9.

[245] Düster brannte die Lampe in einem kleinen, engen, doch behaglich eingerichteten Zimmer.

Die weißen Vorhänge zweier Fenster waren niedergelassen … Tiefe Ruhe … nur zuweilen das Schnobern von Rossen wurde hörbar in dem Hofe, auf den sie hinausgingen.

Elf Uhr schon …

Im Nachtgewande sitzt Lucinde auf einem weiß überzogenen kleinen Kanapee … vor ihr steht ein blinkender Mahagonitisch mit Zeitungen und Büchern bedeckt … in einem Winkel des Zimmers, hinter einem Schirm, steht ein Bett … Im kleinen weißen Ofen prasselt eine behagliche Flamme.

Endlich war sie frei von ihrem Tagewerk der Verstellung, hatte sich entkleidet, konnte noch nicht zur Ruhe gehen und wollte wachen.

Die dunkeln Haare hängen, halb schon aufgelöst, über Nacken und Stirn herab … diese Stirn, die seit einigen Jahren erst sich so mächtig über die Augen vorgedrängt … sie stützt sie mit der durch das Emporhalten fast blutlos gewordenen, schneeweißen Hand …[246]

Auch das lange bauschige Kleid, das sie umhüllt, ist weiß … wie mußte die Schwärze ihrer Locken, das Feuer ihrer Augen dagegen abstechen! .. Die Unruhe ihres Geistes zeigte sich in den Lippen, an denen die weißen Zähne zuweilen sichtbar werden; sie drückt und schneidet in sie fast mit ihnen ein.

Schon oft hatte sie begonnen, die Haare zur Nachtruhe zu flechten und zusammenzulegen … immer war sie von der Arbeit abgekommen, hatte die Hände sinken und dann den Kopf in so schräger Lage beharren lassen, als wenn sie noch flocht, noch ordnete … Wurde er ihr zu schwer, so stützte sie ihn … Darüber hatte sich der kleine Messinglampendocht verzehrt, aber lange währte es, bis sie die Düsterkeit merkte; dann griff sie zu und schraubte ihn höher und das weiße Licht verbreitete sich heller auf die weißen Vorhänge, die Gestalt im weißen Nachtgewande …

Lucinde gedachte des Gestern und Heute … Der leuchtendste Punkt war die Begegnung am Morgen.

Porzia Biancchi hatte in dem daherkommenden Geistlichen eine Aehnlichkeit entdeckt, die sie dem Vater und den Brüdern mittheilte, diese dann wieder dem Onkel Marco, der ein Maler war und die Kunst übte, alte Bilder zu restauriren und der dafür in diese an alten Bildern so reiche Stadt berufen war …

Wohl schlug das Wort an Lucindens Ohr, daß der daherkommende Geistliche dem Eremiten Federigo von Castellungo wie aus den Augen geschnitten ähnlich sähe; wohl nannte sie des von ihr, trotzdem, daß sie Klingsohrn sah, so ehrerbietig Begrüßten Namen, den freilich[247] nur Porzia's Vater kannte von dem Dechanten, seiner buona pratica her … aber sie hörte nur das verhallende Knistern auf dem steinernen Estrich von Bonaventura's Schritten, staunte nur dem leisen Gange eines mit Sandalen und nackten Füßen dahinschreitenden Mönches, hörte dessen Lieder und dithyrambischen Sprüche, die ihr aus dem einzigen starren Schreck seines sie erkennenden Blicks wie tausend Raketen aufschossen … sie sah nur noch dann, wie sie beide niederknieten und zu beten schienen …

Aus dem Dome schritt sie, heute die Segnung mit dem Weihwasser vergessend.

Sie war im Kattendyk'schen Hause wieder, nahm die Abschiedszeilen der Serlo-Leonhardi (die schon den Wortbruch enthielten, doch von des Mönches nächtlichem Besuch zu erzählen – glücklicherweise war sie mit ihren Kindern wirklich abgereist –) und sammelte sich erst nach den Anstrengungen des Zusammenlebens mit einer sanguinisch erregten, das Wichtigste leicht, das Leichteste wichtig nehmenden Familie, Abends spät, in diesem Zimmer, das in den Hof gehend ihr als das ihrige war angewiesen worden.

Serlo's Kinder! Auch bei ihnen verweilte sie … Klingsohr's Verrath an seinem Gelübde … um ihretwillen! … Sie lächelte befriedigt, doch sprach sie zu sich:

Mäßige dich nur! Sei nur still! Nur still! Lächle nicht, weder vor Freude, noch vor Schmerz! Laß alles über dich ergehen! Laß den Wolkenwagen des Geschicks dahinrollen wie im Gewitter! Zuck' im Weltbrand nicht mit der Wimper! Ertrage, was auch komme, selbst das Seligste, mit Gleichmuth! Gib Gehör jedem Befehl, den die[248] Menschen hier, lieblos genug und ewig von Liebe sprechend und eigentlich liebevoll nur gegen zwei Bologneserhündchen, dir ertheilen! Sprich schon nichts! In deinem Ton liegt etwas, was der Ohrnerv der Eitelkeit nicht ertragen kann! Du willst ganz so sein, wie sie's wollen! Todt! Du willst beten wie sie, denken wie sie, ihre Reden bewundern, ihre Einfälle überraschend finden! Tuschelt dir die Frömmigkeit der Commerzienräthin eines Tages ins Ohr: Liebste, ich habe einen Sack gekauft, kommen Sie, wir bestreuen das Haupt mit Asche und beten in den Sack hinein! … auch das thu' ich! Will Johanna, daß ich an dem kleinen Professor extraordinarius die kleinen Nägel seiner Finger bewundere, ich thu' es! Ich will leben wie die Wanderer in den Schneealpen sich zu unterreden aufhören, wenn sie hoch oben hinaufkommen und fürchten müssen, durch ein zu scharf ausgesprochenes Wort die tödliche Lavine zu wecken!

Dann bei der zweiten Toilette der Commerzienräthin und Johannens, bei dem nur Putz und Vergnügen erörternden Besuche der Frau Procurator Nück, bei dem Geflüster über die immer enger und enger sich schließende gefahrvolle Einheit des Ehepaars im zweiten Stock, bei dem gerühmten Behagen an der Ruhe im Hause, seit Piter nicht anwesend, bei den Mittheilungen über die Hauptmännin von Buschbeck, ihren Tod, ihre Frömmigkeit, ihr Testament an den Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort und die fehlenden Werthpapiere, diese Kapitalien, die sie als Kind so angestaunt hatte, weil sie ihr wirklich »rings auf den Feldern zu liegen« schienen – zu allem[249] schwieg sie, ergänzte nichts, berichtigte nichts; sie wollte alles in sich verschließen und nur – ihre Zeit abwarten.

Gegen Abend war auch Treudchen auf einen Sprung gekommen und erzählte vom Kloster, wohin sie wirklich gegangen war ihren Geschwistern zu Lieb. Wie hatte man sie gefeiert! Selbst mit ihren Geschwistern hatte man sie überrascht, die aus dem Waisenhause waren abgeholt worden! Alle hatten Geschenke bekommen! Von Cajetan Rother, dem ehrwürdigen Beichtvater der Schwestern, für den das Sprachgitter nicht vorhanden war, hatte sie selbst ein zierliches Büchlein mit goldenem Schnitt empfangen, das Leben einiger besonders vorzüglicher Heiligen und Heiliginnen darstellend … Die Kinder trugen eine Last Confect mit sich heim, wie dergleichen auch nur in Klöstern gebacken wird … Sie zeigte ein von Schwester Beate erhaltenes Nadelkissen in Form eines Ostereis, ganz von Seide, vergoldet und in jenem Geschmack, der so eigenthümlich der frommen Kunstfertigkeit hinter Klostermauern angehört … Schwester Therese hatte dann vorgelesen, Marienlieder, deren einige man im Chore gesungen im Refectorium, vor und nach – dem Kaffee – und dieser Kaffee wäre so gewesen, wie nur je einer in der Dechanei zu Kocher am Fall, wenn etwa der Geburtstag des die »lieben Freundinnen« bereisenden Fräuleins von Minnerich oder der Frau Majorin Schulzendorf gefeiert wurde oder eine jener Kindergesellschaften, zu denen der gute Dechant (früher, ehe der Geist der Kirche so streng wurde) alle kleinen Kinder in Kocher am Fall ordentlich durch Visitenkärtchen einzuladen pflegte.[250]

Die frohen Mittheilungen kamen dann auch hier, auf Veranlassung der Dechanei, bei dem Morde der Frau Hauptmännin wieder an, bis dann Treudchen zu Madame Delring, ihrer nachsichtigen Herrin, wieder hinaufsprang …

Am Abend war auch die zweite, wie es schien quecksilberne Tochter der Commerzienräthin, Frau Procurator Nück, wieder erschienen, eine kinderlose, nur dem Putz und ihrer Eitelkeit lebende Frau. Lucinde hatte sich sogleich ihr Herz gewonnen durch einige Bemerkungen über ein neues Kleid, das sie trug. Sie war gestern im Theater gewesen und häufte das Allernachtheiligste auf die Darstellerin der Frau von Waldhüll und die kleinen »Fratzen«, die Lucinde so gern wiedergesehen hätte, wenn sie nicht das System gehabt, auch bei Genüssen des Gemüths, sie sich versagend, zu sprechen: »Wozu?« Das war das kalte Wort, das ihr eigen geworden, mehr Worte eines herben Behagens am Entbehren und der Selbstqual als der Herzlosigkeit. Im Geiste Serlo's hätte sie der Frau Procurator sagen mögen: »Liebste Frau, wäre das Haus voll gewesen, so hätte Ihnen alles gefallen! Da es aber leer war, übertrug sich Ihre Verstimmung über die geringe Bewunderung Ihrer Toilette auf die Leistungen der Mutter, der Töchter, auf alles …« Sie behielt das, wie jedes dergleichen, zurück, horchte nur dem Gespräch, bei welchem auch Benno genannt wurde, »meines Mannes bester Arbeiter«, der »von ihm nach dem Hüneneck geschickt worden ist« … und auch den Reiz, Benno's Weise gegen den Schein eines Sich-so-nurschicken-lassens zu befreien, unterdrückte sie … Sie sagte[251] nur immer ihren Leibspruch, ein Wort des heiligen Augustinus: Trahimur! Trahimur!1

Um sich zu beruhigen, hatte sie einmal wieder in Serlo's Papieren zu lesen angefangen und hatte auch wieder aufgehört …

Endlich begann sie aufs neue:

»Ist es denn möglich«, schrieb Serlo einst vor Jahren, »was ich gestern erleben mußte! … Eine junge Frau war in dem Hause, wo ich wohne, gestorben und sollte heute in der Frühe beerdigt werden … Eine alte Schauspielerin, die zu unserer Truppe gehört, klopfte, wie ich schon im Bette liege, an meine Thür, nennt ihren Namen und wünscht mich zu sprechen. Ich staune und fürchte – eine Anleihe. Nachdem ich mich angekleidet, öffne ich die Thür und in ihrem besten, elegantesten Anzug erschien die Darstellerin – der Zigeunermütter und Hexen mit einer augenblinzelnden und doch beklommenen Artigkeit. Nie hatt' ich mit ihr viel Worte gewechselt und erstaunen mußt' ich über die Wahl ihrer Ausdrücke, die Artigkeit ihres Benehmens, die Feinheit ihres ganzen, mit ihrem Rollenfache im vollkommenen Widerspruch stehenden Wesens. Verzeihen Sie! sagte sie nach einer Weile, wo ich das gefürchtete Anliegen erwartete, verzeihen Sie, in diesem Hause ist eine Leiche? … Ja, sagte ich, eine junge Frau, die an einem Herzfehler starb! … Sind die Leute wohlhabend? … Sehr arm! war meine Antwort … Würde der Mann gestatten, wenn ich ihm zwei Thaler schenkte – … Sie stockte … Gestatten?[252] Was? fragt' ich erstaunt … Mutter Viarda lächelte seltsam … Sie werden mich für eine Närrin erklären, begann sie aufs neue, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich eine – Liebhaberei habe, die keine andere ist als die, – Todte zu schmücken! … Wie? sagte ich und zog mich erschrocken zurück; ich glaubte mit einer Verrückten zu reden … Sie sind erstaunt, fuhr mein Besuch fort, Sie zweifeln an meinem Verstande, und doch bitt' ich Sie wirklich, führen Sie mich zu dem Manne und erlauben Sie mir, seine Frau so zu schmücken, wie ich ein ganz unwiderstehliches Verlangen trage, wenn ich irgendwo eine Leiche sehe … So traurig die Veranlassung dieser Bitte war, ich mußte doch über sie lächeln … Da Sie zu Ihrem Liebeswerk noch zwei Thaler dazugeben wollen, sagte ich, so will ich mit dem Manne reden … Ich ging in der Dunkelheit die Stiege hinunter und fand, den armen Handwerker mit seinen Kindern um die schon im Sarge befindliche, nur mit einem einfachen weißen Hemde bekleidete Leiche seiner Frau, der Mutter seiner trauernden Kinder … Mein Anerbieten konnte als ein Werk der Barmherzigkeit gelten und die Annahme fand keinen Anstand … Ich kehrte zu meiner Auftraggeberin zurück und begleitete sie hinunter … Mit allen Zeichen der Theilnahme trat sie an den Sarg, fuhr mit der Hand über die kalte Stirn und sagte dann: Hier, lieber Mann, da sind zwei Thaler, aber lassen Sie mich mit der Leiche allein! .. Der Mann ging arglos, wenn auch überrascht, mit den Kindern auf den Vorplatz … ich wollte bleiben … Auch Sie, Herr Neumeister! sagte sie (ich führte damals noch meinen alten Namen) … Als ich zögerte und etwas[253] befürchtete, das nicht in der Ordnung war, sagte sie: Herr Neumeister, wenn Sie schweigen und mich nicht stören wollen, können Sie bleiben … Ich blieb und sah voll Grauen, was die Darstellerin der Zauberinnen, Hexen und Zigeunermütter begann … Sie stellte einen Beutel, den sie unter ihrem Mantel verborgen hatte, zur Erde, zog eine Anzahl frischer Blumen hervor, legte sie der Leiche auf die Brust, in die Hände, ums Haupt. Dann ergriff sie ein kleines Döschen, das ich sofort als Schminktopf erkannte, tupfte hinein mit etwas Baumwolle und schminkte die Wangen der Leiche, daß sie wie volles blühendes Leben aussahen … Jetzt, meines Grauens und meiner Ausrufungen nicht achtend, ergriff sie gierig die kleine zinnerne Lampe und beleuchtete ihr Werk … es war ein Anblick, das Haar sträuben zu machen … Sie redete mit der von ihr geschminkten Leiche und wie mit einem ihr bekannten Wesen, redete voll Theilnahme, voll Herzlichkeit; beklagte die Leiden derselben, tröstete sie, eröffnete ihr ein Reich der seligsten Hoffnungen und ging zuletzt von dannen, wie wenn ihr ganzes Sein sich einmal aufgelöst hätte wieder in Andacht, Poesie und längstentbehrter Liebe … ich sah sie dahinschreiten wie ein Gespenst … Als ich allein war, bekämpfte ich mein Grauen, tauchte den Finger in das Oel der Lampe und entfernte die trügerische Lüge des Lebens von den todten Wangen … Der Gatte und die Kinder kamen zurück … sie fanden nur die Blumen und stockend erzählte ich, der Alten wäre es ein Bedürfniß, in dieser Art stille Liebesopfer zu vollziehen … Diese Frau, mit der ich täglich verkehren mußte, konnte ich nie mehr ansehen, schwieg auch von dem Vorgefallenen zu jedermann, bis[254] ich von andern erfuhr, daß diese Manie allgemein an ihr bekannt war und daß sie, um sie zu befriedigen und vor den Folgen ihres dadurch erlangten Rufes, der sie die Leichenschminkerin nannte, sicher zu sein, schon seit Jahren ein traurig irrendes Wanderleben führte.«

Oft hatte Lucinde diese Stelle gelesen … mit Lachen sogar … heute erschien sie ihr in einem seltsam andern Lichte …

Sie überschlug jedoch einige Betrachtungen über das was man ein Leichenschminken in der Geschichte nennen könnte, und fuhr fort:

»Wie mich dann diese Erfahrung auch wieder zurückversetzt hat in meine erste Erziehung zum Priester, in die klösterliche Einsamkeit meines Jugendlebens im Convict!

Ja, wer nennt euch alle, ihr Verirrungen, die unausbleiblich sind, wenn man die Grundnatur des Menschen eine verdorbene nennt und das Leben daran gesetzt wissen will, diese Natur zu bekämpfen, auszurotten und mit einer geläuterten, einem Kleide voll Glanz und Durchsichtigkeit zu vertauschen! ›Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus!‹ war Jahrtausenden und ist noch jetzt Millionen nicht im Bilde gesprochen! Wirklich reißen sie sich – und andern den edelsten Theil des schönen menschlichen Baues aus! In dem protestantischen Wesen findet die Lehre von der Erbsünde doch, wenigstens nur noch im allgemeinen eine Pflege; aber bei uns, den Treugebliebenen, uns, den in duldender Ergebung das große geschichtliche Vermächtniß Forttragenden, bei uns ist darauf die ganze Heilslehre begründet und der Teufel eine Macht, die man schon von dem Kinde wegbläst und wegkreuzigt, wenn es getauft wird. Jeden[255] ruhig prüfenden Seelenarzt frag' ich, wie er es nennt, wenn das Mistrauen und der Haß vor der eigenen Person sich so steigert, daß man sein Ich einer fortwährenden Züchtigung unterwirft? Die Manie hört darum nicht auf eine Manie zu sein, wenn sie auch geheiligt erscheint durch Millionen, die von ihr befallen wurden. Oft kann uns schaudern vor einem Wahn, der die ganze Majestät der Gewohnheit und der Gesetze für sich hat. Und doch ist dem so und wir sehen es mit Wehmuth.

Ich bekenne von mir, daß ich in meiner Erziehung zum Priester unter dem Druck einer steten Beängstigung vor dem Uebersinnlichen und Gespenstischen lebte. Die Fasten, die methodisch geregelten Lebensweisen machten uns Knaben bei allem sonstigen Leichtsinn den Kopf so wirbeln, wie eine immerfort angeschlagene eintönige Trommel zuletzt zur Verzweiflung bringt. Wir überboten uns, und nicht aus Eitelkeit und Liebedienerei, in der Schaustellung des Kampfes gegen Anfechtungen; wir wollten Visionen haben, wie Antonius in der Wüste und Franz von Assisi. Einen meiner Mitschüler fand man eines Tages mit verletzten Gliedern ohnmächtig in seinem Zimmer am Boden. Die Gewohnheit hatte er gehabt, in jedem Augenblick, wo er allein war, an einem Querholz, das er nach langen geheimen Mühen so über einen in der Mauer hervorstehenden Balken befestigen konnte, daß es sich auch ebenso wieder abnehmen ließ, ohne daß man die Anstalt bemerkte, sich anzuklammern und für sich ganz allein wie Christus am Kreuze zu schweben. In dieser Selbstmarter würde er immer weiter gegangen sein, wenn man ihn so nicht eines Tages besinnungslos gefunden hätte.[256]

Empfindung hab' ich für alles Poetische, das einem solchen Wahn und einem darauf begründeten Glauben und Leben zum Grunde liegen kann; ein Schauer überrieselt mich aber doch, wenn ich mir eine solche, damals nicht etwa bestrafte, sondern eher noch bewunderte und belobigte Gesinnung in ihrer spätern Entwickelung, im weißen Gewande des Dominicaners, als Großinquisitor, als Beichtvater eines Fürsten denke und an solcher Stelle dann die Loose gemischt und gezogen, die über das geistige Wohl der Jahrhunderte entscheiden wollen. O du edler Gekreuzigter, den ich so innig liebe, was geht auf deinen Namen! … Einst fragte ich einen Arzt nach meiner Leichenschminkerin. Solche Dinge entstehen aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens! sagte er … Nun wohl, dann will ich einen Schleier fallen lassen, so groß wie der sternenlose, schneeverhüllende Nachthimmel des Novembers, über euch Kirchen und Kapellen und Klöster und Schulen, in denen die Priester im Geiste Hildebrand's erzogen werden und wirken! …

Ich sah auch vielerlei Wahn, der nicht aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens kam. Die beleidigten Geister der Freiheit und Natur rächen sich. Sie jagen wie mit Furienfackeln die Feinde der Menschheit, die Verbrecher gegen den Heiligen Geist rund um sich selbst, daß sie keinen Ausweg mehr wissen vor ihrem eigenen Schatten und mitten in ihren Siegen, mitten in ihren Triumphen eine Verzweiflung sie ergreift, die ihnen zuletzt nicht den geistigen Tod als die höchste Lebenswonne vorspiegelt, sondern sogar den physischen –

Wir hatten unter unsern Lehrern einige ehemalige Benedictiner, in ihrer Art höchst gelehrte und an sich vortreffliche[257] Männer. Sie gehörten Klöstern an, die man aufgehoben, Klöstern, in denen sie mit großer Bequemlichkeit gelebt hatten. Einer davon verschmerzte die Versetzung in den Stand des Weltgeistlichen sehr leicht. Es war ein Mann jovialer Natur, plauderhaft und nicht reinen Geistes. Ihm hätte des alten Römers Wort: Vor Kindern habe Scheu! vorzugsweise gerufen werden können. Seine behäbige und immer lächelnde Art war die der unerlaubten Vertraulichkeit im Reden. Wie ein leckes Faß war er, das aus allen Ritzen quillt. Seine Lust war die, Geschichten aus seinem Kloster zu erzählen, alles durcheinander, Heiliges und Weltliches, Verbürgtes und Unverbürgtes – später hab' ich oft solche unwürdige Greise gefunden, die ein Gefallen daran finden, gerade vor der Jugend geistig entblößt zu gehen. Was hat uns nicht dieser alte Professor, Pater Sylvester, von seinem und allen Klöstern und Pfarreien der Welt erzählt! Nichts etwa, was gegen sie zeugen sollte, nein, das Frommste, das Andächtigste, aber gemischt mit dem Unmöglichsten und sich eben deshalb dem Spott von selbst Anheimgebenden! Die Geschichten von einer Pfarrersköchin, die mit dem Teufel zu thun gehabt hatte, erzählte er ebenso für bestimmt, wie er die Versicherung gab, daß im Fegefeuer die Männer und Frauen getrennt sind. Dies bewies er aus der schlechtern Natur der Weiber, die durch Aussprüche der Concilien erhärtet wurde. Die Entziehung des Kelches schrieb er dem Ueberhandnehmen der Bärte zu und der Gefahr des Weines vor dem Ungeziefer – Kein Bienenschwarm, sagte er wie mit Schwuresbetheuerung, der in eine Kirche käme, rühre die Hostie an – Zwei Leichen hätten in einem Grabe[258] gelegen, als man sie aber ausgrub, hätte man die eine über der andern gefunden und als man näher sich erkundigt, war die untere ohne Beichte gestorben – Dem Pfarrer gebühre eigentlich von allem der Zehnten, auch von der Ehe; diesen könnte er aber den Neuvermählten schenken, da er jede Ehe schon vollständig allein genösse, nämlich am Altare im Sakrament (man denke sich, wie uns reifende Knaben diese Worte aufregten!) – Die Kirchenglocken wären die Zungen der Lüfte, folglich müßten sie auch wie jede Zunge fasten; das geschähe am Grünen Donnerstage – Im Beichtstuhl müßte man vorzugsweise nach den Träumen fragen; eben in diesen läge der wahre Schlüssel zur beichtenden Seele, die oft selbst nicht wisse, was ihre wahre Sünde sei – Beim Lesen einer Todtenmesse erkenne man daran, wenn dem Priester das Kind Jesu in der Hostie erschiene, daß die Seele nicht mehr im Fegefeuer wäre – Und so gingen diese Belehrungen des Paters Sylvester fort bis zur Exaltation über den Werth eines Priesters, daß dieser uns geradezu Gott gleichzukommen schien. Zwischendurch liefen in aller Harmlosigkeit Berichte über ein Nonnenkloster, wo die Schwestern im Klostergarten bei Mondschein wandelten und unter den Blumen das Kind Jesu suchten und oft schon hätten sie's gefunden, sagte er, und hätten's in die Kirche an den Hochaltar getragen, geputzt und lieblich angesungen und allerlei Spaß mit ihm gehabt – oder von einem Mönche, der in einem Büchschen den Staub sammelte, der sich am Hochaltar auf den Marienbildern anlegte, und damit Zahnweh vertrieb und Aehnliches.

Was aber auch Pater Sylvester uns in Mußestunden[259] und beim Spazierengehen mit ernster Miene an solcher Narretheidung zuflüsterte – man schickte ihn endlich in ein Versorgungshaus – nichts kam dem gleich, was wir in unserm düstern Gebäude mit seinen langen Gängen, finstern Zellen, durchräucherten Winkeln und gefängnißartigen, vergitterten Fenstern endlich selbst erlebten.

Ein anderer Benedictiner, Pater Fulgentius, war ein Mann von großen Kenntnissen und strenger Disciplin. Cholerischen, oft aber auch wieder tiefmelancholischen Temperaments und wie von Schwermuth über die ganze Erdenschöpfung ergriffen, flammte er bald in Ausbrüchen der Leidenschaft auf, bald versank er in ein fast menschenscheues Umherirren und Suchen nach einer Ruhe, die er nicht finden konnte. Er brachte es dahin, daß Pater Sylvester endlich entfernt wurde. Von zelotischer Strenge in seiner Lehre strafte er, ließ züchtigen und verbreitete Furcht und Schrecken. Dieser Gesinnung wegen hatte man ihn zum Rector ernannt. Erst schloß er sich ein, um diese Würde abzulehnen – zwei Tage lang! Als er endlich, von Hunger und Durst getrieben, nachgeben mußte und öffnete und die Würde annahm, war er eine Zeit lang die Milde selbst; bald aber kam die alte wie aus Feindschaft gegen Gott und die Welt hervorgehende Strenge, die indessen den Ruf der Gottseligkeit der Anstalt mehrte. Endlich verbreitete sich das Gerücht, daß es mit dem Pater Fulgentius nicht geheuer wäre. Nachts hörten wir Kleinern zuweilen ein plötzliches Laufen auf den Corridoren, ein Schellen wie nach Hülfe – am folgenden Morgen erfuhr man, der Rector wäre krank gewesen. Erst nach einigen Tagen erschien er dann[260] wieder, düster und verfallen, mit dem Ausdruck des tiefsten Seelenschmerzes und so, als läge das ganze Leid der Welt auf seinen Schultern. Diese nächtlichen Begebenheiten wiederholten sich, ja am Tage kamen sie schon vor und allmählich verlautete die grauenhafte Kunde, daß der Rector, gefoltert von Seelenleiden, unzufrieden mit allem und mit sich selbst zumeist, eben noch die gleichgültigsten Dinge reden, dann aber in seine Zelle gehen konnte und Versuche machen, sich zu entleiben. In der ersten Nacht hatten ihn einige Schüler der ersten Klasse gerettet, die um Mitternacht in den Chor mußten, um zu singen. Sie klopften, um den Rector, der sich zuweilen auch diese Unterbrechung des Schlafes auferlegte, abzurufen, traten, da niemand sein Zimmer verschließen darf, selbst ein Lehrer nicht, ein und hatten den Anblick eines Erhängten. Die rasche Entschlossenheit eines der stärksten Alumnen schnitt ihn los und allmählich kam er zu sich. Man verschwieg den Vorfall, mußte ihn verschweigen; aber er wiederholte sich. Man suchte die Ehre der Anstalt zu wahren; die Verbindung mit der Außenwelt war so lose, so locker, die Intervalle der Selbstzerstörungsanfälle wurden zuweilen länger; man bewachte den Unglücklichen, nahm ihm weg, was ihm die Ausführung seines Gelüstens erleichtern konnte – und so wurden diese Dinge vertuscht. Als jedoch immer und immer die Scenen wiederkehrten, beriefen die Professoren, die größtentheils durch Pater Fulgentius berufen und angestellt waren, einen Mann, den wir, als wir davon erfuhren, nicht anders als für einen Exorcisten halten konnten. Denn es stand uns fest, daß eigentlich an dem Pater Fulgentius[261] sich eine besondere Absicht der Vorsehung offenbarte. Wir sahen ihn um seines gottseligen Lebens und seiner Lehre willen nur unter den Anfechtungen des Teufels. Ihn dem Himmel zu erhalten schien uns der Zweck eines Besuches zu sein von einem durch seine Ascese berühmten Mönche, einem Laienbruder der Franciscaner, der aus ferner Gegend angemeldet wurde.

Ein Bruder Hubertus erschien. Eine hagere, fast skeletartige Gestalt, mit einem Kopfe, der schon dem Beinhause anzugehören schien. Angekommen, verneigte er sich freundlich nach rechts und links und begrüßte den Rector scheinbar nur im Auftrage seiner Obern mit dem Ausrichten einer ihm anvertraut gewesenen Commission in Sachen eines Processes; denn auch ein Advocat begleitete ihn. Pater Fulgentius wußte nichts von dem Vorhaben seiner Freunde, die eine Heilung durch den Bruder Hubertus nach dessen Rufe für möglich hielten. Auch ich erfuhr erst viel später den ganzen Zusammenhang aller dieser Vorgänge. Auf meinen künstlerischen Irrpfaden begegnete ich einem meiner frühern Mitschüler, einem inzwischen angestellten Pfarrer, der damals den obern Klassen angehört hatte, die den Rector bewachten. Man denke sich Vorlesungen über den Glauben und die Liebe, die unter solchen Umständen gehalten wurden! Jener berühmte Rechtslehrer, der in Berlin auf die vernünftigste Art seine Pandekten las und dennoch sich einbildete, Kaiser Justinian zu sein, hat mich oft an diese Collegien in unserm Convict erinnert. Von diesem alten Mitschüler erfuhr ich erst, daß Bruder Hubertus, der gleichsam zum Ausruhen von seiner Fußwanderung einige[262] Tage länger unter uns verblieb, eines Tages den Befehl gab, die Werkzeuge der Selbstzerstörung in des Paters Nähe – nicht wegzunehmen. Es geschah dies …«

Lucinde hörte die zwölfte Stunde schlagen …

Sie legte die Blätter zusammen …

Sie kannte ihren ganzen Inhalt …

Sie hatte alles das schon so oft gelesen und nahm es nur dann wieder vor, wenn sie sich für den Zwiespalt, in dem sie mit den Auffassungen Serlo's lebte, eine Beruhigung suchte, eine Brücke der Vermittelung …

Hätte Serlo noch gelebt und neben ihr gestanden – mit seiner elegischen Ironie, der lässigen Ergebenheit, der sichern Zuversicht, daß dies ganze Dasein der Mühe des Lebens nicht lohne – sie würde vielleicht über Religion und Kirche gedacht haben wie er. Bonaventura aber glaubte anders … Das zog sie, sich nicht den Anschauungen Serlo's gefangen zu geben … Wie sie schon den Beda Hunnius anders beurtheilte als Serlo, so hätte sie auch getrost den ganzen Bau, der sich um sie her durch ihr neues Bekenntniß wölbte, vollkommen anerkannt und an seiner Vollendung mitgearbeitet, hätte nur Bonaventura irgendwie ermuthigend und beifalllächelnd zu ihr herabgesehen … und das stand überdies in ihr fest: Wahn ist ja alles! Für den Glauben aber, es wäre kein Wahn (und der ist nothwendig, wenn nicht alles zusammenfallen soll), kann es mancherlei Formen geben, von denen dann allerdings die eine vielleicht eine Kleinigkeit besser ist als die andere …

Der Name des Mönches Hubertus durchschauerte sie[263] jedesmal, wenn sie von ihm las. Sie hatte ihn nie gesehen – aber in ihrer Jugend oft von ihm reden hören. Was knüpfte sich nicht alles an ihn an! An diese alte Liebe der wie einst ihre Tauben gestern so am Küchenherd Erwürgten! … Die Nächte im Pavillon des Parks vom Schloß Neuhof, wenn die Ulmen rauschten und der Mond mit seinem so klugen, aller Dinge der Erde kundigen Antlitz in ihre Kammer schien, nachdem sie das Licht ausgelöscht und sich auf ihr Lager geworfen …

Auch jetzt ging sie zur Ruhe … die Lampe auslöschend und hinter ihrem Schirm verschwindend wie ein Schatten …

Sie hatte die Ahnung, daß sie noch durch viel Untergang und Zerstörung gehen würde – Dann war es ihr immer, als stünde alles um sie her in Flammen … Und auch heute war ihr erster Traum eine Feuersbrunst …

Allmählich wurden die Bilder ruhiger … Noch zeigten sie wol die alte Frau Hauptmännin auf der Todtenbahre … Hubertus trat zu ihr ein wie zu Pater Fulgentius … Doch was sind Träume! … Der »Advocat«, der hinter ihm stand, war erst Lucifer selbst – dann milderten sich die Schrecken – die Gestalten wurden bleicher und bleicher – zuletzt blieben nur die beiden Bologneserhündchen übrig und Herr Maria mit seiner saubergefältelten Wäsche und mit Deutschlands feinstem Dialekte.

1

Wir werden gezogen und haben keinen freien Willen.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 245-264.
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