15.

[219] Zwei Tage nach dem Begräbniß seines Vaters sah man den Doctor Heinrich Klingsohr mit dem Kronsyndikus nach der Buschmühle fahren und daselbst das versiegelte Inventarium besichtigen.

Zwei stattliche Mecklenburger, die besten des Stalles und herübergekommen erst kürzlich aus den norddeutschen Besitzungen der Wittekinds, waren dem leichten, eleganten Wagen vorgespannt.

Wieder einige Tage, und der Freiherr von Wittekind-Neuhof und Doctor Heinrich Klingsohr reisten gemeinschaftlich nach der großen Stadt, in welcher der Regierungsrath Friedrich von Wittekind eben zum Oberregierungsrath ernannt worden war … Auch ihm waren düstere Gerüchte zu Ohr gekommen über den Tod des Deichgrafen. Um so freudiger überrascht mußte er sein durch den Besuch des mit seinem Vater so traulich verbundenen Sohns desselben.

Man sprach mit Unbefangenheit von dem Vorgefallenen. Als jenes grünen Tuchkragens Erwähnung geschah, der an der Mordstätte wäre gefunden worden,[220] hieß es, daß durch eine Nachlässigkeit unbegreiflicher Art so wichtige Hülfsmittel der Entdeckung plötzlich wären abhanden gekommen.

Alle diese Gespräche fanden in Gegenwart der neuen Frau von Wittekind statt. Es war eine Heirath, die erst jetzt die Billigung des Kronsyndikus erhalten. Eine nicht mehr junge, unvermögende, aber dem Sohne durch Gewohnheit und manche, wie man sagte, schmerzliche Erinnerung werth gewordene Witwe eines geliebten Freundes und Amtscollegen, eines Herrn von Asselyn …

Der Oberregierungsrath fand einen Vorschlag, den sein Vater machte, sehr annehmlich. Doctor Klingsohr sollte die mecklenburgischen und holsteinischen Güter der Familie bereisen und sich in Altona nach der Lage von Processen erkundigen, deren die Familie über diese Besitzthümer mehrere zu führen hatte.

Der Doctor kannte Hamburg und freute sich auf einen ihm bekannten zerstreuenden und anregenden Aufenthalt, dessen Kosten der Kronsyndikus trug.

Den Kammerherrn hatte der Kronsyndikus zum Grafen Zeesen geschickt und zwar schon am Tage nach seiner stürmischen Abreise auf das Vorwerk Eggena. Daß der Unglückliche Widerstand leisten wollte, verschwieg der Vater nicht, ebenso wenig wie den Zwang, den man anwendete, den Widerstand zu brechen. Er hatte ihn kurzweg binden lassen. Der später nachgeschickte Diener des Kammerherrn meldete, Graf Zeesen böte alles auf, seinen Herrn zu zerstreuen und zu fesseln. Er sänge ihm geistliche Lieder und bespräche die Visionen, die der Kammerherr zu haben glaubte. Inzwischen wäre der Kammerherr freilich bettlägerig[221] geworden, aber die Verlobte des Grafen, das Freifräulein von Seefelden, sorgte für seine Verpflegung.

Alle diese Veränderungen gingen auch an Lucinden nicht spurlos vorüber. Sie erschütterten sie nicht minder wie den Doctor und den Kronsyndikus. Der Doctor, der ihr unter allen Umständen jetzt wirklich als des letztern natürlicher Sohn erschien, wiederholte mit scheuem Niederblicks ernst und verstört, wie er jetzt fast immer war, Betheuerung seiner Liebe über Betheuerung; der Kronsyndikus hatte Ursache, die Vertraute eines Geheimnisses, das beide im stillen Verkehr wiederaufnahmen, mit Aufmerksamkeit und Schonung zu behandeln. Sie erhielt Beweise einer Freigebigkeit, die an dem sonst so geizigen Manne auffallend genug war. Da nicht gezweifelt werden konnte, daß sie das Ziel ihrer Herzenswünsche in einer Vereinigung mit Heinrich Klingsohr finden mußte, so wurden die Aenderungen ihrer Lebensstellung dahin getroffen, daß sie ihm nahe bleiben, aber vorläufig doch noch so weit von ihm getrennt sein sollte, um keinen Anstoß zu erregen.

Vor allem fehlte ihr noch manche Vervollständigung ihrer Bildung. Es war hohe Zeit, das Chaos ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse zu lichten. Diese Anordnung wurde mit Fürsorge getroffen. Man hatte eine Familie ausfindig gemacht, bei der sie, nicht sogleich in Hamburg selbst, wol aber dicht in der Nähe auf dem Lande wohnen sollte.

Da Heinrich Klingsohr erst nach Göttingen zurück mußte und bei allen diesen Anordnungen von seiten des wie verwandelten und ganz außerordentlich milde, zahm[222] und nachgiebig gewordenen Kronsyndikus eine Zartheit und Schonung der Sitte und des Anstandes beobachtet wurde, wie wenn es sich wirklich um eine künftige Schwiegertochter desselben handelte, so gab man Lucinden sogar bis nach Hamburg eine Begleiterin mit, die in der vom Oberregierungsrath bewohnten Stadt gewählt wurde und ihr auf halbem Wege entgegenkam, an dem Tage, wo der Kronsyndikus und Klingsohr sie auf ihrer Abreise vom Schlosse begleiteten.

Die Abreise fiel mancherlei Umstände wegen auf einen Tag, wo der Kronsyndikus und Klingsohr in Lüdicke einen Termin abhalten mußten in Angelegenheiten des, wie es schien, sehr gravirten Stephan Lengenich, an dem selbst die Lisabeth irre geworden war, seitdem der Kronsyndikus von seiner Reise zum ältesten Sohn zurückgekommen war und ihr eine funkelnde, schwere goldene Kette mitgebracht hatte, zu der, wie der Alte hinzufügte, »jetzt nur noch die Uhr fehle«. Sie that das Ihrige, sich auch diese zu verdienen …

Diesen Termin in Lüdicke hatte man für kurz gehalten, aber es dauerte fast eine Stunde, daß Lucinde auf dem Marktplatze der kleinen Stadt in ihrem vorn und hinten bepackten Wagen harren mußte. Sie konnte bei dem immer gleichrinnenden Strom eines schön geformten alten Rolandsbrunnen, an dem sie hielt, bei seinem nicht endenden, immer gleichmäßigen Wasserstrahl recht der Zeit gedenken. Was hatte ihr diese nicht alles gebracht! Was hatte sie nicht schon alles ausgelöscht! Auch das Bild eines auf schaumbedecktem Rosse den steinigen Grund hinterm Park vom Düsternbrook Emporstürmenden,[223] auch das Bild von der Waldhütte, den Tannen, dem Monde, der Großmutter, ihrer selbst am Spinnrade, dem durch die kleinen bleigefugten Scheiben hereinlugenden wilden Jäger mit der rothen Feder am Hute, der dann wieder der Franciscanerbruder Herr von Buschbeck aus Java war … Alles hatte sich ihr schon gebleicht. Denn zu oft hatte ja auch der Doctor bestimmt und fest wiederholt und dann der zu Gnaden wieder angenommene buckelige Musikant, vorzugsweise aber der seit einigen Wochen ganz besonders elastische »schöne Enckefuß« bestätigt: der Kronsyndikus war allerdings am Platze der grauenvollen That gewesen und hatte gesehen, wie der Deichgraf dort getödtet lag; das Entsetzen, man könnte ihn, der ihn in Gedanken allerdings auch tausendmal erschlagen hatte, für den Mörder nehmen, hatte ihn von dannen gejagt, und wenn es geschienen, als jagten ihn selbst die Furien, so wäre es die alte Freundschaft für den Deichgrafen gewesen, die in seinem Herzen trotz des spätern Zerwürfnisses doch in der That unerstickt geblieben wäre …

Und wenn Lucinde den Doctor dann selbst fragte: Bist du wirklich der dritte Sohn? so sagte dieser geheimnißvoll: Störe die Ruhe der Todten nicht! …

In seiner Liebe war der Ausdruck stärker und leidenschaftlicher noch als sonst geworden, wenn auch mit einer mehr unheimlichen als beglückenden Wirkung für sie.

Vom Amte kamen damals beide Männer sehr bleich zurück. Sie behaupteten, der Querfragen doch endlich müde geworden zu sein und ließen den Wagen einem Gasthause zurollen, um sich zu erfrischen. Lucinde stieg nicht aus.[224] Sie musterte vom Wagen aus das Wirthshaus, den Garten desselben und eine gewisse kleinstädtische Zierlichkeit in den bemalten Staketen, in einer mit grotesken Wandgemälden geschmückten Kegelbahn, in einem ausgestopften Uhu innerhalb einer von Singvögeln belebten Volière. Bei einer großen schwarzlackirten Kugel, die im Garten als Reverbère für die »schöne Aussicht« gelten sollte, gedachte sie des armen um sie betrogenen philosophischen Drechslers, der den Grafen Zeesen recht eindringlich jetzt an sein Familienstatut, die Stiftung eines Irrenhauses, erinnern mochte! Im Hinblick auf diese beiden Männer athmete sie wahrhaft auf, endlich jetzt in gesundere Lebensluft zu kommen. Ja es that ihr sogar wohl, im Saale des Gasthauses durch die geöffneten Fenster, unter ausgestopften Vögeln, Käfern, gespießten Schmetterlingen, Kupferstichen von englischen Pferden und ähnlichen Herrlichkeiten eleganter Wirthsstuben jener Gegend, da so traulich hinterm Champagnerglase zwei feste, kraftvoll verbundene Männer zu sehen. Sie liebte Trotz und Kühnheit. Auch ihr war Stephan Lengenich längst der Schuldige. Seinen bösen Sinn hatte sie ja selbst gekannt, sein Drohen ja selbst gehört. Sie hatte alles das gerichtlich hier in Lüdicke in einem frühern Termine bezeugt und beschworen.

Trotz des Champagners stiegen ihre beiden Begleiter zu ihr schweigsam und ernst ein. Sie blieben noch einige Stunden an ihrer Seite bis zu einer Station, wo sie Extrapost nahmen und zurückreisten. Von der großen Stadt, wo der jetzige Oberregierungsrath wohnte, sollte ihr auf einige Meilen schon eine Begleiterin entgegenkommen, die sich ihr anschließen würde bis Hamburg,[225] wo sie unter Klingsohr's Augen ihre Ausbildung vollenden sollte.

Der Abschied des Kronsyndikus von Lucinden war inniger fast als der des Doctors. Dieser gab nur die Hand und sprach, wie wenn Abschiede nicht zu seinem System gehörten, vom baldigen Wiedersehen. Jener hatte Thränen im Auge. Der Kronsyndikus weinte! Er war seit Wochen um Jahre älter geworden. Seine Augenbrauen sahen nicht mehr so gelblichweiß aus wie sonst, sie hatten sich ganz gebleicht. Die hohe Gestalt schien, wenn sie sich unbemerkt glaubte, kaum Kraft zu haben, sich so zu halten, wie dem Wappen des gekrönten und aufgebäumten Lindwurms geziemte. An Geld und Gut war Lucinde so ausgestattet, daß sie sorglos in die grüne Weite fahren konnte. Nach acht Tagen schon versprach Klingsohr in Hamburg bei ihr zu sein.

War das alles, wie es so kam, ging und was es bedeutete, räthselhaft genug, so konnte sie durch ihre Begleiterin, die nach einigen Meilen Alleinfahrens ihr entgegenkam, erinnert werden, daß alles im Leben nur Bild und Gleichniß ist. Sie war, wie Klingsohr und der Kronsyndikus ihr schon gesagt hatten, die Braut des »Sehers von Eschede«, jenes Dr. Laurenz Püttmeyer, der auf die Philosophie des Pythagoras zurückgekehrt war und aus mathematischen Figuren das Weltall erklärte. Sie hieß Angelika Müller, war eine hohe, schmächtige, blasse Blondine am Ende der zwanziger Jahre. Bei jeder Anrede erröthete sie. Sie schien ein Gemüth von Weihe und Innigkeit. In Hamburg war sie von einer dort wohnenden katholischen Familie[226] als Erzieherin berufen worden und gestand sogleich mit größter Sicherheit, daß sie den Dr. Laurenz Püttmeyer von Eschede für den einzigen berufenen Denker unserer Zeit halte und daß sie gelobt hätte, nicht früher seine Hand anzunehmen, bis er nicht in Berlin den erledigten Lehrstuhl Hegel's erhalten hätte. Lucinde glaubte sehr an diesen hohen Geist. Auch der Kronsyndikus hatte oft erklärt, daß die Drechselbank für den Kammerherrn eine Quelle lehrreicher Unterhaltung geworden, seitdem er auf ihr die Würfel und Pyramiden Laurenz Püttmeyer's herstellte.

Mit dieser Begegnung auf mancherlei neue Eindrücke angewiesen, fuhr Lucinde in ihrem schwer bepackten Miethwagen die schon wieder staubig gewordene Landstraße hinunter. Die Lerchen wirbelten zwar, aber von Westen kamen düstere, den Athem benehmende Wolken, der jenen Gegenden eigene Haar- oder Höhenrauch. Doch schienen die Menschen der Ebene diese Dünste gewohnt. Sie arbeiteten im Felde. Lucinde glich selbst diesen Fluren, auf denen schon so voll geerntet war und über welche schon wieder die Pflugschar ging, um noch in diesem Jahr der Natur neue Triebkraft abzugewinnen.

Noch völlig war sie sich unklar. Man hätte sie in Hamburg in die Schule schicken können, sie würde gegangen sein und mit der Mappe unterm Arm.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 1, Leipzig 1858, S. 219-227.
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