeltern, die sich lieben! Lieben sie sich nicht, so will ich sie nicht hassen, aber –

Der Hufschlag eines Reiters aus der Gegend von der Universitätsstadt her unterbrach sie …

Nun merkte Angelika etwas an dem Aufblicken und dem Abbrechen und Vergessen der Rede und wurde ängstlich. Sie schlug vor, am Gelände des Berges weiter zu wandern und dann in den Garten der »Vier Jahreszeiten« niederzusteigen. Dort hätte sie, wenn wie sie ahnte, Benno oder Thiebold kommen sollte, den lebhaften Verkehr vorschützen können. Sie sagte:

In den Vier Jahreszeiten ist immer so auserlesene Gesellschaft! Und ihr jungen Mädchen könnt euch nicht früh genug abschleifen! Komm, Armgart!

Damit ging sie schon.

Armgart lachte hinter ihr her.

»Abschleifen!« rief sie …

Es war ein Lieblingsausdruck Angelika's … eines von den klugen Lebensworten, zu denen auch das »Sichherausreißen« der Madame Serlo-Leonhardi einst gehört hatte. Schon manche der Pensionärinnen hatte die boshafte Bemerkung gemacht: Fräulein Angelika Müller[281] ist allerdings vom Leben schon so abgeschliffen, daß nichts mehr an ihr übrig geblieben ist! – eine böse Anspielung auf die allerdings nicht unbedeutende Abstraction ihrer äußern Erscheinung.

Als Angelika nach Armgart's Ausdruck »consequent wie eine gerade Linie« weiter ging, um durch die Baumwege von hinten her in den Garten der Vier Jahreszeiten zu kommen, folgte Armgart ihr erst leise auf den Zehen nach und wollte sie rasch mit der Schleife ihres Strohhutes an einen Baum binden.

Hier ist unsere Jahreszeit! sagte sie. Siehst du! Trauriger, düsterer Herbst! Wie die Blätter fallen! Und die Birnen sind noch nicht einmal reif –

Dabei hatte sie eine gepflückt und versuchte sie trotz alles Weinens und aller Ungeduld des Herzens …

Die Erzieherin zankte jetzt wieder in allem Ernst, band sich frei, behauptete ihre Autorität und ging. Sie ängstigte sich wahrhaft, Benno von Asselyn oder der dreiste Thiebold de Jonge könnten hier so plötzlich hinter einem Busch hervortreten …

Armgart folgte und sagte:

Ich habe keine Kraft! Wie eine Binse könnt ihr mich biegen!

Als aber Angelika immer mehr eilte, erhob sie die Stimme zu feierlichem Ernst und rief laut hinter ihr her:

Das aber sag' ich euch, wenn ich Furcht bekomme vor mir selbst und gegen euch alle nicht mehr aufkommen kann, dann flieg' ich davon und sollt' es in die Flamme des großen Gottesherzens selber sein![282]

All' ihr Heiligen! wandte sich Angelika jetzt und sagte mit ängstlich schmeichelnder Geberde:

Aber Kind, so beruhige dich doch! Der Dechant ist ja nur so lässig! Er wird ja schreiben! Auch hört man ja aus der Stadt, daß die da kürzlich ermordete Frau eine Schwester der Frau von Gülpen gewesen ist! Das alles wird die Antwort gehindert haben! Und dein Vater wird wol selber kommen!

Nein! rief Armgart, wild mit dem Fuß auftretend, und entfloh dann und schoß den Weg hinunter.

Künstlich angelegte und wohlunterhaltene Wege führten niederwärts und zuletzt in den erwähnten Garten, in welchem Durchreisende unter einer langen Veranda die hochberühmte Aussicht genossen.

Armgart war bereits lange unten, als Angelika ihr nachkam …

Die Menschen hier! jammerte Armgart ihr entgegen und sah dabei doch über alle Tische hinweg, über Engländer, Maler, Studenten, berliner Hofräthe und Hofräthinnen und wer alles in Naturandacht hier beisammensaß …

Sie suchte Benno, der nicht zu sehen war …

Angelika bestellte zwei Gläser Milch.

Wenn das da deine Mutter wäre! flüsterte die Erzieherin neckend und zeigte auf eine junge Dame, die mit der Lorgnette die Gegend und die beiden Ankömmlinge musterte …

Sie wollte nur Armgart durch den Scherz beruhigen …

Armgart blickte rasch hinüber, dann wandte sie sich ab …[283]

Du zweifelst wol, schmeichelte Angelika, weil die Dame so jung ist? Ei, deine Mutter ist eine ganz junge Frau, die nur zu lebendig, zu rührsam noch sein soll! Dein Vater mag ein vortrefflicher Jäger und Schwimmer und was sonst noch alles sein, aber mürrisch und kalt ist er! Das hast du doch schon an dem einsilbigen Hedemann gesehen!

Armgart sagte, Hedemann gefiele ihr ganz wohl …

Eines nur hat deine Mutter, fuhr Angelika flüsternd fort, was sonst nur dem Alter gehört … ganz silbergraue Haare soll sie haben …

Armgart wandte den Kopf …

Sie ist nicht vierunddreißig Jahre, hab' ich gehört, und doch hat sie ganz silbergraue Haare! Sie trägt sie vorn in langen Locken und soll bei ihrer Jugendlichkeit und Schönheit damit so auffallen, daß alles still steht und ihr nachsieht!

Armgart gerieth in die größte Aufregung. Sie fand den Ursprung dieser Locken nur im Kummer … die Augen umflorten sich ihr, wie wenn ihnen Thränen zuströmen wollten …

Nun aber ertönte in nächster Nähe ein Posthorn …

Armgart lehnte sich rasch über die Brüstung des Gartens. Von der Universität her kam eben die Post angefahren …

Hüben schon seit fünf Tagen konnte Armgart das Posthorn nicht hören, ohne sich aus Kocher, und drüben seit gestern nicht, ohne sich schon aus Wien eine Antwort zu denken …

Der gelbe große »Rumpelkasten« (Pensionsausdruck)[284] hielt am Roland und heraussprang – seligste Freude belohnter Erwartung! – in der That Benno …

Die Post selbst fuhr weiter … Aber Benno war sogleich in den Roland getreten und nun hielt die Post vor den Vier Jahreszeiten. Hier sprang ein zweiter Passagier heraus …

Alles das sah Angelika, aber nicht Armgart mehr. Armgart zog die Freundin mit sich fort – ohne daß die Milch bezahlt war! Benno könnte ja so leicht zu den drei Birnbäumen hinaufgehen wollen – »unnützerweise«, sagte sie – sie müßten also zu ihm. Der Weg ging durch das Haus; nun – »schliff sie sich ab« in ihrer Art, an jedem, der ihr in den Weg kam, an Kellnern, die Kaffeegeschirr trugen, am Wirth, der dem neuangekommenen Fremden die besten Zimmer seines Hotels zeigen wollte, an diesem Fremden selbst, der sie mit neugieriger Theilnahme musterte. Sie flog voraus zum Roland und nicht etwa in dem Ueberwallen eines durch das Wiedersehen beglückten liebenden Herzens, sondern weil der »gute Mensch und Vetter sie ja möglicherweise irgendwo suchen könnte, wo sie gar nicht war« …

Alles das sah Angelika mit Entsetzen, zahlte, ließ ganz gegen ihre Gewohnheit einige herauszubekommende Pfennige im Stich und kam nur eilends nach und gerade noch zur rechten Zeit, um die schon über die ersten freudigen Begrüßungen Hinausgekommenen zu trennen mit den Worten:

Halt Armgart! Was soll das? Der Brief ist an mich!

Die Adresse eines von Armgart schon halb erbrochenen Briefes war allerdings an »Demoiselle Angelika Müller« …[285]

Aber vom Onkel Dechanten ist doch der Brief! rief Armgart und mit wiederholtem: Was schreibt er denn? folgte sie Angelika, die zur Seite abgewandt schon mitten auf der Landstraße zu lesen begann … Und im Grunde besaß Angelika ganz die Spannung, wie Armgart, wenn sie dieselbe auch nicht eingestand.

Benno stand inzwischen in bestäubten Reisekleidern vor dem Wirthshause zum Roland und sprach mit dem Wirth, der ganz besonders erwartungsvoll seinem Eintritt entgegengeharrt zu haben schien. Als Armgart gleich mit ihrem Taschentuch ihn abzustäuben begonnen, hatte Herr Zapf mit mächtiger Stimme dem Hausknecht gerufen. In Kurzem war Benno befähigt, die Damen begleiten zu können.

Im Lesen vertieft und sogar des Chausseegrabens nicht achtend, schob sich Angelika querwärts in die Anhöhen hinauf. Armgart mit der Linken zurückdrängend, hielt sie mit der Rechten den Brief versteckt und lehnte jetzt schon eine Mittheilung zu machen ab. Müßte sie doch selbst erst ganz orientirt sein, sagte sie, und dann noch hinge jede Entscheidung von dem Pfarrer Engeltraut ab und von den Englischen Fräulein … und sie wisse ja das alles, was Anstand und Hausregel in Lindenwerth mit sich brächten!

Armgart faltete die Hände gen Himmel …

Benno suchte von dem Wirth loszukommen, der ihn in emsigem Gespräch begleitete …

Das wußte schon Armgart von der ersten Begrüßung her, auf ihr laut gerufenes: Hier! Hier! der Brief war an Benno aus der Residenz des Kirchenfürsten nachgeschickt[286] worden, der Dechant hatte ihm diese Zeilen übersandt als Einschluß einer umgehenden Antwort auf die Mittheilung über den Tod der der Dechanei seit Jahren fremd gewordenen Hauptmännin von Buschbeck … Er hatte geschrieben, daß er einige Tage lang suchen würde die Zeitungen zu verbergen, um die Tante auf eine nur allmähliche Art mit einer Begebenheit bekannt zu machen, die bei ihrem »zartfühlenden Herzen« eine gewaltige Erschütterung und »allerlei Hausjammer« in Aussicht stellte … Den Brief an »Demoiselle Angelika Müller« hatte er ihm zu zweckmäßigster Besorgung beigelegt, weil er die Regel solcher Pensionate zu kennen erklärte, daß die Vorsteherinnen alle Briefe, die kämen und gingen, erst selbst zu lesen begehrten … Daß er dabei die Lage einer Lehrerin mit derjenigen einer Schülerin verwechselte, bewies die wirkliche Aufregung, in der sich der alte Herr befand.

Armgart bat und bat:

Was schreibt der Dechant? Reist der Vater nach Wien? Wenn er mir verspricht, mich mit nach Wien zu nehmen …

Dabei suchte sie mit plötzlicher List den Brief zu erhaschen …

Armgart, nun kein Wort weiter! sagte Angelika und verbarg den Brief sorgfältigst. Ich habe geloben müssen, dich von keinem Schritt der Deinigen einseitig in Kenntniß zu setzen! Deine ganze Familie ist betheiligt! Alle sind sie es, die dich lieben! Morgen das Weitere nach der Messe! Und nun genug davon!

Jetzt war es doch für Armgart ein Gefühl, als[287] hätte sie sich auf die abschüssige Anhöhe werfen müssen und sagen: Nun, guter Gott, so laß mich sinken, sinken immer abwärts – bis in die Tiefen des Meers!

Benno hatte Mitleid mit dem lieblichen Kinde, dessen Natürlichkeit sich in keiner Regung ihres Gemüthes verleugnete. Sie sah wie eine von den bittersten Leiden der Seele Gefolterte und sich nun wirklich Ergebende so verklärt, so durchgeistigt aus, daß der von ihr mit einem ihr unbewußten Aufschlag der schönen Augen auf ihn gerichtete wehmüthige Bitteblick ihm das Herz mit Schmerz und Wonne zugleich erfüllte.

Um den Ton zur Heiterkeit zurückzuführen, hätte er von diesen und jenen Dingen beginnen dürfen. Doch war er zartfühlend und Menschenkenner genug, die Richtung der Gedanken, die in Armgart's Seele lebten, nicht zu verlassen.

Von Wien sprechen Sie? sagte er. Vielleicht ist der fremde Herr da, mit dem ich fuhr, schon der Kurier Ihrer lieben Mutter!

Armgart blickte mit lächelnder Ergebung auf die Vier Jahreszeiten …

Wirklich! Wirklich! Er wollte nach Drusenheim zu Herrn Bernhard Fuld hinüber! Wo eine Dame in den Gasthöfen da am besten aufgehoben wäre, fragte er. Sein Accent war wienerisch.

Angelika flüsterte schmeichelnd:

Beruhige dich! Es wird alles gut werden, Armgart! Morgen, nach der Messe in Drusenheim, da sprech' ich mit dem Pfarrer und dann sollst du sehen, du bist zufrieden – Gedulde dich![288]

Geduld! seufzte Armgart, sich ergebend. Sie überwand sich, nicht dem Fremden nachzueilen, der in behender Weise in der That in einen Nachen sprang, um zum jenseitigen Ufer überzusetzen.

Benno's Ruhe, Angelika's Festigkeit mußten Armgart zuletzt zur Besinnung bringen.

Man stieg höher und wieder in die Anlagen hinauf.

Benno mußte erzählen, was ihm alles seit dem Abschied an der Maximinuskapelle – dort weithin in blauer Ferne waren ihre schlanken Thürme sichtbar – und seit dem Zusammentreffen mit jener Lucinde Schwarz begegnet wäre? Wo diese hingewollt hätte? Wie die Manöver abgelaufen wären? Wie dem Thiebold de Jonge die Uniform gestanden hätte? Ob Hedemann nach Witoborn zöge? Was der Vater überhaupt beginnen würde?

Benno, der seine Cigarren trotz alles Schmerzes von Armgart selbst ausgesucht und fast angeraucht bekam – sie lernte »Unarten« dieser Art von den Mitpensionärinnen, wenn diese den Besuch ihrer Brüder empfingen – und wenigstens die Spitze der von ihr ausgewählten biß sie noch dem »Vetter« in mechanischer Anschmiegsamkeit an all sein Thun und Lassen ab –, Benno erzählte von dem Ersteigen des St.-Wolfgangberges, von der wirklich angeknüpften Bekanntschaft mit Lucinden, von dem Zusammentreffen im Pfarrhause zu St.-Wolfgang, von dem Begräbniß des alten Mevissen, von der Entweihung des Friedhofs …

Alle diese noch nicht auf die Insel Lindenwerth gedrungenen und doch so überraschenden Thatsachen hörte Angelika voll Staunen, Armgart, da sie den Pfarrer[289] von St.-Wolfgang betrafen, mit dem Gefühl, wie wenn sie nicht Armgart, sondern Paula wäre. Benno mußte unausgesetzt erzählen. Einen so langen, so inhaltreichen Brief hatte sie noch nie nach Westerhof geschrieben wie diesen, den sie jetzt schon couvertirt und adressirt im Geiste vor sich liegen sah; sie betrübte sich bereits um die Vorsteherin Schwester Aloysia, die bei ihrer Censur – alle wenn auch nicht ankommenden, doch aus dem Pensionat abgehenden Briefe las in der That erst Schwester Aloysia – gewiß wieder das Schönste davon für sich genoß, dann aber eine nochmalige Abschrift zu verlangen pflegte, lorsque vous aurez supprimmé les choses inconvenantes.

Aber auch für Angelika waren die Mittheilungen, die Benno in glückseliger Behaglichkeit gab, vorzugsweise überraschend. Diese ihr wohlbekannte Lucinde Schwarz, von der sie seit Hamburg nichts mehr gehört hatte, sie war bei Frau von Gülpen »Nichte« gewesen! Einen Tag, länger nicht! Wie konnte das anders sein, nach dem Wenigen, das sie von dieser »Abenteurerin« wußte und das sie dem Pensionate an der Maximinuskapelle wohlweislich verschwiegen hatte! Und man müßte dann die Menschen wenig kennen, wollte man Angelika's eigenthümlich gezogenem und erstaunendem: Ist's denn möglich? nicht eine gewisse Genugthuung anmerken, daß auch diese Gesellschafterin, wie so viele andere und vorzugsweise sie selbst, den Anforderungen der Dechanei nicht entsprochen hatte. Sie lag in den Worten: Der Dechant ist ein so lieber guter Mann! Zugleich sollte dies Zeugniß von Frau von Gülpen das[290] Gegentheil ausdrücken. Und so gutherzig Angelika war, die Verbindung, in die Benno die neueste Zeitungskunde von dem Mord in der Stadt mit dem Stolze der Frau von Gülpen brachte, verbreitete selbst über ihre, freilich von Staunen und Schreck überschauerten Gesichtszüge doch zuletzt ein gewisses Aufleuchten schadenfrohen Behagens.

Alledem hörte Armgart nur sinnend zu. Benno hatte in seinem Wesen etwas Milderndes und Beruhigendes wie für andere so auch für sie. Sie hätte seine Hand ergreifen und sie wie die eines Bruders halten können … Seine Mittheilungen über Bonaventura's Anwesenheit in der Residenz des Kirchenfürsten, die wahrscheinliche Beförderung und Ansiedelung desselben in dieser Stadt, alles das waren Thatsachen, die ihr Ohr buchstabenweise aufnahm, nur um die für Paula bestimmte Depesche so inhaltreich wie möglich zu machen.

Erzählen Sie mir jetzt von meinem Vater! sagte sie dann, als Angelika etwas zurückblieb. Wie fanden Sie ihn? Ist er so, wie ihn Hedemann schilderte?

Ohne Zweifel … antwortete Benno zerstreut …

Mit Armgart allein zu sein, ließ ihn erhöhter den ganzen Reiz ihrer Erscheinung fühlen.

Ist er groß, so etwa wie – wie Hedemann?

Hedemann war untersetzt, sie hatte »wie Sie« sagen wollen …

Um einen halben Kopf höher, sagte Benno; aber ebenso wetterbraun, ebenso breitschultrig und – wie soll ich sagen – ganz so englisch! Ist Hedemann Schiffssteuermann, so ist Ihr Vater Kapitän oder Commodore![291] Unsere vaterländische Art von drüben hat die passendste Anwendung gefunden …

Wie so?

Unser Land ist ja drüben fast wie ein Meer! Die unermeßliche Heide, das Ackerfeld, der Torfmoor – alles das ist ein Meer des Landes. Auf dem schwimmen wir mit unsern Höfen wüst und einsam. Nicht einmal ordentliche Städte haben wir. Nicht einmal ordentliche Dörfer. Ein Fahrzeug segelt auf gut Glück am andern vorüber.

Unser Volk ist ein seefahrend Volk der Heide …

So! So! … sagte Armgart. Seltsam! Ich hasse alles Englische …

Benno erwiderte lachend:

Ja die englische Aussprache ist schwer!

Die Asche seiner Cigarre drückte er jetzt schon an einem der drei Birnbäume ab …

Nein – darum nicht –! fuhr Armgart ohne alle Reizbarkeit fort …

Aber das Englische hassen? Und das sagen Sie bei Englischen Fräulein?

Die verließen schon vor hundert Jahren England, um in Deutschland unserm Gott besser dienen zu können! Sehen Sie, alle diese Engländerinnen hier ringsum jetzt, die blieben am liebsten auch wie Mary Ward in Rom und bei uns, um katholisch zu sein! Ich weiß das!

Sie wissen das?

Benno verließ den verfänglichen Gegenstand und regte die Phantasie seiner Begleiterin lieber mit allen Abenteuern an, die ihr Vater und sein Freund oder Diener ihm erzählt hatten. Sie hätten Seltenes erlebt,[292] Tapferes geleistet, auch Pensionen dafür gewonnen und stünden unter dem kleinen, beschränkten Volk in Kocher am Fall wie zwei Riesen da, die man auf Jahrmärkten zeigte …

Benno wollte bei diesen Berichten vielleicht nur hören, ob Armgart nicht nach Thiebold de Jonge fragen würde …

Angelika kam inzwischen näher … Sie hatte auf ein Ausruhen gerechnet und fand nun die Wandelnden bereits schon wieder über die Birnbäume hinaus.

Ei, was ist denn das da unten? Sehen Sie! Im Fluß! Da taucht's auf! Nun ist's wieder fort! Geben Sie Acht, da unten kommt's wieder!

Mit jener Sorglosigkeit, die der Jugend auch eben nur dann eigen ist, wenn sie gleichsam ahnt, daß es zu Geständnissen des Herzens noch lange, lange Zeit bleibt und nichts ihm verloren geht, verlangte Armgart plötzlich die Anerkennung ihrer Sehkraft …

Unten im Kahne hatte sich auch Tönneschen aus dem Schilf aufgerafft und warf mit Steinen vom Uferrande über den Wasserspiegel hinweg …

Das seh' ich wol! Der wirst Butterstollen! sagte Benno und erinnerte Armgart an den Ententeich zwischen Schloß Westerhof und Borkenhagen …

Den kennen Sie noch? … Es ist ja eine wilde Ente! … Unsern Ententeich? … Sehen Sie doch nur, wie sie den Kopf aufwirft! Rasch duckt sie ihn nieder und unterm Wasser geht's fort! Sassa! Da ist sie! Im Nu hundert Schritte! Wieder blickt sie auf, dreht den Kopf! Da, da! Guten Tag! … Adieu! Glückliche[293] Reise! … Nein, auf unserm Ententeich gibt's keine so wilde!

Mit dem Verfolgen der Wasserente, die sich Tönneschen zu treffen vergeblich bemühte und die Benno jetzt erkannte, waren beide bei Angelika wieder vorübergekommen, die sich nachdenklich gesetzt hatte und nun ernstlich zum Aufbruch und zur Rückkehr auf die Insel mahnte.

Die Sonne sank schon über die westliche Bergwand …

Und nun, wie wenn Himmel und Erde in bester Ordnung und nichts auf dem Herzen wäre, weder bei ihm noch bei Armgart, durfte Benno scherzen:

Ja, so gehen die Lügen durch die Welt! Von so einer Wasserente kommen ja die Zeitungsenten …

Angelika, die über Benno's Erscheinen überhaupt an ihre vielgeprüfte, treue Liebe erinnert wurde, gedachte der vielen Angriffe, die Doctor Püttmeyer erleiden mußte, gedachte der Macht der Lüge in so vielen Literaturzeitungen und siel mit einem Seufzer ein:

O wohl! O wohl! O wohl!

Dann stellte sie einige Erkundigungen nach Büchern an, wollte von den Ereignissen der Politik hören, von der Burschenschaft, um die Dr. Püttmeyer auch ein Jahr »Köpenick« erduldet hatte, von Benno's bekannten freisinnigen Meinungen und vom Kirchenstreit, bis Armgart, beide unterbrechend, ausrief:

Laßt doch das alles! Kann man jetzt von anderer Aufklärung sprechen als vom Himmel und von seinem Licht! Seht doch nur! Wie der Abend kommt! Ist's nicht, als leuchtete alles in Verklärung! Diese gerippten Wölkchen[294] da oben! Diese leichten Federbüschelchen! Fächer sind's doch wie von Eiderdunen! Nein, wie von großen Perlmuttermuscheln! Wer solchen Staat hätte, wie die Himmelskönigin!

Alles das kam unbefangen und kindlich von ihren Lippen … Daß sie nichts von einer Absicht dabei wußte, bewies die leise Oeffnung der Lippen und der Schmelz der hervorschimmernden kleinen Zähne, cette grimace, die sie nach Anweisung der Englischen Fräulein sich durchaus abzugewöhnen hatte.

Ja, man möchte hier predigen! fiel Angelika in merkwürdig freigesinnter und tief gefühlvoller Zustimmung ein. Diese Berge sind wie Kanzeln!

Ihr treues Herz dachte an Püttmeyer's fehlenden Lehrstuhl …

Kanzeln? rief jedoch Armgart, in der sich jenes Fliegen zur Flamme des großen Gottesherzens zu regen begann. Die Berge sind ja selbst wie Prediger! Wie Redner stehen sie da! Nein, Angelika, wie klein müßte das sein, wenn da drüben einer auf dem Geierfelsen stünde und so zu allen Lügnern der Erde sprechen wollte! Der Geierfels und hinter ihm die sechs andern Riesen, die sind ja selbst die Propheten! Ich höre alles, was sie sprechen!

Was sprechen sie denn? fragte Benno und hatte eben die Cigarre weggeworfen …

Im Tone seiner Frage, im Leuchten seines blauen Auges lag eine so ausdrucksvolle Schwere, daß plötzlich Armgart wie etwas Unsichtbares sich auf sie niedersenken fühlte …[295]

Ja, wie konnte Benno nur in das einfache »Was sprechen sie denn?« soviel Ausdruck legen? Was konnte diese Wendung seines Hauptes, diese Glut seiner Augen bedeuten? So wenig Worte und so viel seltsamer Ton in ihnen!

Es ist doch wol Zeit, zu gehen! sagte sie zaghaft. Sie hätte plötzlich vor irgendetwas entfliehen mögen.

Benno lüftete seinen Hut. Sein kurzes, lockiges, schwarzes Haar war von dem »garstigen Cylinder«, wie es sonst bei Armgart hieß, festgedrückt. Und sonst hätte Armgart gar keinen Anstand genommen, ihm in sein Haar es lockernd zu fahren, wie sie so oft den grauen Locken des Onkel Levinus gethan. Heute hätte sie um alles in der Welt dergleichen nicht mehr wagen können …

Angelika's Geplauder über all den vernommenen und zu verarbeitenden Thatsachenreichthum löste die gedrückte Stimmung. Auch fand sich Benno wieder, auch Armgart. Ja sie schien heiterer und ausgelassener, als sie hörte, was alles Benno in der Gegend hier zu thun hätte und daß er mindestens auch noch morgen da wäre … Aber an seinen Handschuhen sah sie eine aufgesprungene Naht und sonst hatte Angelika für dergleichen Unglücksfälle immer Seide, Zwirn, Nadelbüchse und Schere bei sich in ihrem Beutel, aber heute griff sie nicht, was sie sonst hätte thun können, nach seiner Hand, wagte nicht, ihm den Handschuh abzuziehen … Es trieb sie wie im Wirbel, sie mußte fliehen wie vor sich selbst.

Die Berglehne endete mit einem schroffen Abhang. Den schoß sie hinunter. Die Kanten waren hier eckig; an[296] andern Stellen gerundet, von uralten Moosrunen beschrieben; hier und da stand eine verkümmerte Zwergbirke, dort schwankte eine Distel, hier eine hohe Doldenstaude mit braunrothen, schweren Samenkolben … Ein schwacher Halt hier, ein nachgebender dort … Armgart schoß so hinunter, daß sie plötzlich an einem Gebüsch niedersank.

Nun war aber auch Benno schon längst gefolgt. Wie er an der Stelle ankam, wo sie niedergeglitten, hatte sie von Kamillen mit weißem Blätterrande einige Blumen gepflückt und fing an, einer davon die Blätter abzuzupfen.

Was fragen Sie die Blume? rief Benno …

Und in dieser Frage lag wieder eine solche Glut, in dem Nachfolgen, als sie sich erhob und jetzt ruhiger niederwärts stieg, eine solche Hast und ein so ganz persönlich auf sie gerichteter Entschluß, daß sie der Gedanke überrieselte: Was glaubt er denn? … Den Faust, den kannte sie nicht (wo wird in dieser Erziehung Goethe zugelassen!), aber doch schob blitzschnell ein geheimer Zauber in ihrem Innern der Frage »Vater oder Mutter« (sie wollte nur sehen, welchem Namen das Blumenorakel sein letztes Blättchen ließ) nicht etwa die Frage unter: »Liebt er mich, liebt er mich nicht?« wol aber die: »Kommt auch Benno morgen nach Drusenheim, kommt er nicht?« und als sie sah, wie er nun ihren Arm ergreifen wollte, ihre Schulter berühren, den Ausschlag ihres Zählens so ganz dringend wissen, da unterbrach sie ihn, als wenn er sie nur im Zählen irre machte, mit einem fortgesetzten St! St! sie bekam aber den plötzlichen Einfall – und welcher innere Schalk des[297] Gemüths hatte ihr das zugeraunt! – schadenfroh und übermüthig laut zu rufen:

Kommt morgen Thiebold de Jonge nach Lindenwerth oder kommt Thiebold de Jonge nicht? Kommt Thiebold de Jonge? Kommt Thiebold de Jonge nicht?

So schoß sie bergab.

Sie können ja die nachgemachten Engländer nicht leiden! rief hinter ihr her Benno …

Sie aber glitt bald an einem Steine aus, ließ bald eine Pflanze mitgehen, schoß und rannte und war endlich unten, aber – aufgefangen von Benno's Armen.

Ein junges weibliches Leben, dessen Athemzüge vergangen sind, dessen Brust hämmert, im Arme zu halten! Kennt ihr das Gefühl, wenn ein junger Vogel in unserer verschlossenen Hand gefangen ist, sich duckt, auffliegen will und nicht kann und jetzt ganz nur zu einem einzigen zagen, warmen Herzchen wird, das unter den weichen Federchen klopft und sich fast wie in den Pulsschlag unserer eigenen Hand verwandelt?

So fühlte es Benno eine Weile und länger als eine Secunde und vielleicht den fünften Theil einer Minute nur und doch eine Ewigkeit.

Angelika kam inzwischen den geebneten Weg daher, schalt und rief und machte allen beiden die bittersten Vorwürfe. Armgart aber umarmte sie und erstickte ihre Rede mit Küssen.

Das Thema des Anstandes brachte den Neckkampf aller auf die Würde, auf die Pflichten, die Haltung einer baldigen Stiftsdame von Heiligenkreuz. Diese »Predigt«[298] währte so lange, bis Tönneschen erreicht war am Schilfrohr im sanftgeborgenen Nachen.

Sind Sie denn morgen wirklich noch in der Gegend? fragte Armgart beim Abschied den halb besinnungslosen Benno halblaut.

Benno wollte beiden noch in den Kahn helfen, that es auch erst, wie sich geziemte, mit Angelika, und als er hoffte, Armgart's Hand zu erfassen und aus voller Seele diese zur Antwort wie mit einem Ja! zu drücken, da war sie schon in den Kahn gesprungen.

Deshalb schmollte er und rief O! O!, das Angelika sehr wohl verstand …

Armgart saß aber schon da, glühend wie das Abendroth.

Angelika, die gerade so viel zu »ahnen« sich die Miene gab, als sie schon wußte, war trotz aller Angst liebevoll genug und sagte vor dem Abfahren:

Richtig! Richtig! Sind Sie denn auch morgen im Enneper Thale? Es ist ja Sonntag! Alle Welt hat sich ankündigen lassen …

Thiebold de Jonge! seufzte Benno und Angelika fiel ganz so, als müßte sie nun für die verstummende Armgart auch in deren Art sprechen, ein:

Alle nachgemachten Engländer! Und wenn Sie etwa kommen, Herr von Asselyn, kneifen Sie nur ja nicht auch so eine Lorgnette ein!

Ehe noch Benno antworten konnte – zum Scherz fehlte ihm jeder Uebergang – rauschte es im Schilfe dahin und der Kahn war im Entschwinden.

Eine Weile noch stand Benno, lüftete den Hut, sah lange den Entgleitenden nach und ging landein dem Roland zu.[299]

Das Ufer ist hügelig … zuweilen verschwindet, zuweilen taucht Benno den Mädchen wieder auf … Und je höher sie auf den Spiegel kommen, desto länger noch können sie ihn sehen …

Gern hätte Armgart gewinkt mit ihrem Hute und mit ihrem Taschentuch …

Angelika, die heute so viel erlaubt hatte, verbot es …

Bekam die Gute auch nicht Angst, Armgart würde am Ende noch »tiefsinnig« werden und wol gar sich für unwürdig erklären, morgen in Drusenheim zur Communion zu gehen – dergleichen war vorgekommen – bekam sie auch nicht Angst, daß dann noch obenein die Gutmüthigkeit und Toleranz einer Lehrerin compromittirt werden konnte, die gegen die Englischen Fräulein als Hülfsarbeiterin nur einen zweiten Rang einnahm, so lächelte sie doch und sagte:

Armgart, Armgart! Sprüche Salomonis 14, 29!

Diese Bibelstelle hatte Armgart einst von Tante Benigna in Westerhof aufbekommen, auf ein Weihtüchlein zum Kirchendienst zu sticken. »Wer aber ungeduldig ist, der offenbaret seine Thorheit!« lautete sie. Die Ungeduld galt für Armgart's Erbfehler.

Sonst wäre Armgart über diese einzige Partie in der Religion, wo sie ketzerisch, ja ganz ungläubig fühlte, aufgefahren, aber wir sehen sie still, ergeben und schweigsam …

Selbst von dem Briefe aus Kocher frägt sie nichts mehr, sondern sieht nur auf die Welle, gegen deren ganze Macht Tönneschen rudern muß …[300]

So kamen sie – Benno war verschwunden – am nördlichen Ende der Insel an.

Eine ältliche Dame, in schwarzem Kleide, mit einer weißen, mit Bandschleifen am Hals und über die Brust herab besetzten Halbtunica, ein weißes geflügeltes Häubchen auf, begrüßt sie … Es ist Schwester Aloysia, die Vorsteherin.

Und unter ihrem »Mozzeto« zieht auch sie einen Brief hervor.

Auch er war an Angelika gerichtet und kam aus Wien und kam von Armgart's Mutter!

Ein Herr hatte ihn abgegeben, jener Fremde, der ganz nach Benno's Vermuthung in den »Vier Jahreszeiten« drüben für eine Dame Zimmer bestellt hatte und wirklich von hier, wo ihn die zerstreuten Wanderer am Hüneneck nicht landen gesehen hatten, hinüber nach Drusenheim gefahren war …

Armgart bebte zusammen …

Es war ihr, als zitterte um sie her die ganze Welt …

Angelika nahm, von der Vorsteherin beobachtet, den Brief und ging damit in scheinbar kalter Ruhe auf ihr Zimmer.

Armgart folgte, drängte aber nicht mehr und fragte nicht mehr. Fast war ihr wirklich wie einer Sünderin und als sie sich über die düstern Gänge in ihren Wohnsaal geschlichen, als sie mit einem tiefen Seufzer dort ihren Hut, ihren Shawl abgelegt hatte, als alle Mädchen jetzt zum einfachen nächtlichen Mahle gingen und Angelika erst kam – solange hatte sie gelesen! – als Schwester Aloysia schon vorbetete und Armgart so abwesend,[301] so ernst dasaß, da bekam Angelika wieder Angst, sie wäre wirklich im Stande, alles das morgen noch in erster Frühe und vor der Communion dem Pastor Engeltraut zu beichten, was heute vorgekommen! … Schwester Aloysia betete dabei und zwar französisch … Sie war aus Strasburg und verband mit allem Guten und Frommen, dem hier fürs Leben der Grund gelegt wird, eine leidliche Aussprache und einen ziemlich richtigen Accent. Man hatte alles hier auf Gott, auf die heilige Jungfrau, den heiligen Joseph und die Engel und Erzengel gebaut, sogar den Subjonctiv und die schweren Beugungen der Verbes irrégulaires, den delicaten Gebrauch der Formen que vous parlassiez und que nous parlassions und die Participialconstructionen, die an dieser Sprache für jeden so fremdartig sind, der nicht wie Tönneschen Latein kann … Und wenn Schwester Aloysia vom besten pariser Französisch dann in das beste strasburger Deutsch übersprang, war's dann freilich immer wie der Uebergang vom Rauschen eines seidenen Kleides zum Klappern von Holzschuhen, vom Gesange eines Canarienvogels zum Gekoller eines Truthahns; denn ihre strasburgisch-deutsch Muttersprache sprach sie, als wäre sie hier eigens dafür angestellt, einige Irländerinnen und Französinnen in der Anstalt vom Erlernen des Deutschen abzuschrecken. Und das zweite, vom Muttersitz der Soeurs angéliques hierher beurlaubte Englische Fräulein (der der Erziehung sich widmende Orden ist nicht an strenge Clausur gebunden), Schwester Gertrudis, sorgte für Eintheilung der Speisen und rühmte das Wetter für den morgenden[302] Sonntag, an den sich allgesammt die schönsten Hoffnungen knüpften.

Immer mehr brach zuletzt ein stillverhaltener Jubel aus. Das Pensionat wußte von den zu erwartenden »nachgemachten Engländern«, – aber darüber gab es nur Flüstern, leises Necken und Kichern, laut wurde nur besprochen eine Einladung der jungen Madame Bernhard Fuld. Die Nachbarinnen waren aufgefordert worden, morgen Nachmittag die berühmte Billa und den Garten drüben in Augenschein zu nehmen und Pastor Engeltraut hatte dazu die Erlaubniß gegeben!

Armgart hörte das alles nur halb. Erst als der germanische Uebermuth eines Theils auch dieser Jugend sich in allerlei Spott über die Besitzer von Drusenheim erging und ganz wie die Freunde Piter Kattendyk's, mit denen einige bis zur unmittelbaren Geschwisterschaft verwandt waren, die bekannte christliche Rache für den einst von den Juden Gekreuzigten nahm, thaute auch sie auf und erklärte, daß sie den Herrn Bernhard Fuld zum Generaleinnehmer und Finanzminister ihrer Einkünfte als Stiftsdame von Heiligenkreuz ernennen wolle.

Armgart'sche Einfälle elektrisirten dann gewohntermaßen alles …

Es wurde nun so laut, so ausgelassen unter dem jungen Volke, daß die vier Erzieherinnen (die vierte lehrte nur Musik) dafür waren, lieber jetzt aufzustehen und de se promener encore dix minutes sous les tilleuils et dans le jardin …

Aber auch das geschah so wild – es ist Sonnabend! – daß die Schwestern Aloysia und Gertrudis Ruhe gebieten[303] mußten und das ganze Personal in die Corridore und auf die Schlafsäle schickten.

Auch Angelika war, sie wußte selbst nicht worüber, ins Lachen gekommen – aus Nervenschwäche, sagte die Gute – raunte aber beim Gutenachtsagen ihrer geliebten Armgart, ihrer besondern Schutzbefohlenen (die indessen nicht mit ihr, sondern mit fünf andern in einem Saale zusammenschlief) neckisch zu:

»Wer aber ungeduldig ist, offenbaret seine Thorheit!«

Armgart nickte und hatte sich heute in der That auch zur Anerkennung dieses Spruches bekehrt.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 264-304.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Elixiere des Teufels

Die Elixiere des Teufels

Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.

248 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon