5.

[48] In jedem Leben ist der Augenblick entscheidend, wo uns die Dinge anfangen objectiv zu werden.

Unsere Kraft fängt von dem Augenblick an, wo wir etwas wissen, was endlich einmal feststeht, endlich einmal fixirt ist wie der Schmetterling unter der Nadel, nicht mehr auffliegen, nicht mehr wieder lebendig werden, uns widerlegen, irren, wieder zu Anfängern machen und in alle Weiten treiben kann.

Die Leute nannten Lucinden allmählich stolz. Ihr Stolz bestand darin, daß sie sich selber emporhob, es versuchte mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reichern Erfahrung gleichzukommen. Sie wußte so vieles mehr und besser als viele andere, und da sie doch an formeller Bildung zurückstand, auch zu träge und zu unstet war, vielerlei noch zu lernen und nachzuholen – ihre Herrschaft würde ihr dazu, wenn sie's begehrt hätte, die Mittel geboten haben –, so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das, was ihr fehlte.

In diesen Erfindungen war sie so glücklich, daß man sie bald das poetische »Hessenmädchen« nannte und sie[49] bewunderte. Sie war naiv mit Bewußtsein. Sie konnte den Blick so senken, wie die Andacht selbst. Sie konnte ihn aber auch wieder aufschlagen, wie jene Medusen, die gerade darum so grausam mit ihren Blicken tödten, weil sie so anziehend sind, so regelrecht in ihrem Antlitz alle Linien der Anmuth haben. Lucindens Kopf wurde immer mehr ein Gemmenkopf, den ebenso der blumendurchflochtene Aehrenkranz der Ceres wie das Schlangengeringel einer Phorkyde schmücken kann. Der Stadtamtmann, der zu den eigenthümlichen Naturen gehörte, die eine wahre Cerberusbissigkeit im Amte mit einer häuslichen träumerisch weichen und fast lyrischen Art verbinden können, erklärte es für einen »radicalen Unsinn«, als auf dem Casino davon die Rede war, sein vielbesprochenes schönes Kindermädchen sollte er die Tracht annehmen lassen, in der Van Embden seine berühmten blumenzupfenden Dorfmädchen gemalt hat. Er hätte sie, wenn's nach ihm gegangen wäre, in eine Pension schicken mögen, soviel Respect hatte er vor ihren Gaben. Nur seine Frau theilte den Enthusiasmus nicht. Sie hörte seit lange nur auf die vielen Klagen, die über Lucinden einliefen. Alle jungen Mädchen der Bekanntschaft oder Verwandtschaft des Stadtamtmanns waren eine Zeit lang von ihr entzückt; kaum aber hatten sie einen Vertrauensbund mit ihr geschlossen, so nannte man sie treulos, verrätherisch und warnte vor ihr die, die sie empfohlen hatten, und die, die sie noch beschützten. Die einen hoben sie zwar dann in den Himmel, die andern verwünschten sie aber schon. Sie war oft in dem Grade der Gegenstand der allgemeinen Discussion, daß sich der[50] Stadtamtmann die Ohren zuhielt, seine Gattin aber, »um dem Dinge ein Ende zu machen«, ihre Entlassung beantragte.

Nichts ist so verderblich für die Jugend, als ungestraft böses Beispiel hingehen sehen.

Lucinde sah die vornehme Dame, die eine Diebin war, sehr oft wieder. Sie sah sie auf der Promenade, im offenen Wagen, sie sah sie, von Cavalieren umgeben, im Theater; ja, eines Tages, eine halbe Meile von der Stadt entfernt, sah sie in einem öffentlichen Lustgarten des Fürsten, nach dem man Partieen zu machen pflegt, die schöne Frau in der Begleitung eben desselben Kaufmanns, der sie hätte vernichten können. Sie bedauerte damals, das seltsame, die dunkeln Alleen suchende Paar nicht genauer beobachten zu können, denn der, der sie selbst begleitete, war gerade ein junger Mann aus dem Geschäftspersonal des Herrn Guthmann und schien gerade seinen Principal hier am meisten vermeiden zu wollen. Kaum hatte der junge Mann die vornehme Dame mit dem in den Formen höchst gewandten Herrn Guthmann durch die grünen Laubgänge des Parkes daherkommen sehen, als er auch Lucinden sofort in eine Nebenallee zog und den Tag über vermied, sich draußen im Freien zu zeigen. Oskar Binder wußte nichts von den Ursachen dieser so auffallend intimen Annäherung, und Lucinde erröthete noch, wenn sie darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zu verrathen, was sie belauscht hatte, und den Preis zu nennen, um den die Baronin ihre äußere Ehre gerettet hatte …

Der schöne Oskar Binder selbst aber gehörte einer[51] achtbaren Familie an und war, wie man behauptete, der zuverlässigste und anstelligste unter sämmtlichen Commis im Bazar Guthmann. Das Vertrauen seines Principals überließ ihm die Verwaltung der Kasse. Durch sein Aeußeres ebenso empfohlen wie durch Namen und Herkunft, kam er in die Kreise des Stadtamtmanns, und viele der jungen Mädchen, Töchter von Räthen und angesehenen Beamten, zeichneten ihn aus. Dennoch warf er sein Auge nur auf die halb schon als Pflegekind im Hause des Stadtamtmanns befindliche »Henriette«. Daß sie eine Schwester hatte, die noch diente, hatte schon aufgehört; Lucinde verschaffte ihrer Schwester eine Stelle in einer großen, von einem Verein unterstützten Nähanstalt; ihre Geschwister im Waisenhause sollten zum Militär gebildet werden. So den Uebrigen fast schon ebenbürtig, ergänzte sie, was ihrer Stellung mangelte, durch die Geltendmachung ihrer Persönlichkeit. Der junge Buchhalter hörte, was allmählich alle jungen Männer von den andern Mädchen über Lucinden hörten, daß sie die Störerin des allgemeinen Friedens, eine gefährliche, zu jedem Mittel greifende Kokette wäre. Da sie aber den Reiz des Eindrucks für sich hatte und überdies im Gegentheil kein Wasser zu trüben schien, zog sie alle an. Sie hatte eine Art, bei gemeinschaftlichen Spaziergängen allein zu bleiben, irgend nach einer Blume zu suchen, einen Kranz zu winden, die jeden, den sie mochte, in ihre Kreise zog. Wenn sie den Schein des Dienens annahm, so half man ihr; wünschte sie selbst etwas, so vollzog man es. Die noch ländliche Betonung ihrer Worte stand ihr besonders naiv; sie war anziehend in[52] ihren Aeußerungen, und wenn sie lachte, so konnte sie, wenn sie gerade nicht zu weit darin ging, alles mit sich fortreißen. Nur zu weit durfte sie nicht gehen. Schüttete sie sich vor Lachen, wie man zu sagen pflegt, so hatte es den Ausdruck böser Schadenfreude, und all die jungen Mädchen schienen dann recht zu haben, die zuweilen wünschten ihr geradezu »die Augen auskratzen« zu können.

Der junge Buchhalter folgte an jenem Tage, der ein auf die Woche fallender Feiertag war und ihm wie dem sonst sehr fleißigen Principal Urlaub gegeben hatte, lieber Lucinden als den übrigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen einer großen Partie, die einige Verwandte des Hauses, in dem sich Lucinde befand, veranstaltet hatten.

Ihre Gegnerinnen behaupteten, daß sie die Kunst, sich in einem Parke plötzlich zu verirren, weidlich verstünde; aber die, die für sie als Naturkind und »Hessenmädchen« schwärmten, nannten sie einen Elfen, ein romantisches Wesen, das die gewöhnlichen Gleise des Alltäglichen nicht zu wandeln brauche.

Heute hatte sie es auf Eichkätzchen abgesehen, deren sie mehrere schon aufgehuscht hatte. Die jungen Männer folgten fast zu stürmisch, fast zu auffallend. Lucinde hatte ebenso das Talent, die Männer für sich allein zu haben, wie das andere, wenn sie wollte, niemand aus der großen Ringkette des gemeinschaftlichen Vergnügens herausfallen zu lassen; sie sagte dann jedem etwas, was ihn zur Anknüpfung eines Gesprächs ermuthigen konnte. Schon war der junge Buchhalter darüber eifersüchtig,[53] und eben, als er seinen Principal entdeckte, hatte er es wirklich durchgesetzt sie zu isoliren. Als er nun doch zu den andern zurückkehren mußte, fragte sie:

Warum fliehen Sie denn nur vor dem Herrn Guthmann?

Der junge Buchhalter blieb die Antwort schuldig, worüber sie theils aus Neugier, theils aus Laune in Verdruß gerieth. Aber rings gab es nun Augen, die wußten, daß Lucinde zu den Naturen gehörte, die ihr Gefühl da, wo sie zanken und Vorwürfe machen, mehr offenbaren als da, wo sie schmeicheln und gut scheinen. Jetzt sah man aus ihrem Schmollen, daß Oskar Binder, der schöne Buchhalter, der Bevorzugte war. Als Lucinde sechzehn Jahre geworden, sprach man von ihrer Verlobung mit ihm.

Der junge Mann schien eine glänzende Situation zu besitzen. Er überhäufte Lucinden mit Geschenken, und dennoch versicherte er seinen nächsten Freunden (auf Dinge, die ihm und ihnen sehr heilig waren, in der Form, z.B. »auf Taille« oder »Ich will hier nicht gesund stehen!«) daß er von Lucinde noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte. Auch der Stadtamtmann erfuhr diese Versicherungen und rüstete sich alles Ernstes auf eine Aussteuer seines geliebten Findlings, auf den er einen Theil der Sympathieen für Glaube, Liebe und Hoffnung übertrug, die er sich in einem Beruf voll Mistrauen und Verfolgung als seine geheimste Lebenspoesie doch zu erhalten suchte. Da aber kam eines Tages seine Gattin und war über die »teuflische« Natur eines Mädchens im Reinen, das die Neigung ihrer Nichte, der Hofraths-Eveline,[54] zu irgendeinem andern jungen Manne, dem Lieutenant Wallbach, durchkreuzen konnte und mit diesem einen ganzen Abend lang in der Schützengesellschaft in einem Winkel gelacht haben sollte. Die Hofräthin kam, der Hofrath kam, Eveline wurde krank, der Lieutenant fühlte sich über die vom Hofrath für ihn zur Verheirathung zu stellende Caution und durch die Erwähnung derselben in einem Wortwechsel beleidigt und nahm seine Werbung zurück; kurz, der Stadtamtmann, Evelinens Onkel, mußte diesem »Familienunglück« eine Satisfaction bieten: sie bestand in der endlichen Verabschiedung Lucindens.

Lucinde, die sich, wie man bitter genug gesagt hatte, »einen andern Dienst suchen« sollte, machte einige Versuche, den Ernst in Humor zu verwandeln. Sie gelangen nicht. Der Stadtamtmann mußte den Schein vermeiden, selbst von ihr bezaubert zu sein. Seine Gattin sagte, »ihr Maß wäre voll«.

So zog Lucinde zu ihrer Schwester, der Nähterin …

In dem Behagen ihrer eigenen Interessen that es ihnen allen nichts, ob da ein Leben in seiner Entwickelung unterbrochen wurde oder nicht.

Acht Tage darauf war aber Lucinde für die ganze Stadt verschwunden.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 1, Leipzig 1858, S. 48-55.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon