14.

[206] Als Lucinde dies grauenvolle Wort hörte, sprang sie empor.

Sie verstand nicht einmal gleich, was sie hörte.

Sie wußte anfangs kaum, wo sie war.

Die Mägde hatten schon aufgeräumt und über dem gelben Plüschsammt hingen schon wieder die grauen Ueberzüge. Nur sie hatte man den erquickenden Schlaf noch genießen lassen.

Die Lisabeth wiederholte die grauenvolle Mittheilung:

Der Deichgraf ist todtgestochen! Gestern! Im Düsternbrook!

Aber der Doctor? fragte Lucinde erblassend und sich auf alles Gestrige jetzt erst besinnend.

Sie schliefen gerade, hieß es, als die Leute, die auf der Buschmühle arbeiten und den Weg über Neuhof nehmen, wenn sie nach Hause wollen, die Nachricht brachten. Es war um neun Uhr.

Ermordet! wiederholte Lucinde schaudernd und sich auf das, was damit zusammenhängen konnte, besinnend …

Abgestochen mit einem Messer, gerade wie man einen[207] Karpfen absticht, dicht am Kiemen! fuhr die Lisabeth fort. Im Regen lag er hart am Grenzstein bei der großen Eiche. Mit dem Menschen, der's gethan hat, muß er gerungen haben auf Leben und Tod!

Aber wer war es denn?

Die Lisabeth wußte niemand zu nennen, erzählte aber von der Bewegung auf dem Hofe und in der ganzen Gegend …

Und der Doctor?

Dem hätte man's gestern Abend sogleich gesagt. Er hätte wie versteinert gestanden, sie erst wecken wollen, dann wäre er hinuntergeschlichen in seinen Wagen, wie ein Schatten. An den Glaswänden hätte er sich wie ohnmächtig gehalten und wie er sein Antlitz drin gesehen, hätt' er sich an den Kopf geschlagen und einigemal gelacht, gelacht nämlich vor Schmerz …

Die Lisabeth erzählte, wie es auch ihr immer ginge, daß sie vor Schmerz lachen müßte und daß sie schon einmal drum einen Doctor gefragt hätte. Die Aerzte wissen, was sie alles dem Volke leisten sollen! Sie werden gefragt, ob sie nicht Tränke hätten, daß man gerade nur dies oder das träume, und zu manchem Arzt schon kam eine Mutter und verlangte ihrem Kinde etwas verschrieben, weil es so leicht »schrecke«.

Von den Nerven Lucindens wissen wir schon, daß sie gegen den Schreck gestählt sind.

Was aber sagte denn nur der – Doctor? fragte sie.

Der wollte Sie nur wecken, hieß es weiter, und als Sie nicht hörten, schlich er davon und in den Wagen war er und sein Gaul zog ihn fort, wir wußten selbst[208] nicht wie. Hernach sagte Stephan, der spät aus dem Wirthshaus kam, es wäre besser gewesen, es hätte ihm eins sein Roß geführt: er hätte auf die Nacht ein Unglück haben können … es geht schroff ab bis zur Buschmühle.

Dort fand er schon den todten Vater? fragte Lucinde kopfschüttelnd.

Stephan, fuhr die Lisabeth fort, war der erste, der den Deichgrafen gefunden hat. Es fehlte ihm ein Stemmeisen. Da war's ihm doch, als ob er's im Grund hätte liegen lassen an der großen Eiche. Nun ging er hinunter und im Schummer schon. Gleich sah er, wie da alles durcheinander lag an seinem Werkplatz. Der Stein mit dem Adler war weggeschoben, rundum alles zertreten, und wie wenn es Streit gegeben. Und nun, Marie Joseph! da fand er denn auch den Deichgrafen gerad' auf dem Gesichte liegend. Hier, sehen Sie, hier am Hals, da wo schon manche ein neugeboren Kind mit einer Stecknadel umgebracht hat, gerade da hatt' er's weggekriegt; nicht drei Zoll tief war der Nickfänger hineingefahren, sagte Stephan.

Der Nickfänger? fragte Lucinde. Woher weiß man denn von …? Was wird der Kronsyndikus sagen? fügte sie jetzt noch ganz harmlos hinzu.

Die Lisabeth sah Lucinden groß an. Sie schien zu erstaunen über eine Frage, die geringe Menschenkenntniß verrieth. Lucinde war in der That von den sonstigen Dingen, die in ihr lebten, so erfüllt, daß sie kaum noch an die auffallende gestrige Rückkehr des Kronsyndikus dachte.[209]

Die Lisabeth erklärte zunächst das späte Ausbleiben Stephan Lengenich's. Er hätte im Wirthshaus den Vorfall wol zehnmal wiederholen müssen. Die Leiche war in die Buschmühle getragen worden und jetzt säße schon ein Actuar aus dem Amte Lüdicke unten und im Düsternbrook würde alles nach Befund aufgenommen. Daß es in dem ganzen Kreis eine nicht geringe Zahl von Menschen gab, die mir dem Theilungscommissar in Streit lagen, und daß man ihm gerade an dem einsamen Düsternbrook hatte aufpassen können, stand fest. Ein Verdacht auf diesen oder jenen, der der Thäter hätte sein können, wurde nicht ausgesprochen; die Lisabeth selbst war zu klug, die Gedanken, die der ganze Hof schon über den Kronsyndikus theilte, Lucinden mitzutheilen.

Es war eine dumpfe Schwüle, die den Vormittag über Schloß Neuhof und allen seinen Bewohnern lag. Die Arbeiten gingen lässig. Jeder hatte die schreckensvolle Thatsache zu wiederholen und zu erörtern. Lucinde begriff dann allmählich, daß die sonderbare, allen ersichtlich gewesene Aussöhnung des Kronsyndikus mit dem Sohn des Deichgrafen allgemein in einen Zusammenhang mit dem Vorgefallenen gebracht wurde. Die Unruhe und das Geheimnißvolle wuchs, als Stephan Lengenich, der allerdings im offenen Kriege mit dem Deichgrafen gelebt hatte, auf gerichtliche Requisition abgerufen wurde und am Abend nicht wiederkam. Die Vorstellung, die schon auf dem ganzen Schloß feststand, daß der Kronsyndikus der Mörder gewesen, theilte sich endlich auch Lucinden mit, und als erst der Inspector der Brennerei, die wichtigste Person[210] auf der Oekonomie, erklärte, es würde doch wol nothwendig sein, daß der Kronsyndikus auf Eggena durch einen Expressen von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt würde, und dabei die Miene eines Mannes machte, der wie von etwas an sich ganz Ueberflüssigem sprach, wandte sie sich erblassend ab und ging dem Parke zu, überlegend, ob sie nun nicht selbst zur Buschmühle sollte. Die Wege dorthin waren aber übermäßig vom Regen aufgeweicht und Beistand mochte sie nicht begehren. Schon war ihr, als wäre sie eine Mitschuldige, die vor allem den Kronsyndikus zu schonen hätte! … Darum war Heinrich sein Sohn! Darum wollte er ihm gleichsam die Hände binden! So sprach sie mit sich im Pavillon und blickte gedankenvoll in den düstern Park. Der Sturmwind peitschte wieder die Zweige der hohen Ulmen und bog selbst die Stämme. In ihrem Innern sah es nicht anders aus.

Einer Nachricht von dem Doctor harrte sie mit jeder Minute entgegen. Diese kam aber nicht. Der Tag ging über das grauenvolle Ereigniß hinweg, auch eine aufgeregte, halb schlaflose Nacht. Von dem Doctor war nichts zu hören und zu sehen; selbst dem gewöhnlichen Boten, dem buckeligen, grauhaarigen Sohn der Alten, bei denen sie wohnte, dem Musikanten, hätte sie seinen Verrath verziehen, wenn er nur eine Mittheilung gebracht hätte. Als dieser aber kam, den Vorfall wiederholte und obenein noch hämisch lachte und seinen nun auch wie aus ihrer Lethargie erwachenden und grinsenden Alten von einem Schaffot sprach, über das erst ein Sammttuch gebreitet werden müßte mit[211] einem geflügelten und gekrönten Lindwurm – dem Wappen der Wittekinds – da ergrimmte sie aufs heftigste, verbot ihm im Pavillon zu bleiben, riß, da er nicht gehen wollte, das Fenster auf, warf seine Geige weit in die Nacht hinaus, zwang ihn, seinem Instrumente, das er auf allen Kirchweihen und an jedem Sonntage in den Schenken um Witoborn strich, nachzulaufen und schloß indessen, mit einigen Sätzen von der Treppe ihm nachspringend, die Thür des Pavillons. Die Alten vergegenwärtigten sich inzwischen, welchen »Stein im Brete« Lucinde vorn im Schlosse hatte, und ließen sie aus Furcht gewähren.

Auf dem Hofe fehlte das Auge des Herrn. Der Bote hatte vom Vorwerk Eggena die Nachricht gebracht, der Kronsyndikus würde in der Frühe zurückkommen. Er kam aber noch am Mittag nicht. Am Abend traf er dann endlich ein. Er allein, ohne den Kammerherrn. Lucinde hörte das von den Alten, die beim Hofkehren ihn hatten aussteigen und vom Landrath, der ihn begleitete, Abschied nehmen sehen … noch immer war er in seiner glänzenden Uniform. Jetzt drängte sie's, zu ihm zu eilen, und doch fürchtete sie sich, dem Entsetzlichen entgegenzutreten. Auch mußte sie nach dem Vorgefallenen, nach dem Beweise des höchsten Vertrauens, das er ihr geschenkt, glauben, er würde bald aus eigenem Antriebe entweder selbst kommen oder um sie schicken.

Da es endlich dunkel wurde und sich niemand bei ihr sehen ließ, auch vom Doctor immer noch keine Kunde kam und nur erzählt wurde, am folgenden Morgen würde auf einem der nächsten Kirchhöfe, der zu einer kleinen evangelischen Gemeinde gehörte, der Deichgraf bestattet werden,[212] und als dann auch Abends von dorther klagend und fast wimmernd zwei kleine Glöcklein aus dem Thale heraufklangen, hielt sie es so nicht länger aus. Sie wagte sich über den großen Weiher des Parkes, dessen gefiederte Bewohner schon längst die Stockwerke ihres Thurms bezogen hatten, hinaus, sie wollte sich in den Zimmern des Kammerherrn zu schaffen machen und so den Vater an ihre Gegenwart erinnern.

Wie erstaunte sie aber, als sie dasselbe Gefährt, in welchem vor zweimal vierundzwanzig Stunden Heinrich Klingsohr angekommen gewesen, an der hintern Aufgangstreppe des Schlosses stehen sah und erfuhr, der Sohn des Deichgrafen wäre oben mit dem Kronsyndikus allein und niemand dürfte sie stören!

Sie traute ihrem Ohre kaum. Jetzt sah sie jedenfalls die Bestätigung erst der Unschuld des Kronsyndikus überhaupt, dann aber auch wieder, aufs neue grübelnd und die Vorgänge vergleichend, die so nahe Verwandtschaft zwischen beiden.

Von den Leuten erfuhr sie, daß die Aussichten auf Entdeckung des Mörders sich gemehrt hatten. Theils behauptete man, daß von einem Morde überhaupt nicht die Rede sein konnte, sondern nur von den Folgen eines Wortwechsels. Hatte der Deichgraf beim Streite sich gewandt und war ein gezücktes Messer (ein gezogener Hirschfänger, wagte schon niemand mehr hinzuzusetzen) so unglücklich gewesen, gerade im selben Augenblick in den Nacken zwischen die Halswirbel zu fahren, so drehte er sich noch einen Augenblick ein wenig um und »weg war er«, wie Kenner versicherten. Man erzählte, daß so die[213] Jäger mit dem Nickfänger dem Todeskampfe eines erlegten Hirsches im Nu ein Ende machen. Alle aber wußten, daß sich die Umstände, wie es hergegangen, immer mehr lichteten, seit man einem Fetzen Tuch, den sich er im Ringen das Opfer seinem Mörder vom Kleide gerissen, diese einstimmige Erklärung gab. Man wußte auch, daß der Tuchfetzen von Farbe grün gewesen. Allen stand freilich, ohne daß eine Silbe laut wurde, dabei der Kronsyndikus vor Augen, der so ängstlich vorgestern seinen grünen Jagdrock bis oben hin zugeknöpft gehabt hatte, allen war begreiflich, daß der Geruch, der sich so pestilenzialisch im Schlosse nach seiner Rückkehr aus der Gegend des Grundes her verbreitet hatte, nur von einem verbrannten Kleide herrühren konnte … aber niemand verweilte dabei ersichtlich, die einzige Lisabeth ausgenommen, die wie sinnlos hin- und herrannte, seitdem Stephan Lengenich aus Lüdicke nicht wiederkam.

Indem klingelte es beim Kronsyndikus aufs heftigste … jeder glaubte, dort wäre Hülfe nöthig … Lucinde bebte … die Lisabeth suchte nach Fassung … sie schickte einen Diener, um die Befehle des gnädigen Herrn zu holen.

Nach wenig Augenblicken kam der Diener zurück … Das Roß sollte ausgeschirrt werden!

Ausgeschirrt? war nur ein Ton, den alle zugleich sprachen. Man zerstreute sich kopfschüttelnd. Auch Lucinde zog sich zurück, dem Vorpark zu.

Wieder aber klingelte es …

Der Diener kam aufs neue und brachte die Nachricht,[214] man hätte Licht verlangt und – zwei Flaschen Burgunder!

Jetzt wußte Lucinde nicht mehr, woran sich halten. Sie fragte nach dem Kammerherrn, von dem niemand etwas wußte, dann schwankte sie, da nach ihr nicht begehrt wurde und sie auch nicht wußte, wie sie in eine so geheime Zwiesprache eintreten sollte, ihrem Häuschen zu, jetzt sich selbst mit ihrer Jugend und Lebensunerfahrenheit bescheidend. Sie sagte sich, daß sie bei ihren Jahren alles das schon zu verstehen – »zu dumm« wäre.

Im Pavillon war es düster und gespenstisch. Der Sturm tobte, Zweige brachen. Die Mitbewohner schliefen schon. Sie glaubte immer noch, man würde sie nun wol nach vorne rufen. Es geschah aber nicht. Es verging die zehnte Stunde. Endlich suchte sie fiebernd das Lager …

Das Leid der Prinzessin Ilse aus dem »Liederbuch von Heine«, in dem sie eine Weile gelesen, rauschte ihr noch lange im Ohr:


Es bleiben todt die Todten,

Und nur das Lebendige lebt;

Und ich bin schön und blühend,

Mein lachendes Herze bebt.


Und bebt mein Herz dort unten,

So klingt mein krystallenes Schloß,

Dort tanzen die Fräulein und Ritter

Und jubelt der Knappentroß.


Bilder wie vom Hause im einsamen Tannenwald, Bilder vom ledernen Großvaterstuhl und der am schnurrenden[215] Spinnrad sitzenden Großmutter, Bilder vom wilden Jäger und seinem Liebchen, vom Mondschein, vom Galgen, von Gretchen in ihrem Wahnsinn gaukelten um so mehr um sie her, als die Lebensschicksale der alten Stammers und einer ihnen frühgestorbenen Tochter sich trotz der Dunkelheit, die für sie auf ihnen lag, gespenstisch einmischten. Der Refrain »Dort oben auf dem Schlosse« blieb sich immer gleich und dazu geigte der buckelige »junge« Stammer unter ihrem Fenster und wisperten die Alten nebenan. Es war ihr, wie wenn irgendwo Hochzeit gefeiert wurde mit Gästen aus der Unterwelt.


Blanke Ritter, Frau'n und Knappen

Schwangen sich im Fackeltanz …


Am folgenden Morgen klagten dann wieder die ihr wohl bekannten, sonst aber selten von ihr beachteten kleinen Glöcklein, die evangelischen; die großen, die katholischen schwiegen.

Vom Doctor erfuhr Lucinde, daß er Nachts zwölf Uhr erst vom Schlosse abgefahren, und vom Kronsyndikus, daß er schon um fünf Uhr in der Frühe wieder vom »schönen Enckefuß« abgeholt und nach Eggena zurückgekehrt war. Nach ihr war nicht gefragt worden, und sie hörte dies gern, weil es ihr anzudeuten schien, daß zwischen den Menschen, die ihr werth waren, Friede herrschte.

Auch auf Schloß Neuhof war große Bewegung, denn um acht Uhr sollte der Deichgraf begraben werden.

Aus der Nähe und Ferne, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen strömten Theilnehmende herbei.

»Es war ein Mann! Nehmt alles nur in allem!«[216] klang seine Nachrede – erst am Grabe von der aufgeschütteten Erde aus, dann aber selbst bis in die fernsten Gauen des Vaterlandes.

Man legte Eichenkränze auf seinen Hügel. Sie wurden auch im bildlichen Sinne ihm gewunden, in Nachrufen aller Art, in Versen, in ungebundener Rede … Man pflückte die Blätter zu diesen Kränzen auch bildlich aus den Schluchten des Teutoburger Waldes, durch die der Edle damals als Flüchtling geirrt, wie er sich in der Befreiungsstunde des Vaterlandes so gefahrvoll verrechnet hatte. Auch seine Tage von Magdeburg wurden gerühmt. Schon war ja die Zeit angebrochen, wo auf den Thronen Herrscher saßen, die die Blütenträume auch ihrer Jugend wollten reifen sehen. Und so wie jetzt bei diesem vielbesprochenen Ende eines Patrioten, gehen ja noch zuweilen durch das Vaterland segnende Geister und schwingen die Fahnen unsers wahren Ruhmes … Zu den Posaunen, über welche die weißen Ehrentücher des Friedens, nicht die blutigen des Streites festlich niederhängen, horchen wir dann noch einmal wieder empor, wie zu den Herolden unserer wahren vergangenen und künftigen Größe. O daß es so oft nur die Todten sind, um die wir uns die Hände reichen! Daß es fast immer nur eine Erinnerung, ein Lied, ein Gedicht ist, um das eine kurze Weile das vielstimmige Durcheinander der Parteien verstummt, eine Weile der große Riß, der durch das deutsche Herz geht, nicht im eigenen empfunden wird! … Man pries des Geschiedenen Muth, seine Charakterstärke und Rechtlichkeit. Sein letzter Uebergang in die Formen der Bureaukratie war ein so natürlicher gewesen. Er war von[217] denen, die die antike Tugend hatten, den Staat bis in die innersten Fingerspitzen zu fühlen. Man verurtheilt so oft schon wieder diese Tugend! Ja wie habt ihr sie gefährlich gemacht! Nach dem, was wir schaudernd alle erlebten, welch ein Verbrechen ist es nicht geworden, auf den Ruf der Lärmtrommel zu hören, die durch die Straßen wirbelt! Wer nur hinaussieht, wer nur je ein Wort in eine freie Luftwelle gab, dem wurde die Zeichnung vor den Mächtigen gewiß! Nun müssen wir uns schon so erziehen, daß wir in einem allgemeinen Brande auf keinen noch so starken Hülferuf mehr hören, sondern kalt nur unsere eigene Habe bergen. »Was geht euch das Andere an!« Wehe, wehe euch, wenn einst die Stunde der großen Gefahr schlägt, die dem Vaterlande immer näher rückt! Dann werden wir in die Straßen und Plätze hinaussprechen sollen und niemand wird es können oder wagen! Dann werden wir gerufen werden von den Signalen, die uns trügerische erscheinen müssen, seit ihr die, welche ihnen schon einmal gefolgt sind, so unerbittlich straftet! Wehe dann euch – und auch uns!

Klingsohr, der Alte von den Externsteinen, hatte diese Selbstbeherrschung nicht und sein lebendiges Ergriffensein von der Zeit rühmte man damals an ihm. Man nahm die Lieder von Arndt und Schenkendorf zu Eingangs- und Schluß-Blumenpforten seiner Nekrologe, die sich bis in die fernsten kleinen Volksblätter verloren. Auch sein Bild verbreitete man. Es war nur ein kleiner, kurzer, dicker, untersetzter Mann, gar kein Gracchus oder Timoleon der Phantasie gewesen. Die Stirn war sogar so groß, wie[218] man sie bei Narren zeichnet, die Augen blinzelnd klein, die Backenknochen vorstehend, wie bei Baschkiren, der ganze Mann einem modernen Bacchus nicht unähnlich, und doch trank der Mann nur das klare Wasser des Buschmühlbaches, so oft er auch den »Vater Rhein« beim jährlichen Erinnerungsfest der Freiwilligen und der Gründung der Städteordnung leben ließ. Er war entzündet vom Feuer nur seiner freien und überzeugungsreinen Seele. Er hatte die Schönheit des Gedankens. Einige Spötter rügten, daß er nicht nur kein Vermögen hinterließ, sondern das, was er besaß, sogar in Zerrüttung. Doch hatte er Gläubiger, die ihm dennoch auch noch den Gutsankauf hatten möglich machen wollen. In einigen Städten sammelten die Liederkränze für sein Grab und zu einem Denkstein.

Um den Anlaß seines Todes loderte erst über jeder Bergspitze und nach allen Richtungen des Vaterlandes hin eine große Flamme des Zornes und gedrohter Rache. Dann aber kamen in den Zeitungen wieder die berühmten Sänger, die Tänzer, Tänzerinnen, Festlichkeiten in Paris und London, man hatte einige Mammuthsknochen ausgegraben, die neuen Eisenbahnen erfüllten alles mit Bewunderung und Speculationseifer; eine Flamme nach der andern erlosch und zuletzt blieb kein anderer Rächer übrig als das langsame und geheime Gerichtsverfahren jenes mehreren Dynastieen angehörenden Städtchens Lüdicke und der über die Buschmühle verhängte Sequester.

Stephan Lengenich, der Küfer und Arbeiter im Düsternbrook, blieb indessen eingezogen. Er galt bereits in wenig Tagen für den muthmaßlichen Mörder.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 1, Leipzig 1858, S. 206-219.
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