7.

[194] Bis sechs Uhr hatte Bonaventura auf die Rückkehr des Mönchs gewartet und er hätte dann lieber wünschen mögen, er wäre nicht gekommen …

Der Pater kam in einer Aufregung, die ihm wahrhaft beängstigend wurde.

Gleich die Art, wie er von den mit ins Grab genommenen Lesarten des Origines, dem wirklich erfolgten Tode des bewußten Domherrn, dann von Bonaventura's Aussichten auf dessen Stelle sprach, war für sein Gefühl verletzend …

Dann führte er ihn wie in blinder Wahl einem Thore zu … Er versprach ihm den angenehmsten Eindruck von einer Promenade um die alten Wälle der Stadt. Einige der letztern waren zu öffentlichen Vergnügungen bestimmt. In mäßiger Entfernung von einem solchen, den man den Apostelgarten nannte, beredete er Bonaventura, sich mit ihm auf eine im Gebüsch versteckte Bank zu setzen und durch eine Oeffnung der Gesträuche dem Treiben in dem überfüllten Lokale zuzusehen. Da und dort standen Tische und Lauben, die immermehr sich besetzten und füllten; Kellner und Kellnerinnen schritten[195] hin und wieder von einem nach außen angebrachten Büffet eines einstöckigen langen Hauses. Rings hatte das Auge die Aussicht auf Häuser und Gärten, auf alte zerklüftete Mauerreste, hier auf einen wohlerhaltenen epheuumwundenen Thurm, dort auf eine baumbeschattete Kapelle, in weiterer Entfernung auf eine neue Ringmauer, Theile neuer Befestigungen, dann über sie hinweg auf die Kette der Sieben Berge – alles das vermochte auf einige Zeit zu fesseln … Sogar eine Nachtigall schlug plötzlich und der Mönch lachte über seinen Begleiter, der nicht sogleich entdeckte, daß dieser nach der Jahreszeit völlig unmögliche Ruf von einem Künstler kam, der drüben die Vogelstimmen nachahmte.

Hören Sie nur! rief der Pater, als Bonaventura die Kunst des Mannes bewundern mußte, der bald auch die Lerche steigen und die Amsel singen ließ, die halbe, nicht fertig gewordene Nachtigall, wie Sebastus sie nannte. Sehen Sie nur den Menschen! fuhr er fort. Ist es nicht ganz ein Affe! Und doch hat er so sein Ohr erzogen! Wie er den kleinen Nachschleifer trifft, wenn Hans Kanarienvogel mit der Roulade fertig ist und ganz armselig hintennach noch ein kindisch Tönchen gibt, als wäre der große, mächtige Triller vorher gar nicht so majestätisch gemeint gewesen! Wie dumm sieht der Mensch aus und alles das hat er belauscht im Walde und auf dem Vogelmarkt! Auf Noten steht das nirgends geschrieben! Ich wünschte, daß Sie ihm für diesen Blick in die Natur einen Groschen schenkten; ich habe kein Geld …

Der Vogelmensch kam jedoch nicht. Er sah die beiden Geistlichen, verbeugte sich in der Ferne und ging …[196]

Nun spielten drei Mädchen zugleich mit einem Alten ein Concert. Eins spielte die Harfe, zwei die Geige, der Alte strich das Violoncell …

Bonaventura wollte gehen; aber der Mönch, der sein geistlich Kleid ganz vergessen zu haben schien, sagte:

Wie das toll ist, wenn Mädchen die Geige streichen!

Die Spielerinnen waren keine Kinder mehr. Aufgenestelten Haares, mit versilberten Pfeilen in den Flechten, in blauen Kleidern mit rothen Shawls, die sie vor ihrer Production abgelegt hatten, strichen sie die Geige, herausfordernd, sicher und trotzig. Vorher hatten sie Handschuhe ausgezogen …

In alten Tagen, sagte der Mönch, konnt' ich nun einer solchen Vagabunden-Romantik nicht widerstehen! An solches Volk mußt' ich herantreten, mußt' es nach seiner Heimat fragen und aus ihm heraus mir Poesie des Lebens locken … Nur hölzerne und lackirte Sirenenköpfe sind's! Ganz, wie sie auf der hamburger Rhede auf die Brust der Dreidecker gestellt werden!

Und als weilte des Mönches Phantasie jetzt auf dem Hamburger Berge, so fummte er für sich hin und sinnend im Heine'schen Tone:


Es kichern und lachen die Geigen

Wie Mädchen, trunken vom Wein,

Die Clarinetten meckern

Wie Böcke und Satyrn hinein;


Die Flöte schluchzt, wie wenn dem Monde

Des Schneiders Herz klagt, was es litt!

Der Baß und die Pauke, die Alten,

Die reiten zum Blocksberg mit!
[197]

Bonaventura erhob sich. Der Mönch folgte wie in taumelndem Schritte …

Wol eine halbe Stunde gingen beide völlig lautlos nebeneinander … Bonaventura, erschreckt von der noch so offenbaren Unfertigkeit des neuen Gebäudes im Innern seines Begleiters, dessen Gerüst Pater Sebastus doch mit soviel weithin in die Welt hinausschallenden Axtschlägen gezimmert hatte … Dieser selbst mit ersichtlich sich hebender Brust, kämpfend und ringend mit Dämonen der Erinnerung …

Ja, Sie Glücklicher! sagte er nach einer Weile zu Bonaventura, obgleich kein Wort des Vorwurfs von dessen Lippen gekommen …

Wieder ein langes Schweigen … Dann blieb in einer Straße, auf dem Römerwege, der Mönch stehen und sagte:

Das da ist das Karmeliterinnenkloster! Ich kann es nicht sehen, ohne zu ahnen, daß auch mein Lebensloos einst … Du guter Pater Ivo! … Lang und hager schreitet unser Pater Ivo dahin, grüßt niemanden, ist immer nur mit sich selbst beschäftigt … Morgens, Mittags, Abends vollführt er das Amt unseres Tafeldeckers … Er hütet streng seinen alten Wandschrank, in dem unsere hölzernen Teller, unsere Krüge, unsere Brotmesser liegen … Sorgsam deckt er den Tisch … Nie wird er den Teller des einen mit dem des andern vertauschen … redet man ihn aber an, so hört er nicht … Tief ist er mit sich, mit seinen Tellern und mit seinen Geistern beschäftigt … Früher waren es Fliegen, die er so in Gedanken haschte … Ivo hatte ein schönes Schloß, in[198] unsern Bergen … er erklärte es verkaufen zu müssen, weil es von Fliegen wimmelte … Niemand sah diese Fliegen; nur Er war Tag und Nacht hinter ihnen her und jagte sie sogar im Winter und im Frühjahr … Bald bekamen die Fliegen eine andere Gestalt … Sie verwandelten sich in schöne Frauen … Alle die Bilder, gemalte und lebendige, die mein Freund – Jérôme von Wittekind – (Sebastus hielt eine Weile inne) und Graf Johannes von Zeesen auf ihren Reisen in Frankreich und Italien gesehen, umschweben wieder den Pater Ivo, aber er betrachtet sie wie ein unschuldiges Kind … Er kennt die ganze Gefahr dieser Erscheinungen … Es sind schlimme Meerweiber, Melusinen, Helenen, um die Paris wirklich und Faust nur gespenstisch freite – ihm selbst sind sie längst unschädlich geworden, schon seitdem er Therese von Seefelden kennen lernte und sich mit ihr verlobte, leider nur auch diese zu bald verwechselnd mit der einzigen Frau, die ihm von allen persönlich bekannt geblieben, dem »Ewig Weiblichen« genannt Maria … Dem Dienste der Gottgebärerin widmete er sich, sammelte alle Lieder, die je auf sie gedichtet und gesungen wurden, gab sein Vermögen für eine Stiftung der Krankenpflege, die seine Familie schon seit einem Jahrhundert begründen sollte – der Irre einem Irrenhause! – und verjagt nun in unserm Kloster, das er in noch zuweilen lichten Momenten betrat, die Bilder, die – nur zu lebhaft noch vor anderer Augen schweben! … Husch! Husch! ist sein stetes, leise vor sich hingesprochenes Wort und sein Singen im Gehen das Lob Mariä … Diesen Gesängen, die er vor sich hinmurmelt, schreibt er eine[199] große Kraft zu; selbst am Hochaltar flüstert er: Husch! Nicht für sich, sondern für uns verjagt er die Melusinen … Ich sehne mich nach seinem Husch! … Hier in dem Kloster betet Schwester Therese für ihn – und um die Verzeihung der Gottesmutter, daß sie eine Zeit lang eifersüchtig auf sie war.

Wenn auch diese Erzählung wie etwa das Adagio einer auf einer Straße spielenden Musikantentruppe vom Wagengerassel übertönt wurde, klang sie doch in Bonaventura's Innern tief schmerzvoll nach. Die Fülle sah er jener krankhaften Erscheinungen, die von ihm nicht geahnt wurden, so oft man von Wiedererweckung des alten kirchlichen Lebens sprach. Oder sollte er der Stimme seines Innern Gehör geben, die ihm mit seltsamer Erregung zuflüsterte: Ist dem Mönche – Lucinde begegnet?

Es war Abend geworden … Das Angelus läutete … Arbeiter drängten sich in den staubigen Straßen … Das Gewühl nahm so zu, daß Bonaventura von des wie träumenden Mönches Seite abkam und dieser ihn entweder plötzlich verlassen oder aus den Augen verloren hatte … Den Eindruck des fast Gespenstischen, den ihm der Mönch machte, nährte auch der Umstand, daß er so harmlos Jérôme's als seines Freundes erwähnen konnte, gar nicht wissend, wie es schien, daß Bonaventura mit Jérôme verwandt war … Wie ein Lebendigbegrabener erschien ihm der Mönch, wie ein Todter, der anfing sich seinen Leichentüchern zu entwinden.

Bonaventura suchte Benno auf und fand ihn in seiner Wohnung mit dem Vervollständigen seines Koffers beschäftigt.[200]

Ich muß abreisen, sagte Benno aufgeregt; noch heute, guter Freund! Morgen, früh schon hab' ich am Hüneneck einen Termin abzuhalten! Das Dampfschiff geht in einer halben Stunde!

Wie gern hätte sich Bonaventura ihm angeschlossen! Morgen sprech' ich wol den Kirchenfürsten! sagte er.

In drei Tagen seh' ich dich wieder als designirten Domherrn, den jüngsten aller Kirchenprovinzen germanischer Zunge!

So hohe Erwartungen ablehnend, half Bonaventura dem Freunde und begleitete ihn in einem Wagen in den Hafen, in kurzer Erzählung alles zusammenfassend, was ihm der Tag an Erlebnissen und schmerzlichen Bereicherungen seiner Seelenkunde eingetragen.

Benno empfahl dem Freunde aufs dringendste eine Anknüpfung mit dem »guten Kerl«, dem Thiebold de Jonge, von dem er keinen Abschied hatte nehmen können.

In die Beziehungen beider Freunde zu Armgart war Bonaventura nicht eingeweiht.

Auch blieb kaum noch die Zeit, der Meldungen an den Oheim in der Dechanei zu gedenken und Benno's Worte zu vernehmen:

Bei Nück erfuhr ich's, es ist kein Zweifel, die Ermordete ist eine Schwester unserer guten Tante! Seit Jahren sind sie getrennt! Was ihr Geiz zusammenscharrte, hat sie dem Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort vermacht! Das Meiste davon fehlt aber, da der Mörder die Gelegenheit kannte und die werthvollsten Papiere und Gold und Silber an sich raffte! Wer die That vollbracht hat – ich glaube die teuflische Hand[201] zu kennen! Noch aber hab' ich meinen Verdacht gegen niemand auszusprechen gewagt, denn ich fürchte den Zusammenhang mit Personen, die zu schonen sind. Komm' ich zurück, so soll mich nichts hindern, meine Vermuthungen auszusprechen, wo die rechte Stelle ist.

So, fast nur von Einem Gedanken beherrscht, fuhr Benno von dannen. Bonaventura mußte eilen, das Dampfboot zu verlassen …

Ein banger, erwartungsvoller Abend dann … er fand die Berufung zum Kirchenfürsten für morgen vor.

Der Mönch kehrte nicht wieder und Bonaventura war dessen froh … Er sann und sann:

Ist hier Christus oder Belial?

Er mochte nicht richten … ja er gestand zu, Gott schenkt jedem Menschen besondere und nur für ihn berechnete Offenbarungen. Diese stehen in keiner Bibel, in keinem Buche, sind überhaupt nicht mit Worten zu fassen und zu bezeichnen. Sie sind ein einziger Klang, den wir aus dem Sphärenall wie herausgefallen zu vernehmen glauben, ein Glanz wie von einer Sternschnuppe, wenn diese eine Störung genannt werden kann in der ewig gleichen Harmonie der Weltbewegung … Solche Offenbarungen gibt der stille Wald, das Murmeln der Quelle, auch der leise Schlag einer Uhr, die wir auf dem Tische vor uns liegen haben. Da sickert so Tropfen an Tropfen hinunter, in den großen Zeitenstrom und macht uns sorgloser durch das Gefühl, daß alle Dinge irgend an einer Grenze ankommen müssen … Er mochte nicht richten.

Eine starke Waffe in allem Leid und aller Anfechtung[202] der Seele ist dann reine Liebe. Die reicht einen ehernen Schild dem Arm zum Kampfe gegen Leidenschaft und Ungeduld. Ihr Visir schützt das Auge, nichts zu sehen von den Lockungen der Welt. Reine Liebe hütet selbst die Träume. Ohne Kampf entwaffnet sie die Gedanken und verklärt sie mit himmlischem Lichte, daß nur das Gute und Edle in uns lebt … Pflanze, Jüngling, reine Liebe schon auf den ersten Ringplatz deiner Berührung mit der Welt! Reine Liebe im Herzen, wirst du im Alltäglichsten dich vom Duft des Schönen, vom Palmenfächeln des Großen, vom Hosianna innerer Siege, umweht fühlen!

So lebte in Bonaventura ein Name, der alles Chaos in ihm ordnete … Paula … und ein ferner Männergesangchor sang dazu durch die stille Nacht: Das ist der Tag des Herrn!

Am folgenden Morgen mit dem Schlage Zehn trat er in den kirchenfürstlichen Palast.

Sein Herz klopfte, als er durch die langen Corridore des Hauses dahinschritt.

Verblaßte Malereien zierten zuweilen das Stuckgetäfel der Decken; an den Wänden hing hier und da eine alte Schilderei in schwarzem, wurmstichigem Holzrahmen, ein alter Städteprospect von Merian, eine alte Landkarte von Homann; in vereinzelten Nischen standen Heiligenbilder, mit frischer, lichter Oelfarbe überzogen, im dürftigen und selbst beim Heiligen weltlichen und koketten Geschmack der Zopfzeit, Engel auf Stellungen berechnet, Marieen auf Faltenwurf …

In einem düstern Eckwinkel lagen die Wohnzimmer des Kirchenfürsten. Im Gegensatz zu den auf den frivolen[203] Luxus des vorigen Jahrhunderts deutenden Corridoren waren diese Zimmer so dürftig ausgestattet, wie Actenstuben oder Sessionssäle.

An der Unruhe eines zuerst kommenden großen Wartezimmers hätte man eher glauben mögen, sich bei einem Minister, als bei einem hohen Geistlichen zu befinden …

Eine der hohen Thüren führte in das General-Vicariat …

Hier klirrten sogar die Sporen der Gensdarmen, die Säbel der Ordonnanzen. Man brachte vom Gouvernement und von der Militärverwaltung Fragen und Antworten, holte und gab Bescheide. Kanzleiboten trugen Acten ab und zu. Dazwischen gingen und kamen Geistliche und Ordensfrauen. Wer nicht beim Generalvicariat oder beim Kirchenfürsten sofort Einlaß bekommen konnte, saß harrend und mußte nach neukirchlicher Sitte jeden unbeschäftigten Augenblick zum Heile seiner Seele nutzen. Man grüßte mit neugierig aufblitzenden Augen und warf den Blick sogleich wieder in das Brevier, das man aufgeschlagen auf dem Schoose liegen hatte. Ein schwerer Druck lag auf allen, nur auf denen nicht, die als Sendboten oder Vertreter der weltlichen Gewalt kamen.

Der junge von Enckefuß fehlte nicht. Er setzte einem jungen, hagern, lächelnd, doch aufmerksam zuhörenden Geistlichen mit lauter Stimme auseinander, daß die einen nahen Wallfahrtsort besuchenden Züge nicht durch die Stadt gehen dürften; er beschrieb die Route, die sie zu machen hätten, und wünschte, da er eine Auswahl anbot, in Kürze die Wege zu wissen, die der Kirchenfürst gewählt[204] wünschte, da es an Aufsicht dabei nicht fehlen sollte. Des jungen Beamten Haltung und Rede war fest und bestimmt, scharf und kalt, wie dies der Ghibellinen Weise.

Auch Civilpersonen aus dem Volke sah man. Es mochten Dorfvorstände und städtische Abgeordnete sein. Ihnen setzte der junge schlanke Priester, meist mit Achselzucken und einer gewissen Duldermiene, auseinander, daß die von ihnen erwarteten höhern Bescheide immer noch nicht eingetroffen. Es galt dies ohne Zweifel jenen Pfarrstellen, die allein besetzen zu dürfen die Kirche so dringend begehrte und die sie die weltliche Gewalt beschuldigte, wenn die Stellen gut waren, so lange offen zu halten, bis nur diejenigen damit belohnt würden, die darauf hin eine entsprechende Gesinnung zeigten.

Der schlanke etwas niedergebeugt gehende junge Geistliche trat auf Bonaventura zu und sprach, als er dessen Namen vernommen, ein freudiges:

Ah, Herr von Asselyn!

Sogleich fügte er hinzu, er würde alles versuchen, den Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang sobald als möglich an die Reihe der Vorgelassenen zu bringen.

Bonaventura sah, daß er mit dem vielgenannten Secretär, Kaplan Michahelles gesprochen.

Dieser war in die innern Räume eiligst wieder zurückgekehrt …

Das Wesen des jungen Mannes zeigte sich charakteristisch genug. Seine Gesichtszüge waren scharf, geistvoll und von einer eigenthümlich lächelnden Ironie, die auf ein zwar zurückgehaltenes, aber doch sich ganz so stark, ganz so berechtigt, mindestens so muthig fühlendes Bewußtsein schließen[205] ließ, wie es allen katholischen Priestern, von Seiner Heiligkeit, dem »Knechte der Knechte« an bis zum untersten Dorfpfarrer, eigen ist.

Auch Bonaventura zog sein Brevier und setzte sich an ein Fenster des großen Zimmers, das auf die jenseitige Straße ging.

Wenn hohe Würdenträger kamen, standen die Geistlichen und Klosterfrauen auf …

So vor dem Generalvicar, der eben aufgeregt und verstimmt von dem Kirchenfürsten zurückkehrte …

Man wußte, daß mit jenem sowol der Letztere, wie der Syndikus der Curie und diejenigen einflußreichen Glieder des Kapitels, die sein »gewaltiges Vorschreiten« misbilligten, im Streite lebten.

Auch vor dem Regens des Seminars erhob man sich, der gleichfalls wie nach einem Wortwechsel vom Kirchenfürsten zurückkam …

Bonaventura erfuhr die Namen. Einige der streitigen Punkte kannte er. Die Seminaristen, angesteckt von dem neuen Geiste der römischen Opposition, hatten an dem Kirchenfürsten Vorschub gefunden in gewissen Auflehnungen gegen die vom Staat beliebte und vom Regens vertretene Ordnung des Seminars.

Einige Professoren der Universität, die eine von Rom verurtheilte Dogmatik gelehrt hatten, kamen in besonders gedrückter Stimmung und stellten die Bitte, den Kirchenfürsten sprechen zu dürfen. Bonaventura kannte sie und war fast der einzige, der sie grüßte. Einige von ihnen waren zugleich Lehrer eines Seminars und ihnen war es geschehen, daß sie plötzlich keine[206] Schüler mehr hatten. Im Beichtstuhl hatten alle Alumnen auf Befehl des Kirchenfürsten geloben müssen, ihre Vorträge nicht mehr zu besuchen.

Michahelles kam zurück, trat verbindlichst zu Bonaventura und zog ihn zu sich an eine Fensterbrüstung …

Sie werden sogleich vorkommen! flüsterte er und setzte mit leiserer Stimme hinzu: Ich freue mich, von Eminenz schon die Erlaubniß zu haben, Sie mit seinem Vorhaben bekannt zu machen! Wenn Sie die angenehme Erinnerung, die er seit lange an Sie nährt, wieder erneuern und Sie noch einige Tage der nähern Prüfung und Verständigung werden zu Ihren Gunsten überstanden haben, so ist es seine Absicht, Sie ganz und mit wichtigen Aufgaben an uns zu fesseln!

So stand das Gefürchtete wirklich in Aussicht …

Ein Diakonat an der Kathedrale und eine Domherrenstelle sind offen; fuhr Michahelles fort und setzte mit noch gedämpfterer Stimme hinzu: So könnten Sie auch Hoffnung gewinnen, sich wieder Ihrer Heimat zu nähern, denn das wechselnde Besetzungsrecht des Archipresbyteriums St.-Ludgeri bei Witoborn, das mit dem erledigten Vicariate eine jeweilige Visitation der dortigen Pfarrei verbindet, fällt diesmal an uns, d.h. an unsern Vorschlag. Die Lutheraner haben, wie immer, die Entscheidung …

Diese mit einer seltsamen Schärfe vorgetragene Mittheilung erschütterte Bonaventura.

Er mußte nach dem angedeuteten, ihm unbekannten Verhältniß noch einmal fragen …

Michahelles erklärte es:[207]

In die alte Kirche St.-Ludgeri bei Witoborn sind fast sämmtliche Dorste'schen Besitzungen eingepfarrt. Seit urdenklichen Zeiten steht über dem Pfarrer derselben ein Archipresbyter, der bald von der diesseitigen, bald von der jenseitigen Kirchenprovinz bestimmt wird. Sie würden sicher zuweilen gern bei Westerhof leben, wo gegenwärtig die Gräfin Paula in so schwierige Verhältnisse verwickelt wird! Daß sie auch seit kurzem wieder von ekstatischen Zuständen begnadet ist, wird Ihnen bekannt sein! Es würde zu den erfreulichsten Zeichen unserer Tage gehören, wenn sich das Beispiel der gottseligen Emmerich wiederholte und auch uns wieder eine Seherin und Prophetin erstünde!

Und mit einer nicht mehr zu bewältigenden Macht drängten sich auf Bonaventura's Herz die Gedanken: Deshalb beruft man dich! Du, du sollst es sein, der wieder eine »Nonne von Dülmen« ins Leben rufen hilft! In deiner Nähe sieht Paula den Himmel offen, in deiner Nähe heilt sie Kranke und sagt die Zukunft voraus! …

Und noch ehe der lächelnde, aber die wohlwollendste Ermuthigung sprechende Blick des Kaplans diese Ahnung bestätigt hatte, mußte er abbrechen und zu einem eben Eintretenden eilen …

Dies war die oberste Persönlichkeit der weltlichen Behörden der Stadt selbst, ein mit Orden bedeckter Präsident. Er kam feierlich, in erregter Haltung und, wie es schien, mit einem officiellen Auftrage.

Von einem Wartenlassen war da keine Rede. Sogleich öffneten sich zum Kirchenfürsten alle Thüren …[208]

Michahelles flüsterte im Vorübergehen in Bonaventura's Ohr:

Der längst angekündigte eigenhändige Brief des Königs!

Michahelles folgte erwartungsvoll …

Alles war vor dem Präsidenten aufgestanden. Auch aus dem Generalvicariate waren Geistliche und Weltliche getreten, die ohne Zweifel die feierliche Auffahrt des Präsidenten beobachtet hatten. Alles schien in höchster Spannung. Bonaventura wußte, daß es eine Entscheidung über die gemischten Ehen galt. Sein Sinn war getheilt, sein Herz im Kampfe … Ihn hatte man ausersehen, den Kampf um Paula's Erbe mitzukämpfen! Ihn wollte man in die Nähe eines Wesens senden, das ihm unendlich theuer war, wie ohne Zweifel von früher her Manche wußten … Dem Kloster, der Kirche, dem Kampfe der Parteien sollte er eine große Eroberung gewinnen!

Die Gedankenreihe auszuführen in allen ihren Folgerungen – in ihren seligen, in ihren tiefschmerzlichen – behielt er nicht Zeit …

Der Präsident kehrte nach kurzer Weile zurück, ebenso feierlich und bestimmt, wie er gekommen …

Er grüßte die sämmtlich sich Verneigenden. Dem Generalvicar drückte er die Hand …

Diesem entschlüpfte ein bedeutungsvoll aufgeschlagener Frageblick – jenem ein Achselzucken …

Alles das war ein Moment …

Bonaventura mußte voraussetzen, daß der Brief des Königs kurz und bündig übergeben und ebenso von dem[209] Priester Immanuel entgegengenommen war und daß der täglich erörterte Streit heute von beiden Seiten ohne weitere Wiederaufnahme blieb.

Wie sehr mußte er annehmen, den Empfänger in einer Aufregung zu finden, die seine kleine Sache in den Hintergrund drängte!

Michahelles kam, fertigte die Professoren ab, sagte laut und fast verletzend, daß sie Seine Eminenz vor völliger Unterwerfung unter das Breve Roms, das ihre Lehre verwarf, nie empfangen würde, winkte Bonaventura und ließ diesen eintreten.

Bonaventura mußte zwei Zimmer durchschreiten …

An einer kleinen Thür stand ein greiser Diener in alter verschossener grau und grüner Livree …

Er öffnete …

Bonaventura stand vor dem Kirchenfürsten.

Nicht mit einer leisesten Bewegung verrieth der Priester Immanuel, wie es ihn aufregte, eben von seinem Landesherrn ein eigenhändiges Schreiben empfangen zu haben. Ja, auf einem grünen Tische lag dies Schreiben noch … Es trug die blaue Farbe der Cabinetsbriefe … Mehr noch! Das Siegel war uneröffnet.

Priester Immanuel war derselbe, der als Graf Truchseß-Gallenberg, als Generalvicar und Domherr in Bonaventura's Erinnerung lebte … Mager, starkknochig, länglichen Antlitzes, hart, ernst. Kein Strahl einer besondern Freude, den jungen Mann, den er als Studenten und Soldaten gesehen, nun als Priester des vorzüglichsten Rufes zu begrüßen, brach aus seinen Augen. In einfachen Worten erinnerte er sich der Scenen von[210] früher. Er freute sich zu hören, daß Bonaventura von seiner Mutter wenig wußte und über die Lebensverhältnisse des Stiefvaters nur ganz oberflächlich unterrichtet war. Bonaventura sah, daß Benno's Voraussetzung, er sollte zur Vermittlung bei der erwarteten außerordentlichen Mission seines Stiefvaters gebraucht werden, eine unbegründete war.

Der Kirchenfürst rauchte aus einer kurzen Meerschaumpfeife. Er machte den Eindruck eines Oberjägermeisters alten Stils oder, wenn man erwog, daß er den Brief eines Königs unerbrochen lassen konnte, eines jener Fürsten, die wenn auch nur über wenig Quadratmeilen gebietend doch um Kaiser und Reich sich wenig kümmern, wenn sie auf irgendeinem in ihrer Souveränetät begründeten Rechte glauben verharren zu dürfen.

Wir müssen aus dem Geiste leben! sagte er im Anknüpfen der ersten Begrüßung an die frühere Begegnung und in den Intervallen des Rauchens. Jede Geburt und Wiedergeburt bringt Schmerzen! Ist eine Mutter ein großes Wort, ist der Geist ein größeres! Unsere Mutter ist die Kirche!

Und dann, als wäre die ganze Welt in Frieden mit ihm und keine andere Wolke für ihn zu zerstreuen, als die aus seiner Meerschaumpfeife, erkundigte er sich nach Bonaventura's Bildungsgang.

Auf- und abgehend, wünschte er von den Ergebnissen seiner Seelsorge zu hören, kam auf das nahe gelegene Kocher am Fall, vermied des Dechanten zu erwähnen, rühmte aber den dortigen Aufschwung der Gemüther[211] und deutete offenbar die Bestrebungen des Stadtpfarrers an, wenn er sagte:

Nur ist es unsere Pflicht, bei solchem Festhalten an dem Felsen, auf dem der Herr seine Kirche gegründet wissen wollte, Seltsames und Auffallendes zu vermeiden! Es sind mancherlei Gaben und mancherlei Aemter. Nur pflege und warte man jener ebenso im Geiste der Mäßigung, wie dieser nur im apostolischen Sinne! Die Grenzlinie erlaubter Bewährung eines Talentes, wo sie plötzlich Ruhmsucht wird, ist bald überschritten. Ich sag' es nicht zuerst: Selig sind die Armen am Geist!

Mit diesem Seitenblick auf Hunnius' schriftstellerische Thätigkeit forderte er Bonaventura auf, sich zu setzen.

Da er es selbst nicht that, verhielt sich Bonaventura zögernd …

Der Kirchenfürst eröffnete ihm jetzt, daß er ihn an die Kathedrale zunächst als ersten Vicar berufen, demnächst aber auch für die erledigte Domherrenstelle vorschlagen wolle.

Von Widerspruch konnte nicht die Rede sein.

Er hoffe, fuhr der Kirchenfürst fort, daß Herr von Asselyn den Geist besäße, den jetzt die Kirche brauche, nicht Hirten allein, auch Reisige …

Wir haben schon Großes errungen und werden mehr erringen! sagte er und blickte dabei ruhig auf das rothe Siegel des uneröffneten Königsbriefs.

Bald bemerkte Bonaventura, daß der Kirchenfürst noch mehr auf dem Herzen zu haben schien, irgendetwas, das er noch Anstand nahm sofort auszusprechen. Offenbar wollte er erst den Geist ergründen oder bestärken,[212] der seine weitern Aufträge vernehmen und ausführen sollte.

Wenn ich zurückdenke an meine Jugend! begann er, ruhig fortrauchend und dabei auf- und abgehend, während Bonaventura stehen blieb und nur auf die Lehne des von ihm ergriffenen Sessels sich stützte … Als ich in Ihrem Alter war, Herr von Asselyn, welche Zeit, welche Welt damals! Bonaparte haßte die Kirche! Er haßte sie mit dem Ingrimm eines tückischen Italieners, für den das Heilige seinen Zauber verloren hat, da er diesem Zauber zu nahe steht! Bonaparte trug alle Merkmale des Antichrists! Aus der Revolution und dem Atheismus hervorgegangen, hatte er den ganzen Hochmuth der Vernunft gegen die Lehren des Christenthums geerbt! Hervorgegangen aus der Schule Robespierre's besaß er dann auch wieder die tolle Neigung dieses Scheusals, aus dem Zerstörten etwas Neues aufbauen zu wollen! Das Fest des höchsten Wesens, das man wieder einsetzte mit Fahnen und Trommelpyramiden, Janitscharenmusik und Kanonensalven, das war so ganz schon im Charakter seines Schülers Bonaparte! Beide besaßen diesen gefährlichen Aberglauben des Atheismus, der zuletzt, weil der Mangel aller Religion im Menschenherzen eine Unmöglichkeit ist, irgend wieder doch etwas zum Halte haben, zum Gott machen muß, seinen eigenen Schatten, ein goldenes Kalb, ein geschmücktes Nichts, ein Philosophem. Diese Ironieen des Satan, wie sie neulich eine schriftstellernde Feder nicht unpassend nannte, sind deshalb gefährlich, weil sie sich wie der erhabene Ernst Gottes geberden. Wäre dem babylonischen Tyrannen[213] zuletzt nicht das Bedürfniß nach Ruhe gekommen, noch hätte er den ganzen Voltaire, der in ihm lebte, ausgetobt in seinen mit den Waffen gestützten Institutionen. Bonaparte war das im Großen, was Friedrich der sogenannte Große nur auf kleinem Gebiete, mit Bonmots und Epigrammen war. Bonaparte würde, hätte er sich zuletzt nicht elend und krank gefühlt und den Bruch mit den Franzosen, die ihr Blut und ihr Vermögen nicht länger opfern konnten und mochten, klug gewittert, den Krieg mit Rom viel länger und lieber geführt haben als den mit den Königen. Er brauchte Verbündete und so schloß er mit heuchlerischer Freundschaft Frieden mit einer Religion, die er erst mit Füßen getreten und dann in armselige, vom Theater erborgte Lumpen kleiden wollte! Das aber, mein lieber Herr von Asselyn, das war nun das Beispiel, das damals der Gewaltigste seiner Zeit den andern Gewaltigen gab! Diese Späßchen ahmten diese Menschen ihm nach! Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts hatte ja die Kirchen entvölkert; der Beichtstuhl stand ja leer; die äußere Veranstaltung, die noch vom kirchlichen Leben vorhanden war, war so auf den Schein gerichtet, daß selbst die Priester mit dem Geiste der Verneinung buhlten, selbst die sich schämten, den ewigen Gott und die große Veranstaltung des Erlösungswerkes in schuldiger Ehrfurcht zu bekennen. Auf der Kanzel und in ihren Schriften schmückten sie sich mit dem dem Protestantismus und der Philosophie abgeborgten Schaugepränge. Und vorzugsweise war es unser Deutschland, wo die Kirche am Abgrunde des Verderbens stand! Eine Literatur, die man zur[214] classischen gestempelt noch bei Lebzeiten jener maßlos vergötterten Herren von Goethe und Schiller, drang bis tief in die untersten Volksschichten und erzeugte dies noch immer andauernde Doppelleben unserer Nation, politisch und kirchlich sowol wie moralisch, letzteres in einer mühsam behaupteten positiven Welt und einem sogenannten idealen Weltbürgerthum: Ueberall sah man auf diese Art unsere Entwürdigung! Und der Staat, mit Verzweiflung kaum sich selbst behauptend in dem großen Revolutionssturm Bonaparte's, der rächte sich dann auch wieder seinerseits bis zur Schamlosigkeit gegen die schwachen Untergebenen, zunächst die Diener Gottes. Die kleinen Fürstenthümer, die entweder selbst unter geistlicher Obhut standen oder nur unsern Glauben bekannten, waren an sich schon leider dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen. Wilde, zerstörende, neuernde Gedanken, die von Aufbau sprachen und den Riß ihrer Pläne nach Modellen der Phantasie entwarfen, blieben damals ohne alle Rücksicht auf das Gegebene. Nichts galt für geistvoll, nichts für schön, nichts für groß, was nicht dem Wesen des Freimaurerthums entsprach. Ich will von dem Elend nicht sprechen, das bekenntnißtreue französische Bischöfe in der Verbannung auf englischem Boden zu Bettlern machte; im eigenen Vaterland konnte man erleben, daß die Mittel fehlten, dem äußern Gottesdienst den letzten Rest seiner erhabenen Würde zu erhalten. Ja, aber wie ist das nun alles mit Gottes Beistand so wunderbar anders geworden! So groß, so herrlich, mein lieber Herr von Asselyn, und kaum nach einem einzigen Menschenalter! Lediglich durch die gewaltige Widerstandskraft[215] und firmamentfeste Vis inertiae des zuwartenden und seine rechte Zeit erkennenden römischen Princips!

Bonaventura wagte auf die herablassende Vertraulichkeit des Sprechers zu erwidern … Er wagte den in die Tiefe gehenden deutschen Geist selbst zu nennen als den, der hier dem römischen Princip die stärkste Hülfe gebracht hätte. Ja er wagte, da der Kirchenfürst schwieg und ruhig seine Pfeife ausklopfte und sie aus einer gewöhnlichen, mit grüner Schnur besetzten Tabacksblase neu füllte, die Literatur und die Kunst zu nennen und ließ die Namen einiger Geister fallen, die man in dieser Verbindung zu nennen pflegt …

Der Graf hörte ruhig zu, rauchte wieder und ermunterte durch sein Schweigen fortzufahren. Ob vielleicht im Vorzimmer noch jemand wartete, ob ein Brief seines Königs unerbrochen lag, alles das schien ihm jetzt völlig unwesentlich …

Das gedemüthigte deutsche Vaterland, sagte Bonaventura, mußte sich aus seiner Gegenwart flüchten und neue Kraft sammeln in der Erinnerung an seine Vergangenheit! Fehlende deutsche Treue, Tapferkeit und Muth lagen nur noch in den Beispielen unserer alten deutschen Tage! Aus den gebrochenen Burgen auf unsern Bergesspitzen erhoben sich im Dämmerschein der Dichtung die Geister der abgeschiedenen Zeiten, aber zur glücklichsten Vorbedeutung; die Nebel fielen dann, und die Welt, die wir vergessen wollten, ja die wir vergessen mußten, diese lag nun nicht mehr vor uns; eine neue hatte sich aufgethan, es war die Welt, die uns die Forschung errungen hatte. Die Rosen in den bunten Domesfenstern[216] fingen wieder an zu glühen; die steinernen Bilder an den Kreuzwegen sprachen wieder dem ermüdeten Wanderer mit lebendigem Munde; eine Pilgerschar, die mit einer Fahne voraus und dem Bilde des geopferten Lamms durch goldene Saatfluren auf einen Berg mit einer wunderthätigen Erinnerung zog, war kein Zug von Narren mehr, die man verspottete. Künstler folgten und setzten sich auf einen Vorsprung dieses Berges und zeichneten die Scene voll Andacht und Hingebung. Kunst und Poesie verjüngten den abgestorbenen Glauben. Die Zeit war es, wo man um jene Marieen, die mit dem Lilienstengel in der Hand, mit Myrte und Maßlieb im Haar der Verkündigung sich neigen, um Bilder alter Meister, die man früher verlacht hatte, jetzt goldene Rahmen zog, größere und prachtvollere, als die einfachen kleinen Bilder selbst waren!

Der Kirchenfürst ging auf und nieder und ließ eine Pause beiderseitigen Stillschweigens …

Dann erwiderte er:

Sie waren gestern in Begleitung des Franciscanermönchs, Pater Sebastus?

Ein: Ja, Eminenz! erstarb auf Bonaventura's Lippen, der diese Erwiderung nicht erwartet hatte, aber ahnte, was sie als Antwort sagen konnte.

Ich ließ den Pater durch Michahelles rufen! fuhr der Graf fort. Er wird jetzt, denk' ich, da sein! Ja, ich wünschte, daß Ihr berühmter Name, Ihr edler Geist, Ihre großen Talente sich zum Heil der Kirche bewährten, Herr von Asselyn! Aber das Gebiet auch Ihrer Anschauungen muß sich erweitern oder vielleicht verengern,[217] je nachdem. Das Leben des Volkes ist der wahre Tummelplatz eines Priesters, der dem Reiche Gottes dienen will. In dem gesunden Gefühl der Völker – Doch treten Sie dort hinüber! Hören Sie eine nothwendige Verhandlung mit dem Pater! Eine Scene wird uns mehr verständigen, als eine Debatte, und Sie wissen, die Zucht des Priesters beruht auf Gegenseitigkeit.

Bonaventura begriff nicht, was der Kirchenfürst beginnen konnte …

Priester Immanuel aber hob einen Vorhang, der sich in dem Winkel befand, auf den er gedeutet hatte, und sagte:

Ich mache Sie nicht zum Lauscher! Der Mönch wird später selbst erfahren, daß Sie zugegen waren und gehört haben, was ich mit ihm verhandelte! Es sei ein Exercitium! Und eines für uns – alle drei!

Perinde ac cadaver essetis! Gehorsam, als wenn ihr Leichname wäret! sagte eine Stimme in Bonaventura's Innern und sie klang wie aus dem Munde des Onkel Dechanten.

Er trat hinter den Vorhang.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 194-218.
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