16.

[85] Vor der Unschönheit des Anblicks, der sich ihren Augen darbot, ergriff Lucinden ein Schauder …

Das waren keine Züge, die dem Leben angehörten … Jene Chinesenköpfe, die sie einst im verschlossenen Zimmer der Buschbeck gesehen, traten ihr entgegen … So lächeln Mumien …

Was wünschen Sie? fragte sie indessen mit sich sammelnder, ablehnender und hoffärtiger Kälte …

Sie erwartete eine Botschaft von Klingsohr und konnte sich darum noch weniger zur Freundlichkeit stimmen …

Mein geehrtes Fräulein – begann Hubertus mit seinem im wunderlichen Tonfall gesprochenen fremdartigen Dialekt und unterbrach sich dann schon selbst, um sich erst zu versichern, ob seine Rede unbelauscht blieb …

Lucindens Schrecken mehrte sich …

Was wollen Sie? sprang sie voll Furcht und Unwillen auf …

Dunkler und dunkler war es geworden … In[86] einem Kamin, sah Lucinde erst jetzt, leuchteten noch halbglimmende Kohlen …

Mein Fräulein, begann der Mönch aufs neue und mit Milderung seiner auffallenden Hast, Sie wohnen ja wol bei Frau von Sicking –?

Ja! Warum? …

Sie heißen Lucinde –

Schwarz – was fragen Sie danach?

Ich möchte wissen, ob Ihnen der Name – eines gewissen – Jean Picard bekannt ist? …

Lucinde mußte sich am Rand des Kamins halten … Da war das tödliche Wort gefallen … Das Geheimniß ihres Innersten ausgesprochen … Die Welt wußte schon alles! …

Der Alte sah die Vermuthung des Briefes bestätigt …

Allmählich zog er aus der innern Tasche seiner Kutte das Papier … Vor Aufregung lächelte er selbst … Konnte eine so schöne, junge Dame mit Verbrechern bekannt sein? … Bei seinem Lächeln gingen ihm die Winkel seines Mundes fast bis zum Ohr … Es war nicht zu unterscheiden, ob der schreckliche Mönch ihr Vorwurf oder Theilnahme bezeigte …

Lucinde stöhnte mit schwerem Athem:

Jean Picard? … Den Namen hab' ich – einmal nennen hören … Ja! … Was soll es mit ihm? … Er hat auf einem Kirchhof einen Sarg erbrochen …

Der … Der! Ganz recht! … ergänzte der Mönch, entfaltete den Brief und prüfte Lucindens Benehmen, das sich vergebens zu fassen suchte …[87]

Wissen Sie, wo er ist? Sie würden den Behörden – mit der Angabe – einen Gefallen thun! sagte sie kleinlaut …

Hubertus legte die Hand an den Knochen, der sein Kinn war, und betrachtete von unten her, forschend und mistrauisch, die kalte Ruhe, die sich ihm gegenüber so als völlig sorglos zu geben suchte … Ob diese Ruhe gemacht war, unterschied er nicht … Der gute Bruder hatte ein edles Herz, hatte viel erlebt, doch seine Geistesgaben waren nicht die hervorragendsten …

Fräulein, sprach er, als Lucinde so erwartungsvoll fragend stand … Hier ist ein Brief an die Behörden in Witoborn … Der Regierungsrath von Enckefuß wünscht, daß Sie – ja Sie, Fräulein – von seinem Vater, dem Landrath, um Ihre Bekanntschaft mit diesem Jean Picard befragt werden …

Lucinde hatte von Serlo einen Grundsatz angenommen. Dieser hieß: Droht dir eine Gefahr, und du weißt es und sie naht endlich, dann denke dir nur immer gleich die ganze Fülle des Elends! Laß nichts von beschönigenden Mittelstufen, von möglichen bessern Erwartungen aus! Sage gleich: Alles ist verloren! Und bricht dann doch nicht alles so herein, wie du fürchtetest, so hast du ja gleich eine kleine Abschlagzahlung wieder auf das Glück! …

So sah sie sich jetzt, wo schon die Sicherheitsbehörden ihr Geheimniß wußten, geradezu bereits in Ketten und Banden … Sie sagte sich: So wandelst du hin! So wird dein Loos sich erfüllen! Das wird aus einem Weibe, wenn – »es die Liebe nicht findet« …! So[88] war dir's, als du auf der Bühne scheitertest! … So war dir's, als dir in der Dechanei gekündigt wurde! … Nun sieh nur zu, was kommt! …

Der Mönch betrachtete das ihm durch Klingsohr so wohlbekannte Mädchen voll Staunen und Mitleid … Kreidebleich, wie der Rand des Kamins, stand sie und bemerkte nicht, daß ihr der Alte mit seiner knöchernen Hand den Brief selbst zu lesen gab … Die Augen gingen ihr tief innenwärts …

Lesen Sie's nur selbst, sagte der Greis und sprach dies schon wie strafend …

Zu dunkel ist's! antwortete sie, wollte lesen und konnte nicht …

Sie wandte sich, weil ihre Hände zitterten und hauchte:

Sagen Sie doch selbst, was darinnen steht!

Hubertus theilte ihr den Inhalt des Briefs im kurzen Zusammenfassen mit …

Lucinde hörte ihr Todesurtheil … Sie sah Flammen um sich her und konnte nicht entfliehen … Sie hörte Sturm läuten von den Thürmen und rannte sinnlos mit den andern … Grützmacher, der Wachtmeister aus Kocher am Fall, stand vor ihr mit seinem Signalementbuch und sprach sein: Na Paschol, Mamsell! … Eine Emissärin hieß sie den Behörden schon lange …

So stand sie wie eine Statue …

Bei alledem sagte sie:

Dummheit! Ich sehe da die ganze – blonde – blauäugige – Weisheit des – Herrn von Enckefuß! … Wie kommen denn Sie – Sie, ein Klosterbruder,[89] dazu, von diesen Menschen – in – Criminalsachen gebraucht zu werden?

Der Landrath kennt diesen Brief noch nicht! sagte Hubertus. Auch soll er seinen Inhalt nicht erfahren – Darauf geb' ich Ihnen mein Wort – falls Sie mir sagen, Fräulein, wo ich – Jean Picard finde!

Lucinde wandte staunend ihr Antlitz …

Und was geschah? Da lag das Papier schon auf dem halb im Verkohlen begriffenen Feuer des Kamins …

Der Mönch hatte es eben hingeworfen und das plötzliche Wehen des Kleides, das entstanden war, als Lucinde hoffnungsbelebt einen Schritt zurückfuhr, brachte den Zugwind, an dem sich das Papier entzündete und langsam zu verbrennen anfing …

Ich begreife Sie nicht –! flüsterte sie und fühlte bereits jene Serlo'sche »Abschlagzahlung wieder auf das Glück« – ihre Augen blitzten wie ein Sonnenstrahl aus Wolken …

Mein Fräulein, begann der Mönch, mag dem sein wie ihm wolle, und was Sie auch mit solchem Volk zusammenbringt, ich gebe Ihnen den Schwur beim Patron meines Ordens, daß ich diesen Teufel kneble, binde, geradezu aufhänge, wenn ich ihn finde, um ihn von seinem Lasterleben zurückzuhalten … Sagen Sie mir nur, wo ich ihn entdecke – diesen Jean Picard! …

Waren denn das Worte der Verstellung? … War denn dieser muthige, entschlossene Ton die Sprache eines Feindes oder Bundesgenossen?

Der Greis richtete jene Miene auf sie, die, das erkannte sie jetzt, Lächeln sein sollte … Sie vertraute[90] dem innigen Ton der heftigen Rede des Alten und fragte mit Wonneschauern glücklicher Hoffnungen:

Was haben denn aber Sie für ein Interesse an solchen Verbrechern, die, wie Herr von Enckefuß glaubt, meine Freunde sein können?

Bei Sanct-Franciscus! rief Hubertus … Das ist, denk' ich, keine Kleinigkeit, wenn man in Liebe an Jemand jahrelang denkt, ihn wiedersehen will und wiedersehen muß und gerade im selben Augenblick von ihm erfährt, ein Dieb, ein Räuber ist's geworden, wie – die andern waren … Sehen Sie diesen Picard milder an, so weiß ich nicht, warum, Fräulein. Ich habe in jungen Jahren ein paar gute Körner in den Schurken gelegt … sind die so schlecht aufgegangen? So ganz der Apfel beim Stamm geblieben? Zwischen zwei Bäumen mach' ich im Wald eine Hängematte aus ihm und laß' ihn nicht eher zur Erde, als bis er vor Gott mir ein besserer Zeuge wird! Das schwör' ich Ihnen!

Wie kühlender Regen nach wochenlanger trockener Hitze überrieselten diese Worte Lucindens Furcht und Bangen … Sie sah eine Möglichkeit, den Verbrecher von seinem boshaften Plane, Nück zu Geldzahlungen zu zwingen, zurückzubringen … Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Bickert entsann sie sich seiner Scheu vor einem Madonnenbilde, entsann sich seines Ganges in den Beichtstuhl Bonaventura's … Vielleicht war er nicht nur einer Drohung, sondern selbst einer Mahnung zum Besseren zugänglich … Es lebte in ihm jene Ideenverwirrung, die die moralische Milde des Katholicismus in den Köpfen der Masse anrichtet … Sie sündigt[91] und beichtet und beichtet und sündigt … Der Bravo läßt den Dolch weihen, der gedungen ist, einen andern zu morden … Die gemachte Beute wird mit der Gottesmutter und mit den Heiligen getheilt …

Um ihre Freude nicht zu verrathen, schwieg sie und redete auch da noch nicht, als Hubertus mit immer dringlicherer Eile fortfuhr:

Sie kennen ihn! Sagen Sie mir aufrichtig, ohne Furcht: Wo ist er? Verlieren wir keinen Augenblick! Ich will ein Wort mit ihm reden wie Jüngstes Gericht!

In Lucindens Innern zog es wie eine himmlische Musik auf … Hubertus erschien ihr schön … Sie hätte ihn küssen mögen … Aber auch schon lachen vor innerstem Krampf und namenloser Freude …

Sagen Sie mir es nicht? Mir? Mir nicht? Was sollte auf Westerhof geschehen? …

Lucinde zuckte zusammen …

Reden Sie? Ich bitte!

Ich will Ihnen vertrauen! sprach sie. Auch ich – möchte – den – verirrten – Menschen schonen! Eine elende Vorspiegelung hat ihn bestimmt, hieher zu reisen und ein Verbrechen auszuführen, das ich – Ihnen nicht anzugeben weiß, das aber gute – unschuldige Menschen – ja mich selbst in peinliche Lagen bringen kann! – Versichern Sie sich seiner Person! Haben Sie Einfluß auf ihn, so können Sie mir und manchem, der Ihnen dafür ewig danken wird, keinen größern Dienst erweisen, als wenn Sie ihn, wie Sie nur irgend können, unschädlich machen! Ich wünschte, Sie wären nicht so geldscheu, wie dies Klosterbrüder zu sein pflegen![92] Geld scheint das einzige Mittel zu sein, diese wüste Seele zum Bösen oder vielleicht ebendeshalb auch noch zum Guten zu lenken – und wenn ich Ihnen aus meinen Mitteln –

Das lassen Sie nur! unterbrach Hubertus. Sehen Sie, wie sich alles treffen mußte – Dem Schurken hielt ich zehntausend Thaler in Bereitschaft –! Sie staunen? … Noch mehr! Das ist Geld, an dem Ihre eigenen Thränen haften, Fräulein! Ja Ihre! Ihre! … Geld, das Sie, Sie mit erwerben halfen durch Hunger und Entbehrung! Jene Erbschaft der ermordeten Frau, die auch Sie auf dem Gewissen hat – fiel ja mir zu …

Lucinde war es nicht gewohnt, etwas von ihren Thränen zu hören … Und wie sich der ewig Unglückliche des Glücks entwöhnen kann und dessen Annäherung gar nicht mehr mit voller Beseligung fühlt, so entwöhnt sich auch das Herz, das man ewig kalt und empfindungslos nennt, der Anerkennung seiner bessern Gefühle … Sie war mehr erstaunt als gerührt über diese Worte … Sie erschrak sogar über sie; sie erinnerten an Klingsohr …

Woher wissen Sie das? fragte sie …

Durch Pater Sebastus! bestätigte Hubertus und musterte Lucinden mit dem ganzen Rückblick auf alles, was er über sie wußte und nach dem Eindruck, den sie ihm machte, jetzt wohl für glaublich halten konnte … O wüßt' er, fuhr er mit freundlichem Nicken fort, daß Sie in seiner Nähe sind! Darf ich's nicht dem Armen sagen?[93]

Wem? fragte sie ausweichend und befremdet …

Heinrich Klingsohr! …

Wir sprechen von den Gefallenen, nicht von den Erhöhten! sagte Lucinde mit einer der ihr geläufig gewordenen devoten Wendungen … Sie finden den, den Sie suchen, auf dem Schlosse Westerhof! Unter dem Namen »Schneid« hat er dort eine Stelle gefunden … Sein Aeußeres – Seit wie lange schon sahen Sie ihn nicht?

Ich habe das Merkzeichen meiner Kinder … Und schon in Westerhof! … Was wollt' er dort? …

Warnen Sie ihn!

Warnen? … Damit halte ich mich nicht auf! … Ich trag' ihn auf einen Thurm und werf' ihn hundert Fuß tief, wenn er nicht Ordre hört! Ist aber an ihm noch zu flicken, so schaff' ich ihn nach Bremen und von da aufs Schiff und mag er dann nach Amerika gehen …

Lucinde sagte sich selbst: Werde nur nicht übermüthig, seit du siehst, daß dich der Himmel noch liebt!

Hubertus begann eine Frage, die er nun auch noch nach Terschka richten wollte, unterbrach sich aber, weil in der Ferne die Jagdhörner ertönten …

Also Westerhof! wiederholte er … Schneid! … Und – Sie – Sie Wilde, Wilde! Warum soll ich nicht den Pater Sebastus grüßen?

Einem Kloster ziemt kein Frauengruß! sprach sie mit Lächeln …

Der Arme sitzt in Haft … Wie hätt' ich ihm gegönnt, nach Lüttich zu entfliehen …

So vertraut war Hubertus mit Klingsohr …[94]

In Haft? fragte sie …

Wenn ihn nicht heute der Domherr von Asselyn frei bekommt … Ja! … Der wollte ein Wort für ihn beim Provinzial einlegen …

Lucinde sah im Geist zwei, drei Räder gehen und sich selbst in ihrer Mitte … Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles rollte rundum – und nichts war fest …

Noch einmal rief sie dem schon Abschiednehmenden und immer vor sich hin: »Schneid!« »Schneid!« Murmelnden und richtete lächelnd die Frage an ihn:

Wissen Sie nicht irgendeinen hohlen Baum? Eine vom Blitz erschlagene Eiche?

Im Düsternbrook! Gewiß!

In diesen Baum soll Klingsohr entfliehen! …

In – einen – Baum? …

Ich denke … Wo möchte der Pater am liebsten sein?

Wo Sie sind oder – in Rom!

Nun gut! … Der Weg nach Rom führt durch jenen hohlen Baum – Aber die Jäger kommen … Ein andermal! …

Was Jäger! Auch ich war einer – hier und in den Wildnissen Javas! Was Entbehrung und Anstrengung heißt, das kenn' ich … Ich bin von Schlangen gebissen worden und Malayen sogen mir das Gift aus den Wunden … Selbst lernt' ich Gift aus einem frisch gebrochenen Schlangenzahn saugen und keine Schlange mehr hatte seitdem Gewalt über mich … Doch ja! Eine – Eine freilich! … Aber was soll's mit dem Baum? Ich verstehe – nur – erst – halb und halb …

Lucinde wiederholte Nück's Rath …[95]

Die Regel Ihres Ordens, sprach sie schnell und wie zwischen Thür und Angel, gestattet Ihnen Veränderungen Ihrer Lage, aber nur müssen Sie – vom Strengen zum Strengern übergehen! Flieht der Pater in einen Baumstamm, lebt dort als Einsiedler, erträgt die Härte des Winters, bleibt in Sturm und Regen, hütet sein Crucifix und kümmert sich nicht, wer oder was ihn ernährt, so hat kein Kloster Gewalt über ihn; das Bedürfniß größerer Gottseligkeit ist heilig. Kommt dann aber – der Frühling – kommen die Schwalben –

Ha! So entfliehen wir nach Rom!

Nach Rom? Auch Sie?

Auch ich!

Nun gut! Aber – ohne Sandalen! Ohne Kapuze! Statt des Stricks – mit dem Stachelgürtel! … Nach der Regel des heiligen Petrus von Alcantara, die Sie vorgeben müssen, in Rom annehmen zu wollen … Seinen getreuen Alcantarinern wird Sanct-Franciscus Verzeihung gewähren … Die Prüfung ist groß … Aber wo seh' ich Sie wieder? … Man kommt! … Morgen in der Frühe im Münster von Witoborn …

Damit drängte sie den staunenden Bruder aus dem Zimmer, zog die Thür sofort wieder an sich und eilte die Reste des Briefs zu zerstören, ihr Haar, ihre Kleider zu ordnen und sich zur Rückkehr in die Gesellschaft zu sammeln …

Ihre Brust athmete auf …

Kann denn für dich, riefen tausend frohlockende Stimmen, noch ein Wunder geschehen? Selbst das Gefühl der Versöhnung mischte sich in ihren Jubel. Wurde das[96] Verbrechen unterdrückt, so zog keine unerbittliche Hand mehr Paula von Bonaventura's Seite … Auch das glaubte sie jetzt wünschen zu können. Mit erleichtertem Herzen, hoffnungsvoll kehrte sie in den jetzt schon von Kerzenlicht widerstrahlenden Saal zurück …

Das ganze Schloß war inzwischen in Bewegung gekommen …

Hörnerschall, Peitschenknallen, Hundegebell hörte man schon in nächster Nähe … Die Jagd kehrte heim … Jubelndes Halali wurde geblasen schon bis in den Schloßhof herein …

Die Frauen standen im Saale und zum Empfang der Männer geschart … Von Püttmeyer's Künsten waren sie noch alle wie Traumbefangene; der Glanz der Lichter, der Duft der Speisen rief sie in eine nicht minder behagliche Wirklichkeit zurück …

Der Erfolg der Jagd war zuletzt der lohnendste gewesen. Das erlegte Wild kam in einer langen Wagenreihe an hoch bedeckt mit Tannenzweigen. Sämmtliche Treibleute, die den Tag über und schon gestern meilenweit mitgewirkt hatten, standen im Schloßhof und empfingen ihren Lohn für die gehabte Anstrengung. Man zahlte mit Geld und anerkennenden Worten. Der Graf hatte große Treffer von sich zu rühmen und war in bester Laune, denn der gefürchtete Terschka hatte weniger geleistet, als man erwartet; Terschka trug den Tannenschmuck an der grünen Mütze ohne jede Berechtigung zur Ueberhebung.

Nun auch traten der Dorste'sche Oberförster und[97] seine Gehülfen, der Wildmeister und die Leibschützen mit den bisher zurückgehaltenen Glossen der echten Jägerpraktika hervor und erklärten jeden Schuß, wie er hätte sein müssen, berichtigten jedes Misverständniß, deuteten an, wie man jenen Rehbock, diesen Spießer hätte sogleich da oder dort aufs Blatt nehmen sollen … Alle aber waren darin einverstanden, daß die Freude und das dann zuletzt doch nicht ausgebliebene Glück erst eingezogen waren, als der Landrath entfernt worden …

Laut gesprochen wurde über diesen Zwischenfall nicht mehr viel; der Damen wegen flüsterte man nur; der Landrath mußte ja für »tollgeworden« gelten. Ueber etwa dabei Versäumtes beruhigte einer den andern, seit man von Hubertus' glücklich getroffenen Anordnungen und der Abholung des Landraths aus einem Bauernhause durch sein Fuhrwerk und seinen Bedienten wußte …

Der Hinblick auf die Vorgänge im Hof hätte für die Frauen ein abschreckender sein sollen, denn das letzte erlegte Wild wurde hier von den Jägern ausgeweidet. Lunge, Herz, Leber, das Feiste in den Wammen, alles fiel den jagdkundigen Helfern zu nach Jägerrecht. Sorglich wurde weder hievon abgewichen, noch von den Trinkgeldern, die man dem in die Hand steckte, der das Tannenreis an Hut oder Mütze flocht. Der Anblick, an sich schon wild, machte sich malerisch schön durch die angesteckten Fackeln. Rings die alterthümlichen Wände und Galerieen. Schon allein das Getreibe der Hunde, die für die lang zurückgehaltene Gier jetzt durch ihren Antheil belohnt wurden, war eine Aufgabe[98] für die Vereinigung der Talente eines Snyders und Rubens.

Dann wurde der Rückblick auf die Geschichte des Zusammensturzes dieser Thiere, die mit ihrem Blut den Boden bedeckten, mit einem Stimmeneifer begleitet, als handelte es sich um die größten Begebenheiten der Welt. Jeder stutzende Seitensprung eines Böckleins wurde noch jetzt belacht, nicht etwa weil die »nobeln Passionen« Empfindungslosigkeit mit sich bringen, sondern weil der Mensch an der Ausübung seiner Hoheitsrechte über die Natur doch zuletzt eine berechtigte Freude haben darf. Die Spottreden waren nicht mehr so scharf gesalzen, wie im Beginn. Hatten doch auch die jedem einzelnen mitgegebenen Jäger, des Tannenzweigs, d.h. Trinkgelds wegen, dafür gesorgt, daß zuletzt jeder auch noch so lateinische Jäger gleichsam wie von Samiel's Hand eine sicher treffende Freikugel bekam, und sollte sie auch nur in der diabolisch vermessenen Sicherheit bestanden haben, mit welcher unter fünf auf zwanzig fallenden glücklichen Schüssen einer sicher auf den von ihnen secundirten Herrn gerechnet wurde. Dieser glaubte es dann selbst und je dunkler es wurde, desto weniger Widerspruch auch bei den andern. Onkel Levinus strahlte vor Genugthuung und Zufriedenheit. Auch die Amazonen, selbst Fräulein von »Anflicker«, alle hatten getroffen und zeigten im Hof ihre Opfer … Nur Armgart erklärte mit aller Offenheit, sie hätte nichts erlegt … Sie war die einzige, deren Zähne vor Frost klapperten … Sie suchte fiebernd den Ofen und hockte da wie ein Wurzelmännlein … Terschka[99] und Thiebold machten sich ständig um sie zu schaffen … Benno sah man nicht mehr. Zu Thiebold's Leidwesen hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht und war mit lässig übergeworfener Flinte auf Witoborn zu hinausgeschritten in die stille Nacht …

Der Graf war der höflichste Wirth … Die Jäger, die jetzt bei der Bewirthung halfen, gingen mit Tellern, Flaschen, Servirbretern an ihm vorüber, als wenn er heute früh keinen einzigen von ihnen bei Seite genommen und wirklich gesagt hätte: Gegen Baron von Stein, gegen Graf Mengdenberg hab' ich nicht die mindeste Lust großmüthig zu sein! Wie sie mir, so ich ihnen! Laßt sie nur immer in Büsche treten, wo sie nicht mehr ein noch aus wissen! … Aber auch nach dieser Jagdpraktik folgte jetzt Behagen, Genuß, Erholung … Die Gattinnen, Töchter und Schwestern der Nimrods würzten nicht nur das Mahl durch ihre Erzählungen über den allgemein mit Verehrung begrüßten Doctor Püttmeyer, der sich hier wie ein aufgeschreckter Gnom des Waldgebirgs ausnahm, vorher sein Hemd gewechselt und das gute Fräulein Huber sogar ohne Dank für ihr Spiel hatte abreisen lassen (sie blieb nicht beim Mahl, trotz der Bitte der Gräfin), sondern sie hinderten auch den Ausbruch allzu wilder Natürlichkeiten, die Wahl allzu sorgloser Wortbezeichnungen, das Erzählen allzu derber Anekdoten.

An Gesundheiten fehlte es nicht. Der Graf ließ seine Gäste leben, die Gäste ließen Graf und Gräfin leben. Dann kam der Toast, der immer neu ist, wenn auch der gewöhnlichste von allen, auf die Damen …[100]

Unter diesen fand sich eine muthige Seele, die Freiin von Böckel-Dollspring-Sandvoß, die in ironischer Weise die Philosophinnen leben ließ …

Diese rächten sich und ließen durch Mengdenberg die Amazonen leben …

Die Amazonen brachten wieder einen Toast auf Doctor Püttmeyer aus; es war Fräulein von »Anflicker«, die ihn sprach. Man nahm diesen Toast mit Jubel auf. Er übertönte das Wohl aller andern um so mehr, als inzwischen die Husarentrompeter heraufgekommen waren und ihre Instrumente lustig in den Saal herein erschallen ließen. Fanfaren folgten auf Fanfaren, ein Jagdstücklein aufs andere; der grüne Heuschreck Stammer fehlte nicht und machte seine landbekannten Possen. Dann erhob sich der Oberförster, der an der Tafel theilnahm, und hielt eine Rede, die sogar theilweise an Thiebold gerichtet war, eine Rede, die sich in die altdeutschen Urwälder verlief, in einigen Sümpfen stecken blieb und endlich nach langen Umwegen, wo man wunder dachte wo er herauskommen würde, unter Thränenanflug bei seiner theuern, liebwerthesten, gnädigsten, jungen Herrschaft anlangte, bei der Comtesse Paula …

Das gab dann einen Sturm von Beifall … Alle Gläser klangen … Auch das Glas Armgart's, die zwischen dem Onkel und Terschka saß, erklang … Wie ihre Augen sich gefeuchtet hatten, bemerkte Niemand … Gräfin Paula auf Westerhof erschien allen wie in der Glorie einer Schutzheiligen des Landes …[101]

Lucinde saß in einem Kreise von Offizieren … Schon fing sie an allgemeines Interesse zu erregen …

Terschka hatte sie sogleich erkannt und wollte Armgart auf sie aufmerksam machen … Diese aber redete, um ihr Seelenleid, den ganzen Jammer ihres wahnbethörten Herzens zu verbergen, mit Püttmeyer, der ihr gegenüber saß, und entschuldigte ihre Nichtanwesenheit bei seinem Vortrag, der, sie sprach das im vollen Glauben, ja »so entzückend schön« gewesen sein sollte …

Püttmeyer hörte indessen nur halb … er wollte den ihm dargebrachten Toast erwidern und es ist ein eigener Zustand im Menschen, wenn er, so zu sagen, einen Toast im Leibe hat. Oder wie anders soll man die Lage nennen, die nicht unähnlich sein muß der Sehnsucht nach einer glücklichen Niederkunft? Sage man was man will, Steckenbleiben ist bitter und Geistesgegenwart ist nicht Jedermanns Sache, am wenigsten derer, die Geist haben. Da sitzt so ein toastschwangerer Mensch und die Speisen werden ihm servirt und er nimmt mit dem Löffel, was er mit der Gabel greifen soll, tief abwesend ist er und lebt nur in der Repetition der schönen Dinge, die er sagen möchte. Nun begegnet ihm noch das Unglück, daß ihm links ein Nebenmann fortwährend die Flammen der Begeisterung schüren will, mit dem Messer an ein Glas zu schlagen droht, zum Zeichen, daß hier Jemand sprechen wolle. Um Gottes willen noch nicht! ruft der verzweifelnde Demosthenes dazwischen, während er, statt sich in Muße sammeln zu können, wieder zur Rechten von einer unglückseligen Plaudertasche ins Gebet genommen[102] wird, die ihn nichts ahnend über alles ausfrägt, über den Kirchenstreit, den Kirchenfürsten, über Roms Allocutionen, Concordate, Exercitien, Barmherzige Schwestern, Hoffnungen auf neue Klöster und Jesuiten … Eine Erklärung: Beste gnädigste Frau Gräfin, schonen Sie mich, ich habe einen Toast im Leibe! kann ein Mensch von Geist unmöglich abgeben, da ein Toast nur immer die Schöpfung eines fast bewußtlosen, genial improvisirenden Mittheilungsdranges sein soll. Ein verzweiflungsvoller Zustand das! Um so mehr, wenn der rechte Moment vorübergehen kann, der, wo die Toaste, die nach vielen andern kommen, ihre Zündkraft verlieren …

Püttmeyer hatte die Gräfin Münnich zur Linken, das Fräulein von »Anflicker« zur Rechten, Armgart sich gegenüber. Klopfte auch Jene nicht, einen »Zustand« an ihm bemerkend, vorschnell mit dem Messer an ihr Glas, so glaubte doch die Dame zur Rechten alles aufbieten müssen, den hochberühmten Denker so zu unterhalten, wie es einer Dame auch ihres vielseitigen Rufs geziemte; denn Fräulein von Merwig-Anflicker, eine Jungfrau in den Vierzigen, war von einem Unternehmungsgeist, der in allen Gebieten Courage zeigte, in der Musik, in der Plastik, in der Poesie, in der Declamation – nichts fehlte, als der Erfolg …

Püttmeyer! Püttmeyer! Wahre deinen Vortheil! Gleiche dem Maikäfer, den der glückliche Knabe über die Hand laufen läßt! Im besten Bewundern seines schwarzen oder braunen Halsschildes, seiner behaarten[103] Fußschienen, fliegt er dem Beobachter plötzlich auf und davon! Fräulein von Merwig-Anflicker reißt die Debatte an sich und dich mit hinein! Sie muß ja streiten, streiten bis zum Unschönen – sie stritt schon sogar einmal bis zu einem nur mühsam beigelegten Pistolenduell … Die Offiziere necken sie heute über den Tisch hinweg mit ihrer Kunst zu reiten und ein feinerer Kopf unter ihnen spricht in Anspielung auf die ungedruckten Gedichte des Fräuleins – vom Hufbeschlag des Pegasus und vom Riemzeug und vom Geschirr der Sonnenrosse … Nun erwidert sie:

Die Hufeisen des Pegasus sind dem Huf des Götterpferdes verkehrt angeschlagen! Wer seinem Wolkenflug nicht folgen kann, wer ihn nur zu würdigen weiß, wie der Aermste mit geknicktem Flügel auch wol über die Sandflächen der Erde dahinjagen muß, den führt seine Spur immer gerade nur auf die entgegengesetzte Seite hin, als wohin ihm die nichtsnutzige Kritik im Sande nachtrottet!

Das war ein Wort der Kraft und erntete nicht wenig Zustimmung und zerstreute nur leider Püttmeyern, den das sympathische Wort: Nichtsnutzige Kritik vollends aus dem Kreisen seines Toastes brachte …

Aber die Sonnenrosse? – rief Onkel Levinus und hob sein Römerglas und genoß heute die ganze Freiheit seiner – ungeschlossenen Ehe … Wie Sonnenrosse eingeschirrt werden, fuhr er begeistert fort, das kann man nur wissen, wenn man Aurora auf ihrem Gespann von einem Berg der Alpen begrüßt hat oder vom Capitol in Rom oder von einem Vorgebirge Griechenlands![104] Da hört man die Sonnenrosse, wie sie angeschirrt werden! Da sieht man's, wenn die ersten gelben Lichter über die dunkelblauen Wellen im Ost wie von einem Wind heraufgetragen erscheinen, das Meer geweckt wird aus nächtlichem Schlummer, dann sich alles purpurn und violett und blau malt! Immer unruhiger jauchzt das Meer der Sonne, wie einem Bräutigam entgegen! Was Correggio, Guido, Raphael gemalt haben, sieht man jetzt! Neptun, Jo und Jupiter und Europa! Tritonen! Alles bläst und spritzt Wasserstrahlen über sich her und auf Delphinen schwimmt ein Brautzug mit Blumen und flatternden Bändern! Nein, meine Herren und Damen, im Süden haben die Sonnenrosse gar keine Eisen an den Hufen. Nur hier, hier bei uns, hier wo sie ihren feurigen Wagen über die traurigen Eisschollen des Philisterthums schleppen müssen, hier, hier muß wol – die alte Westerhofer Schmiede dran!

Hurrah! Das gab eine Erregung …

So konnte Onkel Levinus sprechen, wenn durch sein eigenes Philisterthum der Genius hindurchbrach … Der Adel wußte, was er an dem Manne besaß. Er drückte ihm aus, was zu besitzen ihm Beruhigung gewährte, wenn man Schiller und Goethe ablehnt. Da waren ja Denken und Dichten, Wahrheit und Schönheit auch vertreten; wozu brauchte man die protestantische Welt? Auf Freiherrn Levinus von Hülleshoven war die ganze Provinz stolz; nur mußte er nicht von Rom, Griechenland und Jerusalem gleich auch nach Abyssinien und Cochinchina reisen …[105]

Deshalb kamen die Hörner gerade recht, die ein lustiges Jagdlied schmetterten …

Schon war das reiche Mahl fast zu Ende, schon war der heute so auffallend schweigsame Terschka in der Nothwendigkeit, auf Rom sowol, wie auf den Hufbeschlag der Pferde Rede zu stehen – hatte er doch alle Offiziere durch seine Kenntniß des letztern, wie die Damen durch seine Kenntniß des erstern oft genug gefesselt – als Püttmeyer endlich, endlich an sein Glas klopfte. Beim fortgesetzten Gefülltwerden desselben hatte er bemerkt, daß seine Sinne plötzlich zu schwindeln anfingen und der Augenblick zu kommen drohte, wo der Mensch von Einsicht erkennt, daß er keinen Toast mehr bringen soll …

Allgemeines Bravo und Klopfen an die Gläser …

Püttmeyer steht auf … Es war ein Moment, wo ihm der Boden unter den Füßen wankte. Hinter einem Transparent im Dunkeln hatte er stundenlang sprechen können – jetzt aber mußte er seinen ganzen Menschen aufbieten, um sich zu behaupten. Danken wollte er für das ihm gebrachte Hoch, wollte wiederum, wie sich's erwarten ließ, seiner Philosophie eine anerkennende Zukunft prophezeien … Armgart sah durch ihre in Thränennebeln flimmernden Augen hindurch die sonnenbeschienene Warte des Geyerfels, von der Angelika Müller einst in einer schönern Stunde gesprochen: Da möchte man predigen! … Schon war Püttmeyer's: Hochzuverehrende Damen und Herren! über seine Lippen, die etwas im Tone Schnuphase's sprachen; schon hatte er wiederum zum Beginn seiner eigenen Verherrlichung[106] gelegenheitsgemäß gesagt: »Wie aus dem Wald, in welchem die edle Waidmannskunst vor wenigen Stunden, bald zum letzten mal ehe die Axt des Holzschlägers die alten Stämme niederlegen wird, ihr fröhliches Jagen erschallen ließ, in kurzer Zeit sich die Grundlagen einer jener Eisenstraßen erheben werden, welche das Gaslicht der Aufklärung auch endlich in unser Land, in das Land der Böotier«; – – und schon war nach dem stürmischen Jubel auf dies ironische Sichselbstverspotten durch ein Stichwort, mit dem die fragliche Provinz nicht selten bezeichnet wurde, und nach dem Wehen der Damentaschentücher, die in diesem Augenblick zu Kriegsfahnen wurden für den neueröffneten Kreuzzug gegen Ketzer- und Beamtenthum – Püttmeyer im Begriff, seinem »einsamen Denkstein« und seinem: »Heureka!« auch vor den Männern eine genugthuunggebende Zukunft zu verheißen, als – die Lacerte am Riedbruch auch in diesem Augenblick wieder dahinhuschte, wieder eine Dame aufsprang, wieder wie zur Flucht, und wieder Lucinde, die schon Allbeobachtete, nach der Thür suchte …

Diesmal war aber die Störung nur das Signal eines allgemeinen Aufbruchs …

Im Saal waren die Fenster nicht verhängt gewesen. Durch eine große dreigetheilte Balconthür hindurch hatte man einen erschreckenden Anblick …

Feuer! riefen schon draußen Stimmen zu gleicher Zeit … Feuer! wiederholte man von den Corridoren … Ein Nordlicht ist's! rief Jemand im Saale, zur Beruhigung[107] auffordernd … Der glührothe Schein konnte nur einem Brande angehören …

Eine Weile Todtenstille … Der Schein war im Süden …

In Witoborn ist's! riefen die einen …

In Heiligenkreuz! die andern …

Auf Westerhof! schrie Armgart und stürzte wie aus einem Traum erwachend, der den Tag über dumpf auf ihr gelegen, und mit fanatischer Erregung zur Thür hinaus …

Die Rede und der Abend waren zu Ende. Püttmeyer stand an der Tafel, wie ein kalt gewordenes Gericht und konnte sich nicht finden. Es war ihm, als wäre ihm plötzlich auch sein eigener Verstand so davon- und zur Thür hinausgelaufen …

Die Beruhigungen des Wirthes und der Diener konnten Niemanden mehr zurückhalten …

Ein breiter glührother Schein blieb quer über dem schneebedeckten Rücken eines Tannenwaldes liegen …

Am Zittern des Scheins sah man, daß die Flamme vom Winde bewegt wurde. Bald war der Schein stärker, bald schwächer; die Bewegung kam, wie in regelmäßigen Pulsschlägen. So unheimlich sah es sich an, daß die Frauen schon die Erscheinung fühlten, wie wenn die intermittirende Bewegung vom eigenen Herzen kam …

Die Phantasie der einen machte sich durch Aufschrei Luft, die andern gingen wie in der Irre. Jede Natur, mochte sie sich eben auch ganz in der Beherrschung gegeben haben, die Bildung und Ueberbildung mit sich[108] bringen, warf jetzt die Fesseln ab. Die schweigsamste wurde beredt, die lauteste verstummte. Schluchzen hörte man, Trostworte … Alle aber riefen: Die arme Gräfin Paula! Und sie hat es vorausgesehen! … Levinus, Armgart, Terschka und Thiebold waren schon verschwunden …

Noch ehe diejenigen, die auf das obere Stockwerk und das Dach geeilt waren, zurückkehrten und die Nachricht brachten, es schiene in der That entweder das Schloß Westerhof oder die Liborikirche oder das Stift Heiligenkreuz zu brennen, war der Saal entleert …

Im Hof drängte sich ein Gewühl kaum zum Durchkommen … Die Pferde, die Spritzen wurden aus den Ställen und Remisen gezogen …

Viele Herren, selbst Fräulein von Merwig setzten sich auf eine der Spritzen, um nur rasch an Ort und Stelle zu kommen …

Dabei fehlten die Diener, die Jäger, die Mägde. Viele hatte schon der magische Reiz, den jede Feuersbrunst ausübt, angezogen, trotz der ernsten Warnung des Grafen, die Jedem verbot sich ohne Erlaubniß zu entfernen …

Frau von Sicking war unter allen die verlassenste … Doch war ihr Besitzthum glücklicherweise nicht genannt worden … Sie ließ sich von Jedem, der noch nicht im Besitz seiner Pelze, Mäntel, Fußsäcke war, Bericht erstatten von der gestrigen Vision Paula's und sah sich zuletzt nach ihrer bei alledem doch fast zu auffallend schreckhaften Begleiterin um … Wo ist mein Fräulein? rief sie …

Ein Jäger sagte, das Fräulein wäre wie ein angeschossener[109] Vogel gewesen plötzlich verschwunden … Man suchte sie … Lucinde war nicht zu finden …

Mit Verdruß über »diese doch merkwürdigen Sonderbarkeiten«, aber mit interessanten Thatsachen für ihre weitverzweigte Correspondenz bereichert, fuhr Frau von Sicking allein nach Hause.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 85-110.
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