8.

[218] Ein kleines Gemach war es, in dem sich Bonaventura befand, das Schlafcabinet des Kirchenfürsten.

Einfach wie eine Klosterzelle enthielt es einen hohen, alterthümlichen Kleiderschrank; das Bett war einer Pritsche ähnlich, schmal und hart. Ringsum standen einige Stühle, die Vorrichtung eines Tropfbades hing an der Decke. An der Wand über dem Bett hing ein einfaches Crucifix von schwarzem Holze, darauf ein Christus von einer metallenen Composition.

Der einzige Schmuck des Gemaches war ein Brustbild, einen jungen Mann darstellend, dessen Aehnlichkeit mit dem Kirchenfürsten wol darauf schließen ließ, daß es seinen durch des Rittmeisters von Enckefuß Hand im Duell gefallenen Bruder darstellte.

Nebenan hing noch eine Wandkarte Europas und ein großer Stammbaum der Truchseß, der zurückführte in die Zeiten Karl's des Großen. Am äußersten Ende, da, wo alle Zweige einander näher sich rückten und das Ende des einst so reich entfalteten Geschlechts andeuteten,[219] verlief er sich in welken Blättern. Die Spitze bildete der Name des Kirchenfürsten selbst. Auf dem dazu gehörenden Blatte saß ein Käfer, auf dessen goldener Flügeldecke ein schwarzer und ein weißer Todtenkopf abgebildet waren.

Bonaventura konnte, ehe er mit beklommenem Herzen unter diesen Stammbaum sich setzte, die Umschau ruhig anstellen, denn es währte einige Zeit, bis der Kirchenfürst den Mönch einließ. Er schien entweder erst in seinem Bureau unter Papieren gesucht oder endlich den Brief seines Monarchen gelesen zu haben.

Jetzt hörte man das leise Rauschen eines auf dem Fußboden anstreifenden Gewandes …

Mit lauter und deutlicher Stimme, sodaß dem gezwungenen Hörer kein Wort verloren gehen konnte, begann der Kirchenfürst:

Setzen Sie sich, Pater!

Als dies geschehen sein konnte, hörte Bonaventura die Anrede:

Ich habe Sie rufen lassen, um einige Worte mit Ihnen zu sprechen, Pater; Worte, die sowol das Ihnen geschenkte Vertrauen betreffen, wie Ihr Seelenheil! Ihr Provinzial hat mir Vollmacht dazu gegeben …

Keine Antwort …

Haben Sie hier einen Beichtvater? begann der Kirchenfürst mit erhöhter Stimme …

Sebastus nannte jenen Domherrn, der sich in der Herausgabe des Origenes so vergriffen hatte und »mit seinen gesammelten Lesarten« in diesen Tagen beerdigt wurde …[220]

Bei dem Rauschen eines Papieres durfte sich Bonaventura vorstellen, daß dem Mönche vom Kirchenfürsten ein Brief überreicht wurde …

Sie haben Unglück mit denen, denen Sie Ihr Vertrauen schenken! sagte der Kirchenfürst. Auch der Provinzial Henricus, der Ihnen so innig zugethan war, lebt nicht mehr … Vor einem Jahre, kurz vor seinem Ende, erhielt ich einen Brief von ihm, den Sie lesen sollen! Zur Ermuthigung! Ich hör' ihn gern zum zweiten male!

Der Mönch las leise … Seine Stimme lag hoch und hatte die norddeutsche Schärfe. Sie war für Bonaventura vollkommen vernehmlich. Er hörte:

»Seit lange bin ich nicht in der Lage gewesen, Eurer Eminenz außer den Berichten, die über den Stand unseres Klosters an unsern P. General in Rom abgehen, auch eine gelegentliche Mittheilung über die Erlebnisse zu machen, die Ihrer hohen Fürsorge für die vaterländische Kirche in Erfahrung zu bringen von Werth sein könnte. Mein Wirken für die Ausbreitung der Mäßigkeitsvereine, die der Heilige Stuhl mit so besondern Gnaden gewürdigt hat, greift immer segensreicher um sich. Ist auch unsere Bevölkerung nicht so verkommen wie die Irlands, wo Pater Matthew den Geist der Mäßigung predigt, so stehen wir doch hinter dem, was Pastor Schläger auf dem protestantischen Gebiete leistet, nicht zurück. Ja, wir reichen uns auf diesem Gebiete die Hände …«

Hatte der Mönch schon bei Erwähnung einer bekannten Wirksamkeit des verstorbenen Provinzials Henricus,[221] Verbreitung der Mäßigkeitsvereine, gestockt, so konnte der Kirchenfürst jetzt Zeit gewinnen, einzuschalten:

Obgleich auch hier der Geist, aus dem beide Bekenntnisse zu wirken haben, ein völlig verschiedener sein sollte … Der gute Henricus gehörte noch zu sehr den Freimaurern an und starb sogar, seltsam genug für einen Mönch, mit einem weltlichen und protestantischen Orden auf der Brust! Was man früher nicht alles erlebt hat! … Lesen Sie aber!

Mit jenem Gehorsam, der zu seinen Gelübden gehörte und den von ihm zu fordern der jetzige Provinzial, auch Guardian, des Klosters Himmelpfort, des Pater Henricus Nachfolger, für die Zeit seines Verweilens außer Clausur auf die Curie dieser Stadt und den Kirchenfürsten übertragen hatte, las der Mönch weiter:

»Heute möcht' ich eine Bitte erheben zu Gunsten eines unserer Brüder, des Paters Sebastus! Unser General hat mir gestattet, ihm eine Weile die Freiheit des außerklösterlichen Lebens zu gewähren. Aber daß sie die Regierung, die in diesem Punkte so streng ist, auch genehmigt, dafür kann nur Eurer Eminenz hohe Bürgschaft eintreten.«

Ich schlug damals sein Anliegen ab! ergänzte der Kirchenfürst.

Der Mönch fuhr fort:

»Freiherr von Wittekind-Neuhof war es, der uns diesen Novizen, einen ehemaligen Docenten der Rechte in Göttingen, zuführte, aufs dringendste anempfahl, ja väterlich beschützte, obgleich der zweite Sohn des Freiherrn im Duell von ihm erschossen war … Nach einer[222] Reihe von Unglücksfällen, innern und äußern Erschütterungen wandte sich der greise Freiherr mit besonderm Verlangen den Gnadenmitteln der Kirche zu, besuchte uns oft, schenkte Kirchen und unsern verschiedenen Stationen höchst werthvolle Gaben und überraschte uns eines Tages durch diesen jungen Mann, der an seiner Hand mit heiserer Stimme, hinfälligen Ganges, zerrüttet an Seele und Leib, an mein Kämmerlein pochte und vor Entkräftung auf meinem Lager zusammensank …«

Bonaventura hörte voll Schmerz die lauten Athemzüge des Gefolterten. Er kam sich vor, als stünde er vor einem Käfig, in dem die ruhige Gefaßtheit eines Wärters den Fuß auf einen Panther setzt, den er abrichtete. Kam ihm der Gedanke, daß es Frevel wäre, wenn Menschen so an Menschen ihre innersten Seelenzustände durchwühlen? Oder erschien es ihm groß, um eines Gedankens willen, schon wenn dieser Gedanke ein Irrthum wäre, wie der Gedanke des Dalai-Lama oder der Sonnenanbetung, wie viel mehr dem des Dreieinigen Gottes, das Geheimste der menschlichen Ichwelt zu opfern? Doch wich er, wie er das gelernt hatte, dem Urtheilen aus und hörte, weil er hören mußte …

Mit gedämpfter Stimme las der Mönch:

»Der Freiherr führte uns den jungen Mann als Bewerber um das Noviziat zu. Er verschwieg nichts von dem, was wir selber sahen. Heinrich Klingsohr's Sittenzeugnisse fehlten. Er wollte und mußte in allem und jedem von neuem geboren werden. Allererst zeugte gegen ihn der Todtschlag in einem Duell« …

Der Kirchenfürst schaltete ein:[223]

Von Ihrer räthselhaften Beziehung zu einem Manne, der in seltsamer Verbindung mit dem Tode Ihres Vaters, genannt wird, schreibt der Provinzial nichts …

Er war nicht mein Beichtvater! sagte der Mönch mit der ihm eigenen kalten, fast verletzenden Bestimmtheit. Kurz schnitt er damit die Rede des Kirchenfürsten ab, der nicht abgeneigt schien, von dem Mönche eine Aufhellung dieser Widersprüche um so mehr zu verlangen, als auch Bonaventura auf diese Art in die geheimern Beziehungen seiner dem Kirchenfürsten verhaßten und wie dieser wußte, auch ihm wenig willkommenen Verwandtschaft eingeweiht wurde.

»Die Gewohnheiten des Bruders« – setzte der Mönch aufs neue an zu lesen, aber seine Kraft verließ ihn … Die Erinnerung an seinen Vater schien ihn mehr erschüttert zu haben, als das Bild seiner Vergangenheit, das er selbst hier aufzurollen hatte.

In schmerzlicher Folter, ungewiß, welches das endliche Ziel dieser Strenge sein sollte, seufzte Bonaventura tiefauf und fast hörbar …

»Die Gewohnheiten des Bruders« – wiederholte der Kirchenfürst …

»Waren so eingerissen, daß sie so plötzlich und so schnell nicht gebrochen werden konnten. Das Beschwören der Mäßigung vor dem Altare, das in Irland Wunder wirken soll, genügt nicht bei uns« –

Weil wir nicht nach unsern eigenen Gesetzen leben! schaltete der Kirchenfürst ein; weil eine offene und freie Schaustellung unserer seelsorglichen Handlungen und Strafen vor einer gemischten Bevölkerung nicht möglich ist![224]

»Auch fehlt uns ein O'Connell«, schrieb der Provinzial Henricus, »der zu der Enthaltsamkeit von jenem Gifte, das in Irland die Verzweiflung zu nehmen scheint, um ihr Elend zu vergessen, die geistige Nahrung der Erhebung im Staatsleben gibt. Das Gefühl errungener Freiheiten wird dort ein edler Ersatz für das Gift, das bisher durch das Land der Armuth und Entwürdigung geflossen. Denn es ist nicht genug hervorzuheben – und auch mein Nachbar in gleichem Wirken, Pastor Schläger, bezeugt es – daß zugleich zum Ersatz die geistliche Quelle der Aufklärung geboten werden muß, wie bereits Ephes. 5, 18 die Schrift sagt: …«

Ueberschlagen Sie das! unterbrach der Kirchenfürst.

Bonaventura gedachte des Onkel Dechanten … Es war ihm, als spräche dieser: Die Römlinge wollen nichts Deutsches, nichts Nationales, nichts aus unserm Schoose Geborenes, nichts die Brüderstämme und die Confessionen durch die gemeinsamen Bedürfnisse des natürlichen Volkslebens und des Geistes Versöhnendes –

»Unserm Zögling hatte sich mit seinen Untugenden der Genius verbündet« … las der Mönch und nun sein Lob vernehmend in dem pflichtschuldigen Tone der Demuth, die eines der ersten Erfordernisse seiner Wiedergeburt sein mußte. »Er kam aus einer Welt, wo man ihn um seiner Sünden willen angestaunt hatte. Er kam aus dem trotzigen Leben einer Universität, aus einer großen reichen Handelsstadt, in die ihn das Geschick verschlagen, er war der Matador des akademischen Wort-Fechtsaales, man bewunderte ihn um seiner Vorzüge willen und seine Schwächen gereichten jenen nur zu verschönernden[225] Schattenlinien. Tief hülfsbedürftig war der zerknirschte, des Lebens, der ganzen Welt, seiner selbst, glücklicherweise noch nicht Gottes überdrüßige Sinn des Zöglings. Eure Eminenz kennen unsern Laienbruder, den Bruder Hubertus … Mindestens ist in vielen Klöstern Deutschlands der ›Bruder Abtödter‹ bekannt, wie die Brüder ihn nennen in Anerkennung seiner wunderbaren Gabe, es den ersten Heiligen unserer Kirche, den Säulenstehern, den Eremiten der thebaischen Wüste gleichzuthun, wenn nicht im gleichen gottergebenen Sinn, doch in der seltsamsten Kunst, sein Fleisch zu tödten –«

Wie schaudernd vor Erinnerungen stockte der Mönch …

Aufs neue setzte er an:

»Bruder Hubertus war einst der erste Jäger des wilden Nimrod Wittekind, damals ein unternehmender Bursch, der sein ganzes Vertrauen genoß. Aus holländischen Diensten und aus Java zurückgekommen, umgab ihn auf dem Schlosse Neuhof der Reiz der Fremde. Alle Herzen flogen ihm zu und keines mehr als das eines Fräuleins von Gülpen …«

Der Mönch kannte alles, was sich auf diesen Namen und die Verbindung bezog, und hielt im Lesen inne, sicher voll Erstaunen, weil der Kirchenfürst ihn mit den Worten unterbrach:

Sie nannte sich später nach diesem Hubertus, früher einem Buschbeck, die Frau Hauptmännin von Buschbeck und wurde nur deshalb siebzig Jahre, um in voriger Nacht in dieser Stadt hier ermordet zu werden!

In dem Innern des Mönchs konnte eine so überraschende[226] Mittheilung nur Töne seltsamster Musik wecken … Des Abends gedachte er auf dem Schlosse Neuhof, wo er Lucindens Frage nach jener Gülpen beantwortete und die Speisen, die ihm der Kronsyndikus vorsetzen ließ, für vergiftete erklärte, wie solche, von denen aus den jungen Zeiten des Fräuleins die Sage berichtete …

Bruder Hubertus, fuhr der Kirchenfürst fort, ist mir wohl bekannt! Doch muß man die Ruhmsucht tadeln, die mir in seiner Kunst, sich tagelang der Speise zu enthalten, zu liegen scheint …

Der Mönch kannte das Leben seines Zähmers und Bändigers … Ohne Zweifel antwortete er dem Tadler mit dem Nachhall eines seiner alten Lieder:


Frage im Walde die Raben,

Wenn Sturm durch die Tannen weht,

Wer unter ihnen begraben,

Da, wo das Kreuzlein steht! …


Doch auch Bonaventura fühlte sich wie in einen Wald versetzt, wo Hörnerklang zu einem erlegten Hirsche rief … Wild sprengen die Herren und Damen zu Roß heran; der erste der Jäger tritt auf das verendende Thier, weidet es aus und die schnobernden Hunde, die ihren rauchenden Antheil begehren und gierig zufahren wollen, müssen zurück und – entbehren … So nur konnte ein Jäger das menschliche Abtödten gelernt und gelehrt haben … Wie mehrte sich sein Bangen, das schöne Bild zu verlieren – von seinen Augustinerchorherren im Schnee des St.-Bernhard!

Der Mönch las:

»Die Besserung des Novizen gelang durch Hubertus vollständig. Selbst die Art, wie sich die Malaien von den Zerstörungen[227] des Opiumrauchens heilen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Freilich mußten wir gestatten, daß in einer Klosterzelle ein Noviz auf dem Lager lag und statt des Mohnsamens den Samen erst des Hanfes, dann aus langem Rohr entzündetes Naphtha, zuletzt nur das glühende Bernstein rauchte. Die starke Natur, schmeichelnd zurückgelockt, blieb Siegerin. Die unreinen Geister wichen, die Phantasie verlor ihre Bilder, sie wurden reiner und blieben ganz aus. Hubertus übergab uns einen Geretteten. Aber noch galt es, ihn sanft und linde einzuführen in die Erfüllung seiner Absicht, für immer der Welt zu entsagen. Aufrichtig war diese Absicht. Er liebte die Religion. Er fand seinen Trost und seine Erhebung in ausschließlicher Contemplation. Da ihm keine Wissenschaft unbekannt geblieben, so wußte er bei Tisch stets etwas vorzubringen, was uns fesselte. Doch verblendete uns ein zuweilen noch aufschimmernder falscher Glanz seines Geistes keineswegs. Wir verharrten in einem strengen und ernsten Erziehungsplan. Nichts wurde unterlassen, was seinen Willen, die Gelübde abzulegen, brechen konnte. Die Gebete, die Wachen, die untergeordneten Dienste, mühevolle Arbeiten aller Art, Betteln, das seinen Stolz prüfte, scheinbare Willkürlichkeiten, die seine Ergebung auf die Probe stellten, die Züchtigungen mit der Geißel und dem Cilicium, alles das waren nur geringere Grade der Hülfsmittel, ihm die Rauheit und Härte unsers Gewandes fühlbar zu machen. Die Ergebung, die er zeigte, war keine Stumpfsinnigkeit. Er ertrug, was ihm aufgebürdet wurde, um seiner neuen Geburt willen, ja wir mußten seinen Eifer[228] zurückhalten, denn er begehrte zu zeigen, daß der Mensch den Schlaf ganz entbehren, von Wasser allein leben könne und Aehnliches, was wider die Natur geht, wenn es auch vom Bruder Hubertus fast zu ertragen gelehrt wird. Nach zwei Jahren endlich legte Sebastus sein Bekenntniß ab und erhielt die Tonsur. Die Priesterweihe ihm zu geben, wagte ich dem P. General nicht ans Herz zu legen. Immer ist noch ein dunkler Grund in seinem Innern, ja es war mir, als gäb' es Proben, in denen Pater Sebastus nicht bestehen könnte. Eure Eminenz mögen selbst entscheiden. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich von den Stätten des Friedens, an denen wir leben, den Vorwurf der Unthätigkeit entfernen möchte. Wie der heilige Basilius die Nähe der Städte suchte, um sein Einsiedlerleben dem Ausbreiten des Glaubens nützlich zu machen, wie die Söhne des heiligen Benedict unser deutsches Vaterland von düstern Wäldern gelichtet haben und auf unsere Hügel die Traube pflanzten, während auch das Feuer des geistigen Lebens aus ihrer Pflege der Wissenschaft und der Schreibekunst flammte, so wird ein jeder Bekenner des heiligen Franciscus auch noch jetzt darauf bedacht sein müssen, in einer sittenverderbten Zeit Hand anzulegen im Kampfe gegen den Uebergenuß des Lebens. Dann dacht' ich: Wie kann die letzte Prüfung des Gewonnenen besser stattfinden, als wenn er noch einmal ins Leben zurückkehrt? Wie heilt man ein Heimweh gründlicher, als wenn man dem Verlangen der Seele nach der geliebten Muttererde einmal noch folgt, dem Herzen einen starken, vollen, sättigenden Trunk des Wiedersehens gönnt und damit dann meistentheils[229] gerade das andere Verlangen weckt, dahin wieder zurückzukehren, von wo uns zwar die Sehnsucht vertrieb, inzwischen aber doch sich die Gewohnheit, sie wußte es nur selbst nicht, bereits wieder eine liebliche Traulichkeit schuf. Und so erbat ich von meinem Obern in Rom die Erlaubniß, den jungen Pater, dessen heißersehntes Ziel die Weihen sind, zurückzulassen auf kurze Zeit in die Welt. Da kam die Aufforderung des Secretärs Eurer Eminenz. Freilich auf den Grund, weshalb sein Brief Klosterbrüder zu haben wünscht: ›weil sie ihm nicht nur als Sendboten dienen könnten, sondern weil sie auch in einer Zeit, wo wir nur zu sehr beklagen müßten, uns auf der großen Straße des Weltverkehrs so wenig zeigen zu dürfen, gerade ebendaselbst, wo es nur irgend möglich zu machen, aufzutreten hätten‹, … ferner auf den Rath ›ärztlichen Befehl vorzuschützen für kranke Brüder‹ … darauf hin mocht' ich es nicht wagen –«

Genug! unterbrach der Kirchenfürst, machte eine Pause, die ohne Zweifel die Rücknahme des hier gegen die Lehre vom Zweck, der die Mittel heilige, protestirenden Briefs ausfüllte und sagte:

Als ich vor einem Jahr diesen Brief erhielt, verweigerte ich die Unterstützung der Bitte des Provinzials. Seitdem erschienen aus dem Kloster einige Ihrer polemischen Artikel. Der Geist und Ton derselben überraschte mich. Ich wünschte Sie kennen zu lernen. Ihre Hieherreise erfolgte. Als ich Sie sah, war ich angezogen. Ich behielt Sie bei mir zu dem großen Kampfe, den die Kirche zu kämpfen hat. So manches Ziel unserer Mühen haben wir erreicht; aber die Streiter können[230] sich nicht dicht genug scharen. Ich erkenne an, was Sie geleistet haben. Ich lese Ihre Aufsätze mit Befriedigung. Ich wünschte jedoch mehr – viel mehr! Ich finde in dem, was Pater Henricus von Ihrer Erziehung sagt, nicht den Geist wahrer Heiligung. Der Grund, aus dem Sie wirken, ist gefahrvoll für Sie, ist es auch für uns! Für Sie – ich will es Ihnen aufrichtig sagen – für Sie und für wie viele Ihres Gleichen! – ist die Kirche nur der Schlußstein Ihrer irrenden Abenteuerlust auf dem Felde der Philosopheme! Sie ist nur der Ruhepunkt Ihres von allerlei Donquixoterieen ermüdeten Denkens! Sie streiten jetzt für die Kirche, weil Ihre angeborene Streitsucht hier endlich einen festen Gegenstand und eine sichere Anlehnung findet! Das scheint leider unser trauriges Loos mit euch Uebergetretenen allen! Aller Zorn, der in euch wurmte, alles Gefallen am Besondern und Seltsamen, alle Ungeduld, daß man auf euch bisher nicht achtete oder euch wiederum zu rasch vergaß, diese unreinen Geister der Rache, der Vergeltung, der nie zu sättigenden Gier nach dem Reiz der Neuheit treiben Euch auf den Kampfplatz! Was es auch sein möge, das Sie dem Vater eines Unglücklichen, den Ihre Hand tödtete, so nahe verbinden konnte, ich glaube es gern, daß Sie ermattet an der Pforte des Klosters Himmelpfort niedergesunken sind. In dieser Stimmung verlangten Sie nach dem Trost der Religion und rühmten die Einfalt derselben. In alles aber, was man Ihnen bot, legten Sie, als Sie es empfingen, Ihren eigenen Sinn, nahmen es nicht in dem unsrigen. In diesem immer nur Ihr Ich verherrlichenden Geiste vollzogen Sie die Liebesopfer,[231] die Ihnen Ihr Guardian und Provinzial übertrug. Sie duldeten, entbehrten und was Sie zu den harten Proben des Bruder Hubertus ermuthigte, war nur der geistige Hochmuth auf Menschenkraft. Weder Ihr Verstand noch Ihr Herz liebt das Christenthum, nur Ihre Phantasie liebt es! Die Dienste, die Ihr Poeten und Künstler dem römischen Glauben geleistet habt, verkenn' ich nicht, doch waren und bleiben sie gefahrvoll! Sie entbehren nachhaltiger Wirkung. Oder glauben Sie, daß alle die Fortschritte, die wir in diesen Tagen in Frankreich, Deutschland, Spanien gemacht haben, gemacht haben mitten unter den Stürmen der politischen Bewegungen, nur die Folgen der wiedergeborenen schönen Künste sind? Diese Fortschritte verdanken wir nur dem bei so vielem Flitter der Bildung gerade zum wahrhaften Herzensbedürfniß gewordenen Bekenntniß der geistigen Armuth! Armuth, Armuth! Nüchternheit, Entbehrung, Gefangengabe unserer Ueberzeugungen an ein Gegebenes, Wiedererweckung der Würde des Beichtstuhls, der geregelte Kirchgang, die Wiederherstellung alles dessen, was über religiöse und politische Dinge in dem gesundesten Theile des Volks, im Bauernstande, diesem plötzlich nun ja auch von eurer Poesie verklärten, lebte, Ascese, Wallfahrten, wiederhergestellte Bruder- und Schwesterschaften, das ist der Geist der Stetigkeit, der allein die Kraft zum Glauben wecken und darin die Ausdauer bestärken kann …

Der Kirchenfürst schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:

Jetzt, Pater, ein ernstes Wort! Ich ließ Sie beobachten, Pater! Wissen Sie, daß ich Sie monatelang in Ihr Strafkloster zu Altenbüren verweisen könnte?[232] Sie wurden gestern Mittag im Hause eines jüdischen Trödlers gesehen, wo Sie mit Ihrem Ordensgewand eintraten und es auch Mittags im Ordensgewand verließen. Abends jedoch um acht Uhr – Unglücklicher! – kehrten Sie wiederum unter dem Dache des Juden ein –

Bonaventura, ahnend, entsetzte sich, mehr noch erschütterte ihn der unfehlbare Schrecken des Mönches …

Mitleidenswerther, bejammernswürdiger Mann! fuhr der Kirchenfürst fort. In dem von jenem Juden geborgten Kleide, mit einem Hut, der Ihre Tonsur verbarg, sah man Sie, Sie, den Pater Sebastus, den Michael mit der zweischneidigen Feder, den Mönch, der ein Gefallen darin findet, einen Sack zu tragen mit den Eiern, die ihm die Bauern der Umgegend schenken, Sie, Sie, einen Sohn des heiligen Franciscus – auf der Galerie des Theaters!

Bonaventura stand auf, des dadurch entstehenden Geräusches nicht achtend …

Dumpfe Stille nebenan …

Und noch nicht genug! fuhr der Kirchenfürst fort. In dieser falschen Tracht gingen Sie die Nacht in einen Gasthof der Stadt, in »das goldene Lamm«! Was thaten Sie dort?

Bonaventura gedachte der Geigenspielerinnen, der ganzen Aufregung des gestrigen Abends …

Kein Laut der Erwiderung von dem Mönche …

Was können Sie auf Ihrem frevelhaften Pfade dort gewollt haben? In einem der Zimmer waren Sie zwei Stunden bis um Mitternacht, wo Sie dann von dem Juden Ihr Kleid zurückgeholt haben! Pater! Pater! Ich beschwöre Sie, um der Wunden unsers Heilands willen![233] Fühlen Sie denn nicht, daß Sie den Erlöser, den Sie in diesem Kleide bekennen, zum zweiten male verkauft haben? Die Nachricht von Ihrem Judasverrath kam uns glücklicherweise von einem Beobachter, der unsere Kirche liebt und unsere heilige Sache bewahren wird vor Bekanntmachung solches Aergernisses! Weitere Nachforschung hinderte ich, um nur Ihr Unglück nicht zu mehren und nicht die Schande Ihres Fehltritts zu grell für uns alle aufzudecken! Pater! Was würde aus Ihnen werden, wenn mich keine Rücksicht auf Ihr Talent, keine Rücksicht auf die nützliche Bewährung desselben in unsern gegenwärtigen Kämpfen abhielte, Sie nach Altenbüren zu verweisen, wo Sie in Gesellschaft anderer meineidiger Priester für immer, für immer, Unglücklicher, Ihren Ruf im weiten Reiche unserer Kirche verloren haben würden!

Dumpfes Schweigen auf diese fast weich gesprochenen Worte …

Eingetreten sind Sie in eine große Heilsanstalt gegenseitiger Erziehung! fuhr Priester Immanuel fort. Ich möchte Sie nicht aufgeben; ich möchte Sie dem Wirken erhalten, für welches Sie so rühmenswerthe Proben Ihrer Befähigung abgelegt haben! Pater! Daß sich der Geist, in dem Sie allein außerhalb der Zelle leben dürfen, heilige, daß Sie sicher sind vor den Anfechtungen und dem Rückfall in die Reize dieses Lebens, denen Sie abgeschworen haben, muß ich Ihrem Wandel von jetzt an die bestimmtesten Grenzen ziehen! Sie verlassen nie mehr diese Stadt ohne eine hier von meinem Kaplan eingeholte Erlaubniß! Sie meiden jeden öffentlichen Versammlungsort! Sie rüsten sich, daß Sie[234] jeden Abend von sieben Uhr an in Ihrer Wohnung, dem Profeßhause, angetroffen werden! In jeder Stunde, wo vom Kloster Himmelpfort Ihnen bekannt ist, daß Ihr würdiger Guardian eben die Thür seiner Zelle öffnet, Miserere ruft und die Patres, seinem Beispiele folgend, sämmtlich sich mit der Disciplin dreimal den Rücken geißeln, sollen auch Sie das Confiteor sprechen, wo Sie sich irgend befinden. Und daß Sie es thun, wirklich thun, Pater, erinnere ich Sie an das Wort jenes Mönches, zu dem ein Zweifler sagte: Geißeln Sie sich denn auch wirklich in Ihrer geschlossenen Zelle, wenn der Guardian in der seinigen Miserere! ruft? »Herr! Man hat Ehre!« sprach er.

Der Kirchenfürst stand eine Weile und schwieg …

Bonaventura erwartete eine Entgegnung des Mönches …

Nur die lauten Athemzüge desselben hörte er …

Was führte Sie auf, die Galerie des Theaters? begann der Kirchenfürst aufs neue. Was suchten Sie in der Nacht in jenem Gasthause?

Nach einer langen Pause hörte Bonaventura die Worte.

Nichts so Unedles, als Sie denken, Eminenz … Doch … ich verlor meinen Beichtvater –

Diese Worte wurden mit großer Schärfe betont.

Wen wollen Sie wählen?

Wenn Herr von Asselyn hierher versetzt würde und ich dann noch – hier weile –

Der Mönch stockte …

Wohlan! sagte der Kirchenfürst und wie aufs angenehmste überrascht. Es war Ihnen von mir aufgegeben worden, den edeln und gotterleuchteten Pfarrer von St.-Wolfgang, Bonaventura von Asselyn, auf die kurze Zeit hier[235] zu begleiten, bis ich im Stande sein würde, mich so ausführlich wie ich mußte, mit diesem Werkzeug Gottes zu verständigen. Im Umgang mit demselben, den Sie von Stund' an fortsetzen sollen, verbiet' ich Ihnen kraft der mir übertragenen Ordensgewalt Ihres Provinzials, jemals aus eigenem Triebe irgendein Wort mit ihm zu reden! Nie sollen Sie selbst das Wort ergreifen! Nie sollen Sie anders als nur ein Ja und ein Nein für ihn haben! Der Priester Bonaventura weiß es, daß ihm die Rede gestattet ist, ihm die Unterhaltung, er weiß aber auch, daß er Ihnen keine einzige Frage stellen darf, als eine solche, der die kurze Antwort: Ja oder Nein gebührt! Denn warum verhäng' ich gerade Ihnen diese Strafe? Weil Ihre größte Aufgabe die sein soll, den Drang zu tödten Ihrer geisthaschenden Mittheilung! Absterben muß Ihre Neigung, durch Ihre Vergangenheit Ihre Gegenwart Lügen strafen oder über Ihr Kleid hinaus sich immer noch verklären zu wollen. Durch Ihren Geist, Ihre Kenntnisse wollen Sie das Vorurtheil Ihres Standes widerlegen. Aber wenn Sie das Gelübde der Armuth ablegten, stand an der Spitze der Entbehrungen, die Sie sich vorzuschreiben hatten, die Armuth am Geiste! Diese bekennen Sie und dann wird Ihr Sinn sich läutern! Nichts hat die Verführung zum Laster mehr im Gefolge als jene Gedanken, die schimmernde Ausdrücke suchen, jener Reiz, der Sie verführt, sich in der Vielseitigkeit Ihrer Auffassungen, in der Fülle von Gesichtspunkten, auf dem schwindelnden Wege der Contraste und Paradoxen zu ergehen; derselbe Reiz stumpft das Gefallen an dem Einfachen und Charaktervollen ab. Ihnen, Pater, Ihnen ist, wie der ganzen[236] Richtung des Jahrhunderts, vor allem das »Wort zur unrechten Stunde« zu nehmen! Rancé – der kannte diese Gefahr, als er nach einem Leben geistreicher Frivolität den Orden der Trappisten stiftete! Ich verlange keinen Dank für meine Schonung – ich werde mir selber ein Gebet um die Vergebung Gottes auferlegen, daß ich so milde war – ich strafe Sie, wie mir scheint, daß es Ihnen heilsam ist! Und die in dieser Form meiner Verzeihung liegende gegenseitige Erziehung wird auch andern gut thun! Treten Sie näher, mein Herr von Asselyn!

Damit trat der Kirchenfürst an den Vorhang, zog diesen zurück und Bonaventura stand mit dargereichter Rechten, wie um Verzeihung bittend, vor dem in Staunen und tiefster Scham halb aufwallenden, halb vernichteten Mönche …

Mit unerschrockener Miene sprach Priester Immanuel:

Deshalb hab' ich Bonaventura von Asselyn zum Zeugen dieser Scene gemacht, weil ich auch ihn in den Ernst unsers geistlichen Lebens und in unsere wahre kirchliche Schule einführen wollte! Schon Ihre Ungeduld zu bekämpfen, daß Sie noch einige Tage hier zu warten hatten und ferner warten sollen, Herr von Asselyn, mußte Ihnen nützlich sein! Nützlich wird Ihnen auch werden, das aufgedeckte Leben des Paters zu sehen und es doch so nur zu berühren, als wenn Sie es nicht kennten! Ja und nein, nein und ja! Bis zu dem Tage, wo Ihnen Sebastus vielleicht – die Beichte spricht … Lasset euch beide das, was ihr heute erlebtet, eine Uebung sein, die Gefahren – des Geistes kennen zu lernen! Helfen Sie sich einander redlich beim Straucheln! Bestärken Sie sich in der Geringschätzung[237] des Gedankenaustausches! Da liegt der Thomas a Kempis; das goldene Buch der bewußten, ja mit Stolz bekannten Geisteseinfalt! Oder lesen wir eine Stelle des heiligen Gregor …

Der Kirchenfürst nahm ein Gebetbuch und las mit lauter Stimme:

»Wenn ich mir die Büßerin Magdalena vergegenwärtige, so möcht' ich eher weinen, als reden und bekennen! … Denn sind nicht die Thränen dieser Sünderin mächtig genug, auch ein steinern Herz zur Buße zu erweichen? Sie bedachte ihren vergangenen Lebenswandel und konnte sich in ihrem reuevollen Thränenbekenntniß kein Maß vorschreiben. In das Gastzimmer trat sie zur Zeit des Mahls, sie kam ungerufen, und während des Mahls brachte sie ein Thränenopfer. Lernet, von welchem Schmerz sie gefoltert ward, daß sie auch während der Zeit des fröhlichen Mahls der Thränen sich nicht schämte! Siehe! Weil dies Weib ihre Befleckungen und Laster erkannte, eilte sie in glühender Sehnsucht nach Reinigung zum Urquell der Barmherzigkeit und scheute nicht die Gegenwart der Gäste. Da sie vor ihrer eigenen Häßlichkeit erröthete, konnte die Scham von außen, sie nicht entmuthigen. Was, meine Brüder, sollen wir nun mehr bewundern, die im Gastzimmer erscheinende Magdalena oder den Herrn, der sie gnädig aufnahm? Soll ich sagen: aufnahm? – nicht vielmehr: durch seine Gnade an sich zog? Ich will am liebsten beides sagen. Es ist derselbe, der sie innerlich anzog durch seine Barmherzigkeit und derselbe, der sie äußerlich mit aller Sanftmuth aufnahm.«

Jetzt legte der Kirchenfürst das Buch zur Seite, neben[238] sein inzwischen erkaltetes Tabacksrohr, neben den noch unerbrochenen Brief seines Königs, dann entließ er beide mit einer Handbewegung, die ausdrückte, daß er ihnen den Segen ertheilte und den Gewinn zweier Seelen für sein Gottesreich höher hielt, als alles Reden und Handeln und Drohen der Mächtigsten der Erde.

Im Vorzimmer war es still geworden … Der Kaplan begleitete den Mönch und den Pfarrer bis an die Ausgangsthür. In seinem demüthigen Gruße lagen die Worte:

Was auch zwischen euch dreien soeben drinnen geschehen ist – Alles – zur größern Ehre Gottes! …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wohl hätte Heinrich Klingsohr draußen in freier Luft aufschreien mögen wie mit wiedererwachtem Titanentrotz.

Seine Brust hob sich, seine Augen standen starr aus den Höhlen, er hatte auf der Zunge Worte nicht der Verwünschung seines Geschickes, nicht der Anklage seines Berufes, nicht der Anklage des Kirchenfürsten, – nur dem Jammer seines Innern hätte er Worte leihen mögen, sich vergleichen mit dem gefangenen, an seinen Flügeln niedergehaltenen, auf dem Rücken liegenden Vogel vom gestrigen Morgen, sich rechtfertigen gegen den falschen Schein, der sich um ihn breitete in Gegenwart eines Mannes, den er zu schätzen anfing, er, der niemanden anerkannte außer dem, der ihm durch etwas imponirte, etwa – die Kunst, eine Nachtigall nachzuahmen!

Aber nicht einmal zu der Auseinandersetzung war ihm Gelegenheit gegeben, zu sagen: Warum bleiben Sie nicht[239] sogleich in dieser Stadt? Warum haben Sie nicht schon jetzt die Erlaubniß des Beichtstuhls! Alles, alles möcht' ich Ihnen bekennen! …

Fiebernd lief es durch seine Seele:

Ich möchte sagen, wie mich gestern die unwiderstehlichste Sehnsucht ergriff, nach dem Leben und den Schicksalen eines Mädchens zu fragen, das einst mir das Leben und dann den Tod gegeben! Ich wechselte mein Kleid, ich wurde ermuntert dazu von einer Jüdin, die mir unser ganzes Dasein als einen einzigen großen Mummenschanz darstellte, wurde ermuntert dazu durch einen Schwur »bei dem Gotte Spinoza's« und durch die Versicherung, ich dürfte auf die Verschwiegenheit dieses Mädchens bauen … Wer war der Verräther! … Wer war es, der des Nachts, so ruhelos wie ich, dahin irren konnte? … Ja, ich war auf der obersten Galerie des Theaters! Dort, in eine Ecke gedrückt sah ich jene Frau spielen, die einen edeln Menschen auf ihrer Seele hat – sah die Kinder springen, die ich oft auf dem Schoose gehalten und für welche Lucinde arbeitete, sich mühte und entbehrte, wie eine zum Magddienst sich verurtheilende Königin … Das Haus war menschenleer … aber nicht so öde war es, als das Gefühl meines Daseins … ich irrte in den Straßen, sah nicht die Spione, die mich verfolgten, vergaß die Ordnung des Hauses, das ich mit vielen andern bewohne, bestieg die Stufen des Gasthauses zum Lamm, kehre schaudernd um, aber um mich her sah ich nichts als Lucinden, sah sie mit phantastischen Blumen bekränzt, sah sie im langen Kleide hoch zu Roß – mir winken – Himmel und Erde! Ich wage Ehre und Freiheit und mein ganzes Leben, um nur fragen zu können:[240] Wo ist Sie? Was wurde aus Ihr? … Zitternd steig' ich zu der Frau empor, an deren Herz zu glauben ich nicht die mindeste Berechtigung hatte, aber ich zwinge mich dazu … Aber auch sie verrieth mich nicht! Sie schwur's mir bei dem Andenken Serlo's, obgleich der, wie sie sonst und jetzt sagte, schuld gewesen wäre an ihrem ganzen verfehlten Dasein … Ich finde diese Menschen, klein wie immer, geringfühlend wie immer, voll Zorn über die Leere des Theaters, voll Hohn über das Ausbleiben des Beifalls … aber vor ihnen steht dennoch ein köstliches Mahl, liegt eine Rolle Geld … eine Sendung war es von Lucinden … Sie ist hier! Hier in dieser selben Stadt … Und da sollt' ich nun auf und davon? Sollte nicht verweilen, lauschen, horchen – aus meiner begrabenen Welt! … Sollte nicht vertrauen, daß Menschen, die durch die Schule des Geschicks so tief gedemüthigt waren, daß sie sogar Konstanzen Huber, wie sich Lucinde genannt, das Wort gaben, sie nirgends zu kennen und sofort diese Stadt zu verlassen und auf die Woge des Lebens zurückzukehren (was sie hätte und erwürbe und theilen könnte, hatte sie geschrieben, sollte ihnen, wenn sie wollten und wo sie wollten, gehören) … sollte nicht vertrauen, daß durch Geld und Mitleid gewonnen, diese Menschen mich nicht verriethen … Ich wäre geblieben bis zum Hahnenschrei! Ich hätte geredet und geträumt, wenn mich nicht die Erzählung von unserm Abschied einst in Lüneburg zur Besinnung gebracht und an das Portefeuille erinnert hätte, das ich plötzlich mich erinnere, in meinem Ordenskleide gelassen zu haben … Nun, wie zerschmettert schon von einer Strafe des Himmels, wank' ich davon … Rings die[241] stille Nacht – bis ich zurückkäme versprach mir die jüdische Sibylle zu wachen … ich finde sie … lesend – im Spinoza, einem Geschenk eines Priesters Namens Leo Perl … wir suchen und suchen das Portefeuille – es findet sich nicht … Mitternacht ist vorüber … die Jüdin gibt mir Geld, um den Wächter des Profeßhauses bestechen zu können … einen neuen, noch willfährigen Knecht … Wie sie das Geld klingen läßt und sagt: Pater, Ihr wißt nicht, welche Freude ich habe, der Kirche einen Heiligen zu stehlen und Gott einen Menschen zu schenken! da wank' ich dahin, komme in meine Wohnung, glaube unbemerkt geblieben zu sein, werde in der Frühe zum Kirchenfürsten gerufen, ahne die Kunde von meinem Vergehen und kam, bereit zu sagen: Tödtet mich, wenn ihr wollt! Ich konnte nicht anders!

Wie beide Leviten so dahinschritten, näherten sie sich der Kathedrale. Sie traten in den majestätischen Bau, unter Menschen, die nichts von ihrem Seelenleid ahnten, nichts von der Gebundenheit ihres Willens und ihrer Sinne …

Da entdeckte Bonaventura in einiger Entfernung, in einer Nische, die vom hellsten Sonnenlicht, das durch die bunten Fenster brach, beschienen war, in einer Gruppe, die sich laut und wie es schien in fremder Sprache unterhielt, eine Gestalt, die ihn jetzt im erhöhten Grade erschrecken mußte …

Nur ihren Rücken sah er. Sie stand in schwarzseidenem Kleide, dunkelm Hute, sprach mit den Fremden, die dem Volk anzugehören schienen; es war ihm, als könnte es nur Lucinde sein …[242]

Der Mönch las mechanisch die Inschriften der Leichensteine …

Bonaventura hätte ihn aus dem Wege zu jener Fensternische fortziehen mögen …

Der Mönch schritt in sich versunken und lesend an den Leichensteinen weiter und zu jener Gegend hin, ohne auf ihn zu hören …

Schon waren sie der Nische so nahe, daß die drinnen geführte Unterhaltung gehört werden konnte …

Sie wurde in italienischer Sprache geführt …

Zwei Männer, der eine in kurzer Jacke, der andere wohlangethan, mit einigen jungen Leuten, einem Mädchen darunter, sprachen bald zu den Bildern des Fensters gewandt, bald zu jener Dame in dem schwarzen Kleide …

Es war Lucinde …

Bonaventura hörte es an ihrer Stimme … er hatte auch neulich von den Italienern, von dem Gipsfigurenhändler und seinen Kindern gehört …

Der Mönch schreitet näher, hält einen Augenblick inne, horcht den italienischen Lauten und saugt sie voll Begierde ein, wie Duft aus dem Lande der Palmen …

Jetzt wendet sich Lucinde und wird auch seiner ansichtig …

Wir wissen, daß sie zum Tod erschrecken kann ohne das mindeste Zucken der Augenwimpern …

Blaß und marmorkalt mustert sie die beiden Daherkommenden: den Mönch, den sie schon um der Seltsamkeit seiner Tracht willen erkennen mußte; Bonaventura, vor dem sie in diesem Augenblick durch die Enthüllung ihrer Beziehung zu seinem Begleiter glauben durfte, alles zu verlieren …[243]

Der Mönch hört seinen Anruf nicht und liest nur die Inschriften der Leichensteine …

Auf den jetzt ihn treffenden Blick und den sich verneigenden Gruß Lucindens hatte sich Bonaventura sammeln können. Sonderbar, auch die Tochter des Italieners schien ihn zu kennen, die ihm doch fremd war … Mit einer hastigen Geberde deutete sie auf ihn und flüsterte mit dem Vater und mit den Brüdern …

Bei alledem hatte Lucinde den Pfarrer gegrüßt, ganz ehrerbietig zu ihm aufblickend. Vor dem Mönche aber schlug sie die Wimpern nieder …

Eine Italienerin vermuthet dieser … ohnehin mühsam dahinschreitend, hält er einen Augenblick inne … und jetzt wie festgewurzelt steht er und sicher hätte er durch einen lauten Ruf sein Erschrecken kund gegeben, wenn nicht Bonaventura, die Wirkung dieser Wiederbegegnung vorahnend, seinen Arm ergriffen und ihn von dannen geführt hätte.

Mühsam folgt Klingsohr. Das lange weite Gewand schleift an der Erde nach. Die Knie brechen dem Gefolterten. Glücklicherweise sind beide einer Kapelle nahe, in der eben Messe gelesen wird.

Beide knieen und mögen schwerlich beten können … falls nicht das Gebet ein Zwiegespräch der Seele mit sich selber ist.

Als sie sich erhoben und Bonaventura draußen im Freien fragt: Sie kannten jene Dame? darf der Mönch nur erwidern: Nein oder ja! Er erwidert: Ja! – Es war ein Wort wie ein Menschenleben.

Auf seinem Zimmer fand dann Bonaventura, als er nach dem seltsamsten Selbander von der Welt gegen Mittag[244] nach Hause gekommen, gleich beim Eintreten auf seinem Schreibtisch einen Brief, den ihm Renate aus St.-Wolfgang nachgesandt.

Er hatte ihr wol das Ansehen einer großen Wichtigkeit gehabt, denn er war mit Poststempeln über und über bedeckt.

Bonaventura erbrach und las:


Sub sigillo confessionis.

Quando quis tibi occurrit sidei romanae sacerdos …


Wir kennen die räthselhafte Einladung, die auch an den Dechanten ergangen war.

Wer weiß, ob dieser jetzt, wie er über die Berufung des geliebten Neffen durch die Römlinge zitterte, nicht ebenso von Bangen wäre ergriffen gewesen, hätte er das leuchtende Auge gesehen, mit dem Bonaventura diese Zeilen las und wieder las und sich nicht trennen konnte von den Worten: »Der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um die Kirche von ihren Fehlern zu reinigen!«

Freiheit! Freiheit! riefen tausend Stimmen in seiner Brust. Alle Creatur schien ihm zu schmachten nach Erlösung. Die gefesselte Zunge der ganzen Menschheit schien ihm nach Sprache zu ringen …

Er bewunderte den Kirchenfürsten; aber seine Ideale wankten. Er verzweifelte an der Kraft, in den großen Vorstellungen von seinem Beruf, die ihn sonst wie mit Cherubsflügeln emporgehalten, ein ganzes Leben lang noch mit seinem innersten Menschen aufzugehen.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 218-245.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs

Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.

150 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon