15.

[53] Lucinde war es, die sich aus dem qualmenden dunstigen Zimmer so plötzlich entfernt hatte …

Sie floh in den großen, nun schon dunkelnden Speisesaal … gejagt von Empfindungen, die zu, zu krampfhaft an ein Herz sich preßten, von dessen lauten Schlägen sie fürchtete, sie könnten noch in der rings sie umgebenden Stille vernommen werden …

Nicht daß sie so überwältigend die Form des Vortrags, ihr Inhalt und die Andacht dieses vornehmen Auditoriums ergriff. Das sind Narren! sagte sie sich … Nicht daß sie von Wehmuth ergriffen war beim Anhören der Harmonica, die ihr einen doch immer holdverklungenen Jugendmärchentraum zurückrufen mußte. Sie war im Stande, in dem Herangewachsensein der Kinder des Pfarrers, dessen Namen sie einst angenommen hatte, als sie die Bühne betrat, verdrießlich nur den Gradmesser ihres eigenen Aeltergewordenseins zu sehen … Nicht daß sie Jérôme so rührte, der um ihretwillen Erschossene, Jérôme, der sie anbetete wie eine Heilige, Jérôme, der ihr, ihr jenes Heureka! der dankbarsten[54] Erinnerung im einsamen Walde gerufen hatte … Alles das waren Anwandelungen einer ihr fremden Sentimentalität … Sie lebte nur der verzehrenden Sorge um das Allernächste.

Schon mit klopfender Brust war sie auf dem Schlosse Münnichhof erschienen …

Schon mit dem größten Widerwillen war sie in jenes dunkle Zimmer getreten …

So gefaßt und ruhig sie erschien, als Frau von Sicking sie als eine ihr aus der Residenz des Kirchenfürsten Empfohlene einführte und der Herrin des Schlosses vorstellte, sie trat auf einem Boden hier auf, der unter ihr wankte …

Dennoch richtete sie sich hoch und majestätisch auf, als beim Vorstellen ihr Name genannt wurde und die Anwesenden die schlanke Gestalt, die in Trauer gehüllt war, musterten, das bleiche, erröthende Antlitz anziehend fanden, ein goldenes Kreuz, das unter einer Trauerecharpe von Spitzen auf der Brust blinkte, für ein Zeichen von Frömmigkeit nahmen. Jenes Mädchen, das in dieser Gegend vor längern Jahren, auf Schloß Neuhof, eine abenteuerliche Rolle gespielt und das gewiß einige unter den Anwesenden schon einmal gesehen hatten, erkannte niemand … Diese schwarzen Augen schienen die Glut der heiligsten Andacht zu bergen … Dieser etwas trotzige Mund schien nur im Beten geübt … Lucinde sprach wenig und setzte sich zu den in immer größerer Anzahl sich sammelnden Damen wie ein Wesen voll Bescheidenheit, eine Bürgerliche, die den Abstand ihrer Stellung von der der andern erwog,[55] obgleich diese gnädiglichst anzudeuten schienen, daß man auch durch Gesinnung geadelt sein könnte …

Die Namen Neuhof, Asselyn, Benno, de Jonge, Stift Heiligenkreuz, Paula, Armgart, Kloster Himmelpfort gingen an ihr vorüber, ohne daß Jemand ihren Antheil bemerkte …

Selbst wie sie die Lehne ihres Sessels ergriff, als die Stiftsdamen, die von Heiligenkreuz kamen, Fräulein Benigna von Ubbelohde und Gräfin Paula um ihr Fernbleiben von Püttmeyer's »chinesischen Schatten« entschuldigten und von ihrer gestrigen ängstlichen Flammenvision erzählten, bemerkte Niemand das Beben der zusammengepreßten Lippen, Niemand die Verlegenheit des Lächelns; auch nicht da, als Frau von Sicking sagte: Ja, ich hoffe Sie morgen auf Westerhof vorstellen zu können!

In dem luftleeren Zimmer, während der Bewunderung und des Lauschens auf die Orphische Weisheit des Sehers von Eschede, hielt es sie nicht länger … Sie mußte aufstehen, gehen, reden können … Als ihr Beispiel, wie dies der Nervenschwäche der Frauen geschieht, ansteckte, als bald eine zweite, bald eine dritte Dame entfloh, huschte sie noch aus dem dunkeln Speisesaal mit seinen blendend weißen Gedecken, seinen Gläsern, Schüsseln, Tellern, hinaus in das erste beste Zimmer, dessen Thür ihr zunächstlag …

So betrat sie ein bereits zum Kartenspiel hergerichtetes, behagliches, trauliches Cabinet …

Auch hier war es dunkel; aber sie hätte noch die Vorhänge herablassen, hinter sich zuriegeln mögen, so sehr fühlte sie das Bedürfniß, sich in der Einsamkeit zu den[56] Aufgaben zu sammeln, die sie auf diesen für sie so gefahrvollen Boden hergeführt hatten …

Jetzt, wo sie sich erschöpft auf ein Sopha niederwarf, jetzt knickte sie zusammen. Jetzt war sie so, wie sie schon seit einiger Zeit sich zu geben pflegte, ohne es zu wissen … Etwas Spinnenhaftes hatte sie bekommen, Mageres, Lauerndes, von »Schmerz Gekrümmtes«, wie sie's nannte, wenn man deshalb ihr Vorwürfe machte … Ihr hoher Wuchs sowol, wie die religiöse Rolle, die sie mit immer größerer Uebung, Gewöhnung, ja sogar schon Einverständniß spielte, brachten es mit sich, daß sie zu den vielen mittlern und kleinen »erbärmlichen« Wesen dieser Erde den Medusenkopf niederbeugte … Unter den dichten dunkeln Flechten ihres schwarzen Haares, die sie wie ein Turban umgaben, heute das Werk der Kammerjungfer der Frau von Sicking (hier hatte sie nicht Treudchen, die ihr schon zuweilen hochaufstaunend weiße Härchen auszog), spitzte sich ihr Ohr und lauschte so, wie ihr Nück ärgerlich einst gesagt hatte, »jung-hexenhaft, daß man mutatis mutandis« – sie verstand ja diese Bedingung – »an die alte Frau Buschbeck denken könnte, wenn diese mit mir oder mit Hammakern vom Anlegen ihrer Kapitalien sprach!« … Dann freilich konnte sie sich auch wieder aufrichten und sich besinnen auf ihre blühenden zwanziger Jahre …

Lucinde war zu Frau von Sicking empfohlen worden durch Nück und die hochvornehmsten Kreise der Devotion …

Sprach etwas gegen ihre Vergangenheit, so war sie ja eine Convertitin …[57]

Auch Frau von Sicking war in gleicher Lage … Eine Nachkommin des tapfern Ritters, der mit dem Schwert, wie Ulrich von Hutten mit der Feder, gegen Rom sein Leben einsetzte, verließ sie den mit soviel Thränen und blutigen Opfern erkauften Glauben ihrer Väter … Sie gehörte jenem Kreise der Gottseligkeit an, der sich jetzt so weit über Europa verbreitet, einem Kreise, in den einzutreten Lucinde das unwiderstehlichste Verlangen trug, seitdem sie wußte, daß auch Bischöfe und Erzbischöfe auf weichen Teppichen dahinschreiten und mit Behaglichkeit die Freuden der Geselligkeit mit andachtsvollen Seelen genießen können … Frau von Sicking war reich … Sie hatte ein Haus bei Witoborn, eine Besitzung im Süden Deutschlands, Absteigequartiere in allen geistlichen Städten Deutschlands und Belgiens … Ihre Correspondenz erstreckte sich nach Rom wie nach den entferntesten Missionen des Sacré Coeur, nach Pondichéry und Guadeloupe … Ihr Reisen, ihr Kommen und Gehen, ihr Correspondiren konnte man Intrigue nennen … Dennoch lag auf allem, was sich an ihren Namen knüpfte, ein diesen Schein mildernder Duft von Andacht, von Beförderung des Menschenwohls, von Veredlung dieser Zeitlichkeit … Jetzt waren die »Exercitien« ihre Parole … Der Andrang dazu war so groß, daß Frau von Sicking über die Aufnahme wie eine Ordensmeisterin schaltete … Der ostensible Grund, warum Lucinde Schwarz bei ihr erschien, war die flehentlichste Bitte der Frau Commerzienräthin Kattendyk, doch auch sie und ihre Töchter an diesen Exercitien theilnehmen zu lassen … Lucinde war autorisirt, im Namen der Commerzienräthin die größten[58] Opfer, die nur verlangt würden, in Aussicht zu stellen, wenn sie das Glück und die Ehre haben könnte, an dieser vornehmen »Andacht zum Kreuze« theilzunehmen …

Seit gestern war Lucinde noch zu keiner Fassung gekommen über die Rückkehr in diese Gegenden, auf den Schauplatz, wo Bonaventura weilte, ohne Zweifel, wie sie ahnte, im glückseligsten Bunde mit ihrer frühern Pflegbefohlenen Paula …

Noch sah sie mit dumpfer Starrheit durch das Fenster die vom Abendroth beschienenen weißen Höhen, auf denen Schloß Neuhof lag, wo der Kronsyndikus nicht mehr lebte … Diese Kunde erschütterte sie nicht, lockte ihrem Herzen keine Rührung ab … Sie sah einen gewonnenen Vortheil mehr und wahrhaft tröstlich erklang es ihr zu hören, als Frau von Sicking sprach: Die Frau Präsidentin von Wittekind scheint die Rolle in Vergessenheit bringen zu wollen, die ihr Gatte seither als Beistand der Regierung gespielt! Man ist hier entschlossen, nicht sofort auf ihre Wünsche einzugehen! Nur die Rücksicht auf ihren edeln Sohn, den Domherrn, kann die Gesellschaft bestimmen, ihren Empfindungen nicht schon jetzt einen entschiedenern Ausdruck zu geben! … Selbst der blitzende Punkt dort in der Ferne, ein vergoldetes Kreuz auf der Kirche vom Kloster Himmelpfort, wo Klingsohr verweilte, beschäftigte sie nicht … Diese weiße, mit Abendschatten sich füllende Ebene, auf die sie einst so sehnsuchtsvoll von Schloß Neuhof herniedergeblickt hatte wie in ein Land der Freiheit und des ungebundenern Glückes, als das war, das sie dort in einer[59] nur scheinbar glänzenden Abhängigkeit hielt, bot nichts, was ihr Auge gesucht hätte, als das Schloß Westerhof, das indessen hinter den Wäldern nicht zu sehen war …

Bei Bonaventura's Abreise hatte Lucinde den Vorsatz gefaßt, nur der Rache zu leben … Ohne daß sie den Oberprocurator, den allmächtigen Dominicus Nück, einweihte in alles, was dieser von ihrem Herzen theilweise selbst schon wußte, theilweise errieth, war sie mit ihm vertraut geworden, denn seine Huldigung gab sich so maßlos, daß sie den Ausbrüchen derselben schon deshalb entgegenkommen mußte, um sein Benehmen der Gesellschaft nicht zu auffallend erscheinen zu lassen … Er kannte ihre Liebe zu Bonaventura und mußte diese schonen … Sie duldete seine von unreinern Wünschen scheinbar plötzlich frei gewordene Leidenschaft unter der Bedingung, daß Nück sie wie eine anderweitig Vermählte betrachtete … Bonaventura wurde ihr bald wieder der alte Gott und nur noch die Tempel schwur sie zu zertrümmern, in denen andere ihm huldigten. Von jener Urkunde, mit der sie ihn sein ganzes Leben lang, wie sie gedroht, in Schach zu halten vermochte, sprach sie nicht zu Nück … Der Schmerz und die Zeit hatten ihre Rachegefühle gegen Bonaventura gemildert …

Nück wurde für sie ein psychologisches Räthsel … Sein Lebensüberdruß war jene Krankheit, die sich bei allen jenen Menschen findet, die etwas anderes thun, als sie denken … Könige haben wir gesehen, die geistesschwach wurden, weil sie eine Welt von schönen Gedanken, Plänen und Entwürfen in sich trugen und keine[60] Menschen fanden oder – suchten, die sie bei ihrer Ausführung unterstützten. Der Muth, der schon zum Brechen mit den Rücksichten, die uns binden, bei ihnen nicht vorhanden war, fehlte vollends für alles Uebrige, was das Leben begehrt; ein geknickter Genius spielt zuletzt mit Puppen, die er an- und auszieht … Und dann – dann wissen: Das ist unwahr! und es dennoch befördern – darum befördern, weil die Lüge einem andern zu Schaden kommt, den man haßt –! das untergräbt vollends die innerste Seele, wenigstens deren Ruhe …

Nück konnte zu Lucinden auf ihrem kleinen Cabinet oder wenn sie ihn selbst, scheinbar in Aufträgen, in dem Zimmer besuchte, das zum Garten der Seminaristen hinausging – wenn sie vor ihm auf seinem unheimlichen Sopha saß, unter dem verhängnißvollen Ringhaken an der Decke – ganz wie der verzweifelnde Serlo sprechen: Es ist nichts mit unserm Hoffen und Glauben! Erde wird Erde! Wir düngen die Zukunft! Apostel oder Mörder – omnes una manet nox! (alle erwartet eine und dieselbe Nacht!) …

Dennoch ging ein Mann mit solchen Ansichten in die Kirchen und Kapellen, bückte sich im Beichtstuhl und kreuzigte sich in der Messe …

Nück konnte spotten über die Priester, konnte in seiner cynischen Art von reichen, wohlgenährten Pfründnern, die Lucinde in seinem Vorzimmer antraf, sagen: »Sehen sie nicht aus wie die rothen Fettäpfel, die die gebratene Gans ›Kirche‹ in ihrem Steiße trägt!« … Sprang auch Lucinde bei solchen Worten auf, entfernte sich, so nahm sie doch das staunende Gefühl mit: Dennoch[61] kämpfst du wie ein Löwe, offen und heimlich, für die Wiedereinsetzung des Kirchenfürsten? …

Nück konnte so laut lachen über die Verlegenheiten der Regierung, daß es gellend dahinschallte in den Zimmern seiner Schwiegermutter, die er jetzt jeden Abend besuchte … Das wird die Lernäische Schlange! rief er. Einen Kopf hauen sie herunter und zwei wachsen wieder! Ha, ha! Die Zeiten sind vorüber, wo die Schusterjungen, wenn sie in Berlin in einem Winkel am königlichen Opernhaus ihre Bedürfnisse befriedigen wollten, von den Gensdarmen hören konnten: »Wozu ist denn da drüben die katholische Kirche?!« …

Solche Cynismen milderte die Lokalsprache, deren sich Nück bei seinen Bildern bediente …

Die Frauen protestirten durch Aufstehen und heftigste Vorwürfe … Bald aber setzten sie sich wieder und lachten über den Sonderling, der dann in die süßeste Courtoisie verfallen und den Liebenswürdigen spielen konnte … Das graue Ungeheuer! nannte ihn, mit Wohlgefallen, seine eigene Schwägerin Johanna Kattendyk … Guido Goldfinger, ihr Verlobter, applaudirte ihm, wenn Nück in seinen seltnern politisch-conservativen Anwandelungen polterte: »Aufklärung! Aufklärung! Kaum hat der dumme Bauer gehört, daß die Sternschnuppen nicht von Gottes Lichtputze kommen, wenn der Alte, im Flurhypothekenbuch der Menschheit vertieft, sich nur deshalb die Sternenlichter putzt, um ihre Sünden in desto deutlicherm Lichte zu sehen, so denkt er ja gleich: Nun all' gut, nun auch gleich Mistforke und Heugabel in die Hand genommen und auf die Zoll- und Rathhäuser gestürmt,[62] wo die unbezahlten Steuerrester und Schuldverschreibungen liegen!« Bei alledem jubelte er jeder Nachricht von einem Pöbelauflauf, wenn er nur die »Neunmalweisen« in Verlegenheit setzte …

Ein solcher Zustand der Seele wird zuletzt haltungslos, die Widersprüche heben sich auf, nichts bleibt übrig, als was Nück in seinen geheimsten Stunden war, ein Verzweifelnder, tief Lebensüberdrüssiger. Nächtlich konnte er umherrasen, in seinen grauen, alten Mantel gehüllt. Frau Schummel war dann die Vertraute der Phantasieen seiner entfesselten Sinne; Bedürfnisse hatte er, deren Befriedigung an einem Abend ein Vermögen kostete … Plötzlich aber stieß er wieder alles von sich und predigte Buße und konnte an Selbstmord denken … So überraschte ihn einst Hammaker und brachte ihn auf die uns bekannten Verirrungen des scheinbar sich Erhängenwollens … In vertrautester Stille konnte er um diesen Hammaker klagen: »Was war denn nun das für ein Unglück, daß er den bösen Drachen umgebracht hat? Die natürliche Vergeltung ist das ja hier schon auf Erden! Jene hatte andere auf der Seele, diese hatten wieder andere und den Hammaker hätte dann auch schon Einer gerichtet!« …

»Mädchen, kannst du lügen?« »Kannst du falsche Handschriften machen?« »Kannst du Feuer anlegen?«

So hatte Nück zu Lucinden gesprochen an jenem Piter'schen Festabend. Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Jean Picard wußte sie etwas von einer gewissen That, für die dieser durch Hammaker war gedungen[63] worden. Nück war nie wieder auf diese Zumuthungen, ein Verbrechen zu unterstützen, zurückgekommen. Einiges hatte er von Lucindens Besuch im Profeßhause und von ihrer damaligen Todesangst in Erfahrung gebracht – die Erwähnung der »Spinozistin« Veilchen Igelsheimer brachte sie darauf … Aber über alles Andere, was von ihm zum Gewinn des großen Processes der Dorstes verbrecherisch unternommen werden konnte, waren seit Benno's Abreise nach Witoborn die Schleier der Vergessenheit gefallen …

So schien alles still und friedlich … Lucinde wurde die Vertraute des Hauses, die Freundin, die Tochter, wie oft die Commerzienräthin ihr zuflüsterte – vorzugsweise, wenn sie der Mesalliance gedachte, die ihr durch Piter drohte. Denn Piter ließ nicht von Treudchen. Au contraire – seit seinem verunglückten Abend war er entschiedener, denn je, darauf bedacht, sich durch gänzliche Nichtübereinstimmung mit dem, was die gesunde Vernunft von ihm erwartete, allen Menschen so gefährlich wie möglich zu machen … Der uns bekannte Entschluß Ernst Delring's, aus dem Geschäft auszutreten und die Stadt zu verlassen, wurde auch durch ein Ereigniß erleichtert, dessen betrübender Verlauf von Tieferblickenden geahnt werden konnte … Lucinde war nach Witoborn in Trauerkleidern gekommen … Das Hauptmotiv, mit dem sie das Herz der Frau von Sicking im Interesse der Kattendyk'schen Bitte zu rühren hoffen konnte, war Mutterschmerz und Geschwisterliebe … Hendrika Delring war nicht mehr …

Die sanfte, gute, liebevolle Frau, die Treudchen[64] Ley einst so herablassend zu schmücken verstand; die so tief beklommen dem Gebet zugehört, als Treudchen niederkniete zur zurückgesetzten Madonna; die dann gleichfalls die Hände faltete – über der Hoffnung ihres Gatten, dem sie ihr Kind nach dessen ganzer Zukunft schenken wollte; Hendrika Delring, der von Piter tyrannisirte Flüchtling in den Beichtstuhl Bonaventura's, hatte die Schmerzen der Geburt nicht überstanden … Ihr schon den Jahren nach auf solche Proben seiner Kraft nicht mehr angewiesener Körper leistete Widerstand; um die Mutter zu retten, mußte das Kind geopfert werden; bald darauf entwich auch ihr die Kraft, ein letzter Hauch des versagenden Athems und sie ging hinüber in ein Land, wo ihr die Taufe ihres Kindes keine Leiden mehr bereitete …

Das Leben ist so! sprach Lucinde zu dem in Thränen verzweifelnden Treudchen, das sich bis zum letzten Augenblick treu bewährt hatte, sich nicht hatte nehmen lassen, die Todte zu entkleiden, zu waschen, sie für die Bahre zu schmücken … Gerade das, worauf die meisten Vorbereitungen getroffen werden, gerade das, dessen Eintritt ins Dasein uns nicht hoch genug beschäftigen kann und an das wir all unsern Muth, all unsern Verstand, unser ganzes Herz setzen, das tritt nicht ein!

Lucinde sprach dies einem Urtheil in Serlo's Papieren über eine Dichtung nach. »Der Held mußte sterben! Wie kann man denn soviel reden und handeln lassen, um dem Misgeschick vorzubeugen, wenn das Misgeschick[65] nicht wirklich ein Ungethüm ist, das Menschenkraft nicht überwindet? Die Götter strafen jede Einmischung in ihre Rechte. Das ist traurig, aber gar nicht so niederdrückend, wie es scheint. Wenn der Vorhang fällt, wenn die Menschen wieder an ihren abendlichen Kartoffelsalat gehen und sie hochvergnügt scheinen, daß nicht Gott, sondern die Birch-Pfeiffer die Welt regiert und die guten Seelen zuletzt doch ›sich kriegen‹, so glauben sie's im Grunde nicht. ›Romeo und Julia‹ kann kein Schauspiel sein. Der Tod – der ist zuletzt doch etwas Süßes für uns und die einzige Schönheit, die eine That ins Große verklärt. Wäre der Tod nicht, wir unternähmen nichts mehr, was unserm göttlichen Ursprung Ehre macht. Es ist, als forderte uns ein Preis heraus, je höher die damit verbundene Gefahr ist. Was wären wir, wenn das Schöne auf Erden sich halten könnte! Gerade der unterliegende Kampf gegen das Verhängniß zieht uns himmelan!«

Acht Tage nach dem Begräbniß Hendrika's wurde der Edeln ein Opfer gebracht, das reiner gen Himmel stieg, als alle Seelenmessen für sie, die auf Jahre hinaus von der Mutter gestiftet wurden. Treudchen Ley, die noch nicht ihr Trauerjahr um ihre Mutter vorüber hatte, kehrte in die theilweise schon geminderte volle Trauerkleidung zurück. Tief verhärmt war sie schon lange; ihr schönes blondes Haar verrieth nichts mehr von der alten gefallsamen Pflege. Schon lange nagten die bittersten Schmerzen an ihrer Ruhe. Piter hatte einem geheimen Familienconvent nicht beigewohnt. Als er das Resultat desselben erfuhr, das Beziehen des obern[66] Stocks durch Goldfingers – Johanna sollte sich noch vor Beendigung der »Heiligen Botanik« verehelichen – erklärte er das ganze obere Stockwerk für sich allein zu bedürfen, für seinen nächstens zu eröffnenden Hausstand, und niemand anders, als »ein einfaches, bescheidenes Mädchen aus dem Volke«, keine »Staatsdame«, würde er heirathen. Ein Widerstand dagegen war deshalb auch schwierig, weil die ganze Familie Treudchen liebte und sie schon lange wie eine Verwandte behandelte. Da verschwand eines Tages Treudchen. Sie hinterließ die Kunde, daß sie bei den Karmeliterinnen war. Man konnte annehmen, daß sie den Schleier nahm. Cajetan Rother, der Beichtvater der Damen vom Römerweg, kam selbst zur Commerzienräthin und erklärte, schon lange trüge das junge Mädchen die schwärmerischste Liebe zur seligsten Jungfrau im Herzen und würde der Majestät ihres göttlichen Sohnes jedenfalls die Huldigung bringen, eine Braut Christi zu werden …

Mitten in dem furchtbaren Revolutionsausbruch, den diese Nachricht im Kattendyk'schen Hause zur Folge hatte – Piter drohte nicht weniger, als die Kathedrale bis auf den letzten Stein zu schleifen – traten die Veranlassungen ein, die Lucinden bestimmten, sich selbst zur Dolmetscherin der Wünsche zu machen, die die Commerzienräthin in Betreff der vielbesprochenen neuen Unternehmung der Frau von Sicking hegte …

Eines Tages kam sie aufgeregt in das Toilettenzimmer ihrer Gebieterin und erklärte mit angstentstelltem[67] Antlitz, sie wollte selbst nach Witoborn reisen, um jene Bußfrage zu ordnen …

Wally Kattendyk, hocherstaunt, weinte Thränen der Rührung über diesen edeln Entschluß, küßte Lucindens Stirn und Wange und drückte sie an die eben im Schnüren begriffenen Corsetverschanzungen ihres Herzens …

Noch am selben Abend wollte Lucinde abreisen, unmittelbar nach jenem Besuch des Herrn Cajetanus Rother …

Nück war Rothern auf der Treppe begegnet … Er kam mit einer Anzahl in den Bart gemurmelter Vermuthungen über die seltsam geheimen Zusammenhänge der dieser Flucht Treudchen's zum Grunde liegenden Ursachen … Piter war noch auf dem Polizeiamt und requirirte eine Hülfe, die ihm nach der Bulle De salute animarum nicht werden konnte, wenn Gertrud Ley auf ihrem Willen bestand und von ihrem Vormund in Kocher am Fall, einem ehrlichen Handwerker, die Zustimmung zum Eintritt ins Kloster brachte …

Da hörte Nück von der Reise, die die nicht anwesende Lucinde beabsichtigte …

Nach Witoborn? fragte er staunend. Das ist ja seltsam! setzte er hinzu und suchte Lucindens Zimmer … Am Vormittag war sie zweimal bei ihm gewesen, ohne ihn zu finden … Er hatte gerade beim Gericht plaidirt …

Als Nück eintrat, fand er Lucinden vollständig zur Reise gerüstet … Erst wollte sie mit einem Wort aufwallen, dann beherrschte sie sich und sank auf einen der mehreren Koffer nieder, die rings um sie her standen …[68]

Was ist denn, mein Fräulein? fragte er mit hoch aufgerissenen Augenbrauen …

Ich reise – nach Witoborn! … war die leise verhauchende Antwort …

Hör' ich ja mit Befremden, erwiderte Nück … Und mit Extrapost noch dazu? … Im Hof unten steht Mutters Reisewagen … Joseph begleitet Sie doch? … Und nicht einmal das? … Nur die Pferde fehlen noch? … Liebste Freundin, welche Eile –? Alles das – der Exercitien wegen –?

Lucinde saß, die Hände aufgestützt … Ihre Hand hielt die Bänder eines Reisehuts, der beinahe auf der Erde schleifte … Allmählich hob sie von unten her den Blick und durchbohrte mit prüfender Schärfe die völlig ruhigen Züge des Oberprocurators …

Sie waren bei mir, um Abschied zu nehmen –? fragte dieser voll erhöhten Erstaunens …

Zweimal … antwortete sie scharf betonend und doch durch seine Ruhe in ihrer Elasticität schon nachlassend …

Gestehen Sie, wandte sich Nück ihr näher, es ist die Eifersucht, die Sie so mächtig ergreift! … Sie haben von den Erfolgen des Domherrn gehört … Tagelang ist er mit Gräfin Paula … Er magnetisirt sie …

Lucinde hielt die Hände über die Augen, als blendeten sie die Lichter, die auf dem Tische standen …

Haben Sie schon vom Tod des Kronsyndikus gehört? fuhr Nück fort. Ich hörte, daß er sterben wird! Fürchten Sie, von seinem Testament ausgeschlossen zu sein?

Lucinde schwieg …[69]

Der Präsident von Wittekind ist nach Neuhof gereist … Hätten auch Sie noch so viel Theilnahme für den alten Tyrannen, ihn noch einmal sehen zu wollen?

Lucindens Erinnerungen liefen geisterhaft an ihrer Seele hin … Sie sah den Kronsyndikus in Hamburg aus dem Wagen steigen, als er sie, schon damals leichenblaß, bei den Geschwistern Carstens aufsuchte … Sie sah ihn in jener Nacht in Kiel, wo er gespenstisch mit dem Degen in der Hand von seiner zweiten Frau sprach … Dann aber drängte sich in die Theilnahme für ihn sein Schweigen, als sie mit Serlo's Familie umherirrte, darbte und vergebens auf seine Hülfe hoffte … Sie zeigte sich zu seinem möglichen Tode ohne jede Theilnahme …

Nun, in Nück's Benehmen keine Bestätigung ihrer Ahnungen findend, erhob sie sich und ging entschlußlos im kleinen Zimmer auf und nieder …

Wollen Sie Klingsohrn das Mittel mittheilen, das ich Ihnen neulich sagte, um ihn aus dem Kloster zu bringen?

Alle diese Namen berührten Lucinden nur schmerzlich und trugen ihm ein: O schweigen Sie! nach dem andern ein …

Ihr Reisegrund war in der That einer, den sie ihm nicht mitzutheilen wagte …

Am frühen Morgen, als sie in die Messe gehen wollte, hatte sie eine Entdeckung gemacht, die sie mit eisigem Schrecken überlief …

Am Posthof hatte sie vorüber müssen und war eines Briefes wegen in diesen eingetreten …[70]

Da stand ein Eilwagen, der soeben bespannt wurde …

In Begriff einzusteigen sah sie in Pelzen, mit Handtaschen, Fußsäcken, sechs bis acht Passagiere harren …

Eine dieser Gestalten fiel ihr auf und noch mehr fiel sie, wie sie sogleich sah, diesem Reisenden selbst auf …

Kaum hatte sie einen prüfenden Blick auf einen Mann in einem wassergrünen Flausrock, mit einem rothen Comfortable um den Hals, geworfen, als sich derselbe auch sofort abwandte und die Hände schnell aus den Rocktaschen zog, in die er ruhig sie gesteckt hielt …

Sie sagte sich: Das ist ja Bickert! … Darüber konnte kein Zweifel sein … Wuchs, Gesichtszüge waren unverkennbar, nur das Haupthaar ein anderes … Sonst roth, war es jetzt dunkelschwarz und lockig …

Sie mußte stehen bleiben und wandte sich, um den Verbrecher näher in Augenschein zu nehmen …

Jetzt, sah sie, entdeckte er, daß auch sie ihn erkannt hatte, und immer mehr vermied er nun, ihr ins Angesicht zu sehen …

Einen Augenblick that sie, als entfernte sie sich; doch nur um wieder zurückkehren zu können und sich vor die auf den Thüren befestigten Tarife zu stellen und scheinbar diese zu lesen …

Jetzt wurde das Gepäck der Reisenden gebracht … Sie hörte: »Nach Witoborn!« …

Ihre Brust klopfte … Sollte sie den Unglücklichen anreden, der ihr seine Nichtentdeckung, dem aber auch sie kürzlich eine große Hülfe und Rettung ihrer Ehre verdankte, ihn, der sie mit jenen Papieren aus dem Sarg des[71] alten Mevissen, wie sie wenigstens glaubte, zur ewigen Herrin über Bonaventura's Schicksal gemacht hatte? … Sollte sie ihn fragen, ob er es wäre, der nach Witoborn reiste? …

Da fiel ihr seine Mittheilung über Hammaker's Anträge, sein Wort vom »rothen Hahn auf ein Schloß« ein, sein: Sapristi! als sie in dem unterirdischen Gang selbst von Westerhof, selbst von Nück begonnen hatte …

Noch wogte ihre Angst um ein Verbrechen, in das sich nun Nück doch noch einließ, noch wogte die Furcht, hier so länger stehen zu bleiben, als die Namen der Passagiere aufgerufen wurden … Der, der ihr Jean Picard schien, stieg mit der Bezeichnung: »Herr Dionysius Schneid« in den Wagen … Sie hatte sich's wohlgemerkt; der Name wurde zweimal gerufen …

Nun blies der Postillon … Der Verbrecher fuhr von dannen … Unter dem Eingang der Post drückte er sich in eine Ecke, um nicht beim Vorüberfahren ganz aus nächster Nähe beobachtet zu werden …

In erster Aufregung flog Lucinde zu Nück, um aus seinem Benehmen zu erkennen, ob sie sich wirklich ihn, ihn selbst im Zusammenhang mit dieser Reise denken mußte – im Postbureau wurde ihr bestätigt, daß Herr Dionysius Schneid aus Strasburg seinen Platz bis Witoborn genommen hatte –

Dann sagte sie sich: Nein, wie kannst du Nück an Dinge erinnern, die von seiner Seite nur ein einziges mal und auch da nur so flüchtig und scherzhaft hingeworfen wurden? … Sie wußte, um was es sich in jenem[72] zu Nück's tiefstem Verdrusse verlorenen Proceß handelte, jenem Proceß, der Paula's Lebensschicksal entschied. Sie wußte, daß mit dem Fund der Urkunde Paula zwar ihr Erbe erhielt, aber auch das von einer durch die ganze Verwandtschaft festgehaltenen Etikette gestellte Ansinnen, sich mit dem um seine Hoffnungen betrogenen Grafen Hugo zu vermählen … Ihrer Rache konnte an sich nichts Süßeres geboten werden als dieser schadenfrohe Hinblick auf – Bonaventura's Schmerz, und dennoch – zu mächtig wirkte entweder noch die Liebe und Sorge für ihn in ihrem für alles Uebrige abgestorbenen Herzen, um nicht zu erschrecken bei dem Gedanken, daß um den grausamen, sie »mit Füßen tretenden« Mann soviel Wildes sich begeben könnte, oder sie gedachte der Gefahr eines Frevels, der leicht dem Scheitern ausgesetzt sein konnte und sie selbst vielleicht in neue Wirren stürzte … Schon war wiederholt ihr Name bei der Veröffentlichung der Beda Hunnius'schen Briefe genannt worden … Sollte sich der Fluch ihres Daseins immer greller und greller erfüllen? … Sollte sie durch diese wirkliche Ausführung geheimer Thaten auf die Bahn des Verbrechens hinübergeführt, ihrer Bekanntschaft mit Bickert überwiesen, um ihrer Erlebnisse auf dem Profeßhause willen wol gar dem öffentlichen Gerichte preisgegeben werden? … Sie wünschte die Folgen der That mit heißester Begier, zitterte aber vor ihrem Mislingen … Und nun ergriff sie die ihr eigene namenlose Angst, die sie immer hatte vor jeder Katastrophe, ehe sie da war. Flügel hätte sie sich geben mögen, den Verbrecher einzuholen, ihm nicht von der Seite zu weichen, ihn von seinem[73] Vorhaben zurückzuhalten … Noch einmal ging sie zu Nück, fand ihn aber wieder nicht …

Die Ruhe des Nück'schen Hauses, die Ordnung des Geschäfts, der Reichthum, dem sie auf Tritt und Schritt begegnete, sagten ihr wol: Thörin, Thörin, wessen hältst du einen Nück für fähig! Für wahnsinnig würd' er dich halten, sprächst du davon! … Und bin ich's vielleicht nicht selbst? … Seh' ich mich nicht ewig mit Hammaker auf dem Schaffot, seh' ich mich da nicht mit meinen Brüdern, mit Oskar Binder, mit meiner Hauptmännin – alles so, wie ich's so oft träume! … Die Stimmung einer wie von Furien Verfolgten und wie der höchsten Gewissensangst kam über die in sich haltlose und so tief ehrgeizige Seele … Und um nur etwas zu thun, was den Augenblick festhielt, betrieb sie ihre Reise, schützte Gründe der Eile vor, ließ alle Anstalten wie zu einer Flucht treffen … Sie glaubte wenigstens darin das Beste zu thun, daß sie, selbst wenn keine Verständigung mit Nück möglich war, doch in die Nähe des Verbrechers zu kommen suchte, um seinen Arm zu ergreifen und ihm zuzurufen: Die ewigen Mächte ziehen mich durch dich noch nicht rettungslos hinunter!

Das »Hessenmädchen« – die halbe Bäuerin – das war sie geworden! … Geworden durch Schönheit, Ehrgeiz, Geist und – »Unglück!« … Sie sah Nück in ihrem kleinen Zimmer jetzt an wie eine Verzweifelnde … Ihm aber erschien sie bei alledem eine Zauberin; nur die rothen Kleider, die phantastischen Zeichen fehlten um ihre Schultern, der goldene Stab in ihren Händen; er hätte[74] sie zur Priesterin welcher Religion sie wollte gemacht …

Schon sprach er, mit heißen Seufzern sich ihr nähernd:

Sie sind krank! Lucinde!

Sie fuhr zurück, als vergiftete sie sein Athem …

Sich sammelnd bat er sie, sich zu beruhigen und die Pferde abbestellen zu dürfen … Seine Augenbrauen zuckten hin und her … Er öffnete das Fenster, sprach in den Hof hinunter und bestellte die Pferde ab …

Lucinde ließ nun alles geschehen …

Kommen Sie! Was haben Sie? Sprechen Sie aufrichtig mit mir! Ich kann alles hören! begann er …

Diese gleisnerische Ruhe war so entwaffnend, daß sie, als glücklicherweise die Thür aufging und die Commerzienräthin, Johanna, die Hausfreunde herbeigeeilt kamen und staunend von dem veränderten Reiseplan sprachen, einwilligte zu bleiben, zustimmte nach vorn zu gehen und ihre Furcht und ihr Bangen für den Augenblick beschwichtigte …

Nück folgte mit Ingrimm … Er war gestört worden in einer längst ersehnten Stunde … Doch scherzte er alles hinweg und sagte, daß er es so weit zu bringen nie geglaubt hätte, sich wieder an Thee zu gewöhnen …

Einige Tage vergingen Lucinden auf den Anblick der Harmlosigkeit des schreckhaften Mannes in einem Zustand scheinbarer Beruhigung oder der Abspannung … Monika von Hülleshoven machte Condolenzbesuch und nahm Abschied, um ebenfalls auf Witoborn[75] zu reisen … Lucinde hätte sich der Hand dieser kleinen freundlichen und mit Rührung von Hendrika Delring sprechenden Frau anklammern und rufen mögen: Nimm mich mit! … Doch Monika's Blick war ihr kalt und streng und es schien, als wollte auch sie schon nach seither öfter erfolgter Begegnung sagen – wie fast alle Frauen –: Wir gehören nicht zusammen!

Ihre Furcht erwachte aufs neue …

Zu schreiben an Nück wagte sie nicht … Täglich hatte Nück das Princip wiederholt, das sie schon bei der ersten Unterhaltung von ihm gehört: Nicht schreiben! …

Schon nach drei Tagen war ihr Zustand völlig rathlos …

Als sie gerade in den obern, schon von Delring verlassenen Zimmern des zweiten Stockes etwas räumte, kam ihr eines Morgens Nück entgegen. Es war wie zufällig. Hier, in den schallenden Zimmern, ohne Tisch und Stuhl, hier wagte er, nicht achtend der Erinnerung an eine Sterbestätte, auf der sie standen, eine Scene herbeizuführen, wie die erste gewesen an jenem Piter'schen Festabend und wie sie neulich ihm gestört worden war …

Lucinde unterbrach ihn aber und sagte:

Wollen Sie mich wieder auffordern, das auszuführen, wofür Hammaker Bickert gedungen hat, der in diesem Augenblick vielleicht im Begriff ist, Ihren Proceß durch Mordbrennerei zu entscheiden?

Nück sah sie mit seinen weit aufgerissenen weißen Augen an …

Schon ertrug sie diese Augen, die ihr früher so entsetzlich gewesen …[76]

In – diesem – Augenblick –? Was reden Sie da? sprach er …

Lucinde wiederholte ihre Frage …

Hammaker? Wer ist – Sie kennen – was – wer ist – Bickert?

Diese Frage war eine heuchlerische. Die ersten Reden jedoch, die Nück in unterbrochenen Sätzen ausgestoßen hatte, schienen in der That unverstellt gewesen zu sein …

Bickert, sagte Lucinde, jede Fiber in seinen Bewegungen beobachtend, Bickert ist jener Kirchhofräuber des Dorfes Sanct-Wolfgang … Ich entdeckte ihn hier bei jener Gefahr im Profeßhause, von der ich Ihnen noch nicht alles erzählt habe … Aber Sie, Sie hat er mir genannt als den Mann, der ihm die Mittel geben würde, für immer nach Amerika zu entfliehen, wenn er – staunen Sie nur! – zuvor auf einem Schlosse – Feuer angelegt und bei dieser Gelegenheit eine falsche Urkunde –

Himmel! unterbrach sie Nück … Die Wände haben ja Ohren –! Was sprechen Sie da? ..

Sprachen Sie nicht einst selbst so zu mir?

Ich? … Zu Ihnen? … Wann?

Nück stand besinnungslos …

In wessen Auftrag ist Dionysius Schneid nach Witoborn gereist? fuhr Lucinde mit überlegener Ruhe fort …

Dionysius – Schneid –? Wer – ist – das?

Nück zeigte eine unverstellte Befremdung, war aber zugleich in eine Aufregung versetzt, die ihm, dem Kalten, Ruhigen, Allem gleichgültig Zuwartenden den Schweiß auf die Stirne trieb … Kein Stuhl war im[77] Zimmer, auf den er sich hätte niederlassen können … Er taumelte zum Fenster hin, um sich dort zu halten; zufällig ergriff er eine noch zurückgebliebene Vorhangschnur und ließ diese sofort aus den Händen gleiten, stöhnend:

Ich hielt meinen Schutzengel von der Reise zurück! … Ich fange an – zu – ahnen –! Jesus Maria! … Ja, ja! … Sie müssen fort, fort, sogleich! … Wär' es denn möglich! Ich sah nichts, nichts als Ihre Liebe zum Domherrn … Sogar die todten Schatten Serlo und Klingsohr beneid' ich noch –! Fort! fort! In diesem Augenblick!

Jetzt noch mehr erbebte Lucinde vor dieser Angst des sonst so muthigen Mannes …

Wenn ich an jenem Abend, fuhr er mit ungewissem Stammeln und grauenhaftem Auf- und Abgehen seiner Kinnladen fort, über – die Urkunde – scherzte; wenn ich – die Urkunde nannte, die zu Ihrer Freude Paula zur Gräfin von Salem-Camphausen – machen könnte, so geschah's im Taumel der Freude, Sie allein zu sehen, Sie in Ihren Geheimnissen zu überraschen, Sie zu sehen an einem so berauschenden Abend in Ihrem Glanz, in Ihrer Schönheit … Können Sie glauben, daß ich in meinem Haß so, so weit gehen konnte –? Aber ja, Sie haben Recht … Ich Wahnsinniger, ich habe einst zu einem solchen Plane gelacht … Ich habe drei verzweiflungsvolle Monate meines Lebens über dies Lachen hingebracht … Drei Monate, wo Hammaker unter den Verhören der Richter stand … Damals kam kein Schlaf über meine Augen … Ich irrte umher, scherzte und – lachte, aber unterm Damoklesschwert … Hammaker[78] war – muß ich es doch zugestehen! – ein Höllenbrand … Für seine verlorene Ehre, für die Bildung, die er besaß, rächte er sich am Menschengeschlecht … Wie er mich auf dem Gewissen hat, darüber beicht' ich Ihnen, Lucinde, Ihnen – doch nur – wenn wir beide in Rom sind … Lassen Sie mir dies Bild – in der Wüste meines Lebens! … Hammakern ließ ich – schon seit lange – für sich – gewähren und suchte nur von ihm loszukommen … Merkte er diese Absicht, dann konnt' ich sicher sein, einen neuen Anschlag von ihm zu gewärtigen … Er war der dunkle Schatten meines Lebens – Und so unzertrennlich blieb er von mir, daß ich ihn sogar vor Gericht noch vertheidigen mußte! … Die unglückselige Dose! … Daß ich sie auch gerade ziehen mußte und ihm in sie den Griff verweigern! … Eine Hölle grinste mich gleich an aus seinem Racheblick … Ich sehe – sie ist jetzt losgelassen …

Nück mußte sich halten … Er war zu erschüttert – Lucinde dachte an Serlo, der einen Abend hatte zubringen können, zu rathen, wen wol Goethe in seinem »Clavigo« im Sinne gehabt, als er Carlos sagen läßt: »Ich, der ich dabei war, als dem Ersten der Menschen die Angsttropfen auf der Stirn standen« –? Lucinde hätte unter den vielen Beispielen verzweifelnd Ueberführter oder unerwartet vom Schicksal Geäffter, die Serlo aus seinem Leben nennen konnte, jetzt den Oberprocurator Nück anführen können …

Eines Tages, fuhr Nück in stammelnder Rede und so, als würde schon durch seine Erzählung der Moment des Handelns versäumt, fort – eines Tages, als ich über[79] die fehlende Urkunde in dem großen Processe klagte, sagte Hammaker, der ein Jurist war, seltene Kenntnisse besaß: Nück! Spielen wir doch – ein bischen Pseudo-Isidor! Sie verstehen das nicht …

Doch! sagte Lucinde. Der heilige Isidorus von Sevilla hat die Regeln aufgeschrieben, nach denen sich allmählich euer kirchliches Recht bildete! Ein Geistlicher in Mainz, Benedictus Levita, gab hierauf diese noch einmal heraus, gefälscht aber durch Zusätze, die der Macht der Bischöfe über den Klerus günstig waren. Um nun wieder die Bischöfe sicher zu stellen vor den Folgen jener Verfälschung, ließen diese durch neue Fälschungen dem ersten Bischof in Rom die höchsten Ehren. Ohne diese Lügengewebe des falschen Isidorus von Sevilla gäb' es keinen Papst in Rom, keine dreifache Krone, die die Welt beherrscht, auch keinen Orden vom goldenen Sporen – –

Nück reichte gezwungen lächelnd mit der zitternden Hand zu Lucindens Stirn hinauf, als wollte er sagen: Werth bist du selbst eine Krone zu tragen! … Mit einem Gemisch von Huldigung, von gemachter Frömmigkeit und Ironie warf er die Worte hin: Bei alledem sind Sie eine große Ketzerin! … Dann fuhr er fort: Ja! Hammaker sprach von diesem Pseudo-Isidor, der allerdings Rom groß gemacht hat und Rom gedeihe doch! Gedeihe durch eine Lüge! sagte der Schurke. Ich lächelte – lächelte ohne Arg … Ich beschwöre Ihnen dies! Ich beschwör' es – bei – Ihrer – Liebe zum Domherrn – denn an etwas anderes in der Welt glauben Sie doch nicht! Hammaker veranstaltete alles, was ich – zwar nur so obenhin, aber doch schon von[80] Entsetzen ergriffen – plötzlich zu ahnen begann … Immer hatte er etwas, was bald zu meinem Glück, bald zu meinem Verderben ausschlagen konnte … Alle Kenntnisse besaß er, die dazu gehörten, eine falsche Urkunde im Geschmack alter Zeit aufzusetzen, sie aufs zierlichste zu copiren, sie mit chemischen Mitteln wie wurmstichig zu machen, sie mit Kaffeesatz zu bräunen … Nur durch einen Act der List oder Gewalt konnte diese Urkunde in die Archive kommen … Ich ahnte ein Vorhaben dieser Art, das mich ewig zu seinem Sklaven machen mußte … Das wollte er denn auch … Indessen – ich beruhigte mich – ich sah ja sein nahes Ende … Im Gefängniß wär' ich gern einmal auf meine Furcht zurückgekommen, nur hatt' ich immer Feuer an den Sohlen, so oft ich mit ihm reden mußte … Noch jetzt – sehen Sie – Nur an ihn zu denken und nicht schon handeln ist gefährlich – Sie müssen reisen, Lucinde … heute, heute noch! …

Lucinde stand mit klopfendem Herzen, ein Bild zwar des Schreckens, aber doch schon gefaßter, da sie die Mitfurcht eines so mächtigen Dritten hatte …

Vielleicht irr' ich mich in den Voraussetzungen über die Verkleidung jenes Picard … sagte sie …

Nein, nein! Hammaker hat mir diesen Dank fürs Leben hinterlassen wollen! Nun weiß ich es für gewiß! Folge mir auch du! riefen die Teufel in seiner Brust, als er aufs Schaffot mußte … In meinen Gefängnißgesprächen mit ihm deutete ich auf jene frühern Aeußerungen über den falschen Isidorus hin … Da fuhr er auf und sagte höhnisch, daß ich ihm denn doch[81] auch zu viel Devotion für meine Interessen zutraute … Für – meine Interessen? fragte ich forschend, mußte aber schweigen und sehen Sie da, wie ich mit ihm stand – jedesmal daß ich bei ihm war, hatte ich Gift bei mir und wollte es ihm anbieten … Einmal machte ich davon eine Andeutung … Da sprang er auf mich zu und erschlug mich fast mit der Handschelle … Ich entfloh, die Wache kam herein … Ich hörte die nichtswürdigsten Worte hinter mir hergerufen … Er glaubte nicht an seine Hinrichtung – er wollte die Buschbeck nur im Ringen, nur im Vertheidigungsstand gegen eine Wüthende erwürgt haben … Voll Rache, auch gegen mich und meine scheiternde Vertheidigung, bestieg er das Schaffot. Seitdem athmete ich auf und ahnte nicht, daß er mich nach sich zieht … Neulich merkt' ich etwas davon zum ersten male … Ein Mensch kommt zu mir und stellt sich mir vor als ein von Hammaker Gedungener –

Den – Den mein' ich! … bestätigte Lucinde …

Als ein Mensch, der von mir tausend Thaler bekommen würde, wenn er auf Schloß Westerhof bei Witoborn im dortigen Archiv Feuer anlegte … Bei dem dann entstehenden Tumult sollte er eine Urkunde, die er wohlverwahrt bei sich zu Hause hätte, in das Archiv bringen … Ich stand erstarrt … Mich endlich ermannend fuhr ich dem wüsten Menschen an die Gurgel und wollte die Wache rufen … Darüber wieder entsank mir der Muth … Ein Verdacht, ein Flecken würde immer geblieben sein … So redete ich dem stumpfsinnigen, der deutschen Sprache kaum mächtigen[82] Menschen zu, bat ihn vernünftig zu sein, solche Nichtswürdigkeiten nicht zum zweiten male gegen mich auszusprechen und gab ihm hundert Thaler zur sofortigen Abreise … Wie bereu' ich die geringe Summe, die ich gegeben! Auch die Drohungen, die ich ihm nachrief! Ich fahre sofort auf das Polizeiamt! sprach ich ihm die Thür weisend; ich werde Sie anzeigen und beobachten lassen! … Da erst besann ich mich: Hammaker wird ihm gesagt haben: Gelingt es oder nicht, so sind tausend Thaler mehr oder weniger für Nück's Furcht eine Bagatelle! Ewig kannst du auf die Art von ihm ziehen! Jedenfalls mehr, als wenn du in Westerhof uns, heute oder morgen, beide angäbest und zum Dank – dann doch auch mit ans Eisen müßtest! … Ich höre alles das! … Lucinde, wir erleben eine große Demüthigung …

Nück brach fast zusammen. Er kam zu keiner Besinnung mehr, steckte mit seiner Furcht aufs neue Lucinden an, die an manche Beruhigung sich halten wollte, drängte in sie, abzureisen, Bickert aufzusuchen und durch ihre Beredsamkeit, natürlich auch durch so viel Geld, als sie nur mitnehmen wollte, den Verbrecher von seiner That zurückzuhalten …

So reiste sie noch am selben Abend ab und kam nach Witoborn in der leidenschaftlichsten Erregung …

Nur zu bald erfuhr sie hier, wo sich ein gewisser Dionysius Schneid befand … Schon auf Westerhof! … Schon am Ziel seiner gewinnsüchtigen und frevlerischen Absichten! … Wie aber näherst du dich ihm? Wie rettest du dich vor Schimpf und Schande[83]  … Im Geist sah sie sich durch alle diese Vorgänge auf der Bank vor den Assisen …

Willenlos hatte sie sich heute schmücken lassen … Willenlos war sie nach Münnichhof gefahren …

Paula hatte schon eine Vision von einer Feuersbrunst gehabt! … Das hörte sie dann … Sie sah in Püttmeyer's Bildern immer nur Brand und Brand … Sie mußte sich selbst wie schon aus den Flammen losreißen …

Brütend, wie sie an Dionysius Schneid kommen sollte, saß sie in dem dunkeln Zimmer, zum Tod vernichtet …

Entsetzt fuhr sie zusammen, als ein Bedienter den Kopf durch die Thür steckte und sie nach ihrem Namen fragte … Vor ihren Blicken standen gleich Häscher und Richter …

Der Bediente sagte, ein Mönch, ein Laienbruder hätte bei einigen Dienern, die von Witoborn mit gekommen wären, nach dem Fräulein gefragt und zu seinem Erstaunen gehört, daß sie selbst hier anwesend wäre … Ob er sie sprechen dürfte? …

Wer? fragte sie halb ablehnend, halb nicht begreifend …

Ein Bruder Hubertus! Ein frommer guter Alter … Aus dem Kloster Himmelpfort drüben …

Hubertus? …

Den Namen kannte sie ja …

Aus Serlo's Erinnerungen sah sie den Pater Fulgentius vor sich, den Hubertus einst gerichtet hatte …

Sie wußte auch, Hubertus war der ehemalige Verlobte[84] ihrer Hauptmännin … Der »Bruder Abtödter« war's, der Klingsohr zum Pater Sebastus gemacht hatte …

Naht sich schon wieder die Kette, die dich ewig an das Vergangene schmiedet? rief es verzweifelnd in ihrem Innern …

Sie wollte den Mönch abweisen …

Doch, noch ehe sie erwidert hatte, öffnete sich die Thür und ein dunkler Schatten huschte herein.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 53-85.
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