18.

[134] Frau Schmeling, jenes Mütterchen, durch das, wie wir wissen, eine ganze Generation um Witoborn das Licht der Welt erblickt hatte, wußte ihre Nächte zu schätzen … Der himmlische Vater läßt seine Kinder öfter bei Nacht in dies Freuden- und Jammerthal einschlüpfen als bei Tage …

Selbst eine so große Begebenheit, wie der Brand auf Schloß Westerhof, brachte die alte Frau nicht aus ihrem zweistöckigen, stattlichen Häuschen, das nur ein klein, klein wenig abseits vom Wege zwischen Witoborn und Westerhof lag, zugänglich ihrer Stadt- und Landpraxis, umgeben von einer gewissen geheimnißvollen Verschwiegenheit, die das Zutrauen zu ihr seit nahezu vierzig Jahren nicht wenig gemehrt hatte …

Aber im Bett litt es die alte und etwas reizbare Frau denn doch nicht … Schon war sie zur Ruhe gegangen, als ihr einziger Hausbewohner, eine alte Magd, sie weckte und ihr die Schreckenskunde von dem Brand in Westerhof brachte …

Mutter Schmeling war so ergrimmt auf den Pfarrer[135] Müllenhoff zu Sanct-Libori, der ihr auf ihr fünfzigjähriges Jubiläum noch mit dem Kirchenbann hatte drohen und sie des Teufels Großmutter nennen können, daß sie geradezu herausbrummte: Ob's denn auch wirklich auf dem Schloß wäre? Und doch nicht etwa – in Sanct-Libori? … Ein leises Kichern dabei, das hörte die Magd nicht einmal … hörte nicht die still für sich ins Bettkissen, ja in einen kleinen grauen Bart gebrummten Worte: Kindtaufe! Kindtaufe! Hihi! Er läßt vielleicht schon illuminiren …

Ne, ne! sagte die Magd, dat muot en groot Füer sin! und zeigte durchaus nach Westerhof …

Und nicht minder plattdeutsch entgegnete Mutter Schmeling, so wolle sie denn up stahn und wenigstens Licht maken …

Inzwischen unterhielt sie's, den großartigen Lärm zu hören, der sich auf der Landstraße entwickelte …

Ihr Häuschen lag in einem Hohlweg, der sich von der Landstraße abwärts senkte den Gärten zu, die zur großen Besitzung der Frau von Sicking gehörten … Im Sommer war das hier alles gar grün ringsum … Lämmlein und – Schweine genug weideten auf den Triften und ein paar einsame alte Bäume, die hinterm Gärtchen des Hauses lagen, hatten sogar Ruf und Anziehungskraft durch die ihnen angehefteten Bildchen und frommen Sprüche und besonders durch eine erquickliche Aussicht und eine Bank, wo mancher Bauerbursch und manche Bauerdirne unter nächtlichem Sternenglanz in ernst bedeutsamem Gespräch mit der Alten verweilen und über Manches seufzen konnten … Hundert Schritte davon lag eine Art[136] Vorwerk von Witoborn, obgleich es nachher noch Strecken von Wiesen und von Kirchhöfen gab, bis man die Mauern der alten souveränen Bischofsstadt erreichte … Jetzt jagten die Spritzen mit Fackeln nach Westerhof … Gensdarmen sprengten dahin, zuletzt ein Piket Husaren … Und die Menschen liefen und – lachten sogar, denn »Feuer ist eine Bürgerfreude!« sagt ein frankfurter Sprichwort …

Daß aber die junge Gräfin das Feuer nicht beschwören kann! meinte die Magd, die, wenn's verlangt wurde, an Hexen glaubte …

Dummer Schnack! antwortete Mutter Schmeling, die in diesem Gebiet bewanderter war. Eine weise Frau – sie verstand darunter eine Zauberin, keine sage femme – eine weise Frau kann wol andern Gutes thun, aber sich nicht selbst …

Nach so tiefsinniger Aeußerung überlegte sie, ob wol im Bereich des Schlosses Jemand wäre, den Mutterhoffnungen demnächst auf ihre Hülfe anwiesen. Es kamen Fälle vor, wo gerade solche Schreckensaugenblicke Geburten beschleunigten, andere vereitelten … Sie zählte an den Fingern, wie weit es noch mit der Moorbäuerin und Frau Leyendeckerin hin war … Endlich bog Niemand vom Weg in ihren Hohlweg ab … Sie verbrannte nur unnütz Oel … Die Wand, wo sie schlief, faßte sich noch kalt an … Sie wollte sich wieder zur Ruhe legen …

Eine Stunde mochte sie vergebens den Schlaf gesucht haben – Der Lärm der Glocken, das Blasen und Trommeln in Witoborn, das Rasseln auf der Landstraße förderten[137] die Ruhe nicht – als sie heftig an ihre Hausthür pochen hörte …

Die Magd, die sich nicht nehmen ließ oben auf dem Dache nach Westerhof zu die malerische Aussicht zu genießen, kam erschreckt in die Stube zur ebenen Erde mit ihren klappernden Holzpantoffeln herabgelaufen und flüsterte der Alten, die aufhorchte:

Wat soll dat? Der alte Bettelpape bringt uns einen Menschen her – huckepack –

Die Hebamme wußte, wer der alte Bettelpfaff war … So? sagte sie ruhig und erhob sich, trotz des Pochens noch zweifelnd …

Einen Mann trägt er – ich sah ihn über die Lehmgrube kommen und dachte erst: Wer sucht nur da was? Nun kommt er gerade über'n Wall – und das da draußen, das sind sie –

Wieder pochte es stärker und stärker …

Mutter Schmeling wurde aufs neue aus ihrem Bette getrieben …

Ein Rock war bald übergeworfen …

Mach mal auf! sagte sie …

Einer Gefahr glaubte sie in keiner Weise gewärtig zu sein …

Der ihr wohlbekannte Bettelbruder Hubertus trat mit seiner schweren Bürde ein, die er von Schloß Westerhof bis hieher getragen hatte. Er hatte Umwege gemacht, um die Landstraße zu vermeiden. Jetzt verließ ihn allmählich die Kraft. Welche Anstrengungen hatten aber auch die Erlebnisse dieses Tages von Beginn der Jagd an ihm schon zugemuthet! Er ließ den noch immer[138] Bewußtlosen in dem Zimmer, dessen Eingang sogleich zur Rechten lag, auf einen alten Lehnstuhl sinken, rückte sofort zwei Stühle herbei, legte darauf die Füße der über und über geschwärzten abschreckenden Gestalt im gestreiften Kittel und sank selbst, anfangs sogar sprachlos, auf einen Stuhl, den ihm die alte Frau mit Erstaunen hinschob, während die Magd schon nach der Küche lief, um Torf für den kaltgewordenen Ofen zu holen …

Heiliger Lazarus, was ist denn das – für ein Schornsteinfeger –? Der ist wol verunglückt – auf dem Schloß? sagte Mutter Schmeling und billigte das Erwärmen der Stube auch schon in Betracht ihrer selbst …

Hubertus machte sich, allmählich wie zu Kräften kommend, mit der Bequemlichkeit seines in Erschöpfung Liegenden zu schaffen und trat mit dem Verlangen hervor, Mutter Schmeling sollte in ihrem verschwiegenen Hause ihre obern Zimmer für diesen allerdings beim Brande Verunglückten öffnen, den er anfangs nach Witoborn ins Spital hätte tragen wollen, nun aber lieber selbst verpflegen wolle … es wäre ein Mensch übrigens, vollkommen reich genug, sie zu bezahlen … Ein Wagen würde den Kranken jetzt zu sehr erschüttert haben … Deshalb hätt' er lieber ihn selbst getragen …

Ne, dat geiht nicht! Da oben? Bruder, dat geiht nicht!

Warum nicht …?

Ihr wißt, ich habe Euch immer gern gedient, schon – als Ihr noch weltlich wart! Aber – dat geiht nicht![139]

Der Mann ist brav, seine Wunden schmerzen ihn – und die Kosten –

Das ist's nicht –

Oben ist's bewohnt! schaltete jetzt die Magd ein …

Frau Schmeling unterbrach die Magd und sagte:

Bewohnt oder nicht … Wat snakt sie? … Aber … Ja! Ich erwarte –

Wieder so eine – Prinzessin –?

Ja – ja …

Was bringt's Euch denn ein? Ich selbst habe nichts! Der Mann da aber ist reich –

Mit zweifelhafter Miene blickten beide alte Frauen auf den sich allmählich Erholenden, der die Augen aufschlug, wieder sinken ließ und sich an die von einem spärlichen Lampenlicht erhellte kleine, nicht unfreundliche Stube erst allmählich gewöhnte … Die Nähe eines Mönchs mußte ihn annehmen lassen, er wäre im Spital –

Die weitere Verhandlung über seine im obern Stock zu bewerkstelligende Unterkunft unterbrach das Verlangen einer Erfrischung, die der Gerettete mit Aufhebung einer seiner blutig rothen und an andern Stellen schwarzen Hände zu begehren schien …

Hubertus lehnte noch das Erbieten der Frauen für Wasser oder Thee ab und zog aus seiner Kutte eine Korbflasche, die er dem Verschmachtenden an den Mund setzte …

Dieser starrte die unheimliche Gestalt des Mönches an, trank ein angenehm duftendes gebranntes Wasser und athmete gestärkter auf …

Frau Schmeling! Nehmen Sie den Mann nur auf![140] begann Hubertus aufs neue. Er ist wohlhabend! Ein Diener vom Schloß zwar nur, aber in guten Verhältnissen! Ich habe sein Geld zu mir gesteckt! Sehen Sie da, zehn Thaler! Ihr Bett und alle Ungelegenheiten, die er Ihnen macht, sollen vergütet werden! Wo kann er auch besser gepflegt werden, als bei Ihnen? Nur einen Tag! Dann sorgen wir ja schon weiter! Er will zu seinen Angehörigen! Das ist drei Meilen von hier und dahin fährt er morgen oder – übermorgen! So lange wird's doch gehen? …

Frau Schmeling fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger sinnend hinter dem rechten Ohr hin und her, während Schneid den Mönch anstarrte, nicht begreifend, was er da alles zu vernehmen bekam …

Für einen Tag wollte denn Frau Schmeling zuletzt wirklich einwilligen und lehnte die hohe Bezahlung ab …

Ich erwarte nur Besuch – sagte sie …

Ja, ja! Ich weiß schon! scherzte jetzt hocherfreut Hubertus. Dann werden die Gardinen zugezogen! Bei Sanct-Franz! Ich kann ihn ja schon um deswillen nicht zu lange hier liegen lassen, weil hier nächstens der Kirchenbann anklopft …

Darüber lachte zwar erst Frau Schmeling hellauf, zankte dann aber doch über derlei Reden …

Nun, nun! beruhigte Hubertus … Wir Mönche beten dann desto mehr für Sie! …

Schneid sah nur immer den Sprecher und die Frauen an und sprach ein: Diable! nach dem andern vor sich hin und verschluckte seine Gedanken vor jedem Aussprechen …[141]

Frau Schmeling wetterte über den Pfarrer Müllenhoff, öffnete die Thür, leuchtete voran und schloß eine zweite Thür auf, die zur Treppe in den ersten Stock führte … Man konnte diesem auch durch eine Hühnersteige und eine geöffnete Fallthür von der Küche aus beikommen …

Hubertus bestellte heißes Wasser, einen Napf mit so viel Speiseöl, als nur im Hause vorräthig wäre und trug den jetzt Widerstrebenden die Stiege hinauf …

Auf den Moment des Erschreckens und des gewaltsamen Sichloswindens, wenn Hubertus bei dieser Procedur heimlich dem von ihm Getragenen ein Wort der Erkennung zuflüstern würde, war er gefaßt …

Soyez tranquille, Jean Picard! flüsterte er ihm mitten auf der Treppe ins Ohr …

Auf das durch dies Wort wie von einem galvanischen Schlage getroffene mächtige Aufzucken, Umsichschlagen und Sichaufrichtenwollen des Halbgelähmten hielt ihn Hubertus, wie man einen Epileptischen bändigt, Glied an Glied …

Oben empfing sie Frau Schmeling …

Starr, mit aufgerissenen Augenlidern, sah Bickert in die festen Augen des Mönchs … Es war ein Bild, wie auf der Guillotine sich ein Opfer niederwerfen mag, um nicht erst mit den Armen festgebunden zu werden …

Doch ein feierliches ruhiges Schweigen lag sogleich wieder auf Hubertus' Lippen …

Bickert ließ sich jetzt behandeln wie ein Kind …

Wie eine Geistesverwirrung mußte es über ihn kommen, als der Mönch fortfuhr:[142]

Waschen Sie ihm doch auch das Gesicht, Frau! Ei, ei, ei! Allerdings! Ihr sauberes, sauberes Bett! Für wen ist's denn diesmal bestimmt? … Das ist ja gerade wie dazumal bei unserer armen Hedwig! Wissen Sie noch? Ziehen Sie nur gleich die Ueberzüge herunter! … Aber ich will ihn doch erst ein bischen sauberer machen … Seinen Rock hab' ich nicht mitgebracht, aber all sein Geld … ja all sein Geld … Nur heißes Wasser jetzt und das Oel … Ich mach's so gut, wie im Spital … Bis dahin war's mir denn doch für die Last zu weit …

Es war ein geräumiges Schlafzimmer, einfach, aber sauber gehalten, wo Hubertus den aus seinen Schmerzen nicht mehr Aufstöhnenden, nur vor Furcht und Schrecken in einem starren Schweigen Beharrenden auf eine Strohmatratze legte, die er aus dem Bett genommen und auf die Erde gebreitet hatte …

Dann nahm er das inzwischen heraufgebrachte Oel, verlangte Leinzeug, an dem im Hause kein Mangel war, und bestrich damit die verbrannten Hände, die er dann in die leinenen Streifen einschlug, den Einschlag mit Bändern befestigend …

Bickert sah bei alledem bald ihn, bald die Frauen starr an und wagte keine Frage, erwartungsvoll, was in dieser Lage ihm noch werden sollte … Hubertus plauderte immer fort, schilderte das Feuer, lobte die Aufopferung des Geretteten, sprach harmlose Vermuthungen über den Grund des Brandes aus und endete, wie nur so ganz gelegentlich, mit den Worten:

Im Feuer – ja da bin ich auch groß geworden, wenigstens[143] in vierzig Grad Hitze – und schon früh hab' ich meine Haut zum Braten hergeben müssen! Einmal – ei schon als Junge – nein, ich konnte doch schon von den neuen Tabackstengeln rauchen, die die Spanier dazumal unter Napoleon mitbrachten – als ich zwei Stock hoch aus einem Brand hinuntersprang, zwei Schlingel im Arm, Jantje der eine und der andere – Wenzel hieß er …

So elektrisch getroffen fährt im Käfig ein Panther auf, wenn er die Nähe seines Wärters spürt, streckt den Kopf, reckt die Ohren und starrt erwartungsvoll ins Leere, wie jetzt Bickert …

Der Mönch drückte wieder ihn mit nervigem Arme, aber scheinbar ganz harmlos, nieder …

Ruhig, ruhig! sagte er. Jetzt kommen wir ja an die Sonntagswäsche! Brav, Jungfer! brav! Nur her mit dem Schwamm! … Schade wär's freilich um eure Betten! Und um eure Prinzessin! Eure weiße Unschuld! Richtig – Jantje! Von dem sprach ich … Na, dem wäre schon damals besser gewesen, er hätte das Zeitliche gesegnet! Verstand hatte er ohnehin nur halbwegs! Manchmal – da kam ein bischen guter Wille zum Vorschein! Sonst – Hier her, Frau Schmeling! Gelt, Landsmann, der Schwamm thut gut? … Ja, Mutterchen, könnten wir Pfaffen doch überall so die Sünden und Brandmale wegtilgen – – besonders die an uns selbst! …

Während Frau Schmeling die Bemühungen der Pfaffen um solche Seelenwäsche nach ihren neuesten Erfahrungen als höchst problematisch schilderte und namentlich die neueste hierländische Seife als viel zu beizend verwarf,[144] wusch Hubertus die entblößten Arme, auf denen er schon längst beim Herübertragen des Bewußtlosen vom Schlosse die verhängnißvollen Zeichen erblickt hatte …

Seid Ihr denn da so kitzlich? fragte er, als Bickert dem Aufknöpfen der Jacke und dem Aufstreifen der Aermel wehrte … Laßt doch! … Franz Bosbeck, wie ich sonst hieß, ist ja keine zimpferliche Dame! Mir gegenüber – Ei Jantje, Jantje – Seid doch nicht so verschämt! Solche Muttermäler kenn' ich ja! So! Es macht sich …

Die Frauen hörten diese Reden nicht alle; sie gingen ab und zu, trugen das schwarze Spülicht fort, trugen die Kleider hinaus, brachten ein frisches Hemd, frisches Wasser. Ehe dann zuletzt eine Suppe kam, die Hubertus schon beim Hinaufsteigen bestellt hatte, reichte er noch einmal dem mit geöffneten Lippen ihn Anstarrenden die Korbflasche …

Bickert trank zwar, sprach aber für sich Fluch auf Fluch, wilde Worte, die er sogar – mit der Mutter Gottes bekräftigte …

Welche denn? fragte rasch Hubertus. Doch wol die Mutter Gottes von Neus?

Eine in seinen heimatlichen Niederungen weit und breit verehrte Madonna …

Eine andere! sagte Bickert, drückte seine Augen zu und sank aus seinem Trotz in Erschöpfung zurück …

Mütterchen, flüsterte jetzt Hubertus, nun hilft da nichts! Die Nacht halt' ich hier oben Wache! Die Matratze liegt schon da; ein Kissen und ich schlafe wie ein Marder![145] Mein Kloster soll's hernach schon hören und mich freisprechen, wenn ich auf Reisen war und Heiden bekehrte … Und sie warten ja auch sonst nicht allzu lange mit dem Kartoffelsalat und mit ihrer Grütze auf mich … Morgen, da macht Ihr mein Leibgericht … Speckpfannkuchen mit Kartoffeln …

Während dieser Plaudereien, bei denen er oft an Lucinde, oft an den Landrath denken mußte, trug der Mönch den Verbrecher ins Bett, das aus einem Ueberfluß von Federn aufgehäuft war – dergestalt, daß immer noch davon weggenommen werden konnte und doch genug übrig blieb, den jetzt von dem heftigsten Fieberfrost Ergriffenen zu erwärmen …

Die Wirkung, die der Mönch auf den Verbrecher ausübte, war die des Magnetiseurs … Bickert war in physische Betäubung versunken … Machtlos starrte er ins Leere … Auch von jener Suppe konnten ihm nur einige Löffel eingegeben werden … Sein zerschundener Kopf sank ins Kopfkissen zurück und bald schien es, als wenn er entschlief …

Auch Hubertus übermannte dann die Anstrengung … Er legte sich auf die Strohmatratze, zog ein Kissen unter den unbehaarten Kopf und in einer Viertelstunde war im Häuschen alles so ruhig, wie nur je zur Nacht die es antrafen, die Mutter Schmeling zu der geheimnißvollsten Feierstunde des Lebens abriefen …

Der Morgen brach an …

Es ist ein eigenes Düster, mit dem uns der Tag nach ereigniß- und verhängnißvollen Erlebnissen begrüßt … Bleiern drückt dann die unabänderliche Nothwendigkeit;[146] jeder Athemzug, der sonst sich frisch und sorglos von der Brust gerungen hätte, ist gehemmt von Furcht und Erwägung …

Hubertus erwachte am frühesten und doch schlugen die Glocken von Witoborn schon sieben Uhr … Die Tage brachen jetzt schon zeitiger an … Hell genug war es, um sich schon im Hause zurecht zu finden … Bickert schlief noch – wie eine jener Ratten, über die er in den unterirdischen Gängen des Profeßhauses sorgloser gelacht hatte, als er es heute beim Erwachen würde thun können … Hubertus rechnete bestimmt darauf, daß sich zwei Erkundigungen durchkreuzen müßten … Eine nach dem Befinden des Dieners, für den man vom Schloß aus Sorge tragen würde; eine, die von einer wiederholten Anzeige an die Behörden ausgehen und in dem gestrigen Helfer vielleicht schon den Urheber des Brandes suchen würde …

Zunächst hatte er die Sorge um das Befinden des Landraths und die Auskunft, die Lucinde bei der Messe im Münster erwartete …

Der Verbrecher schlief einen Schlaf, aus dem ihn Hubertus nicht wecken mochte … Die Brust hob sich in so regelmäßigen Zügen, daß es ein Stärkungsschlaf schien, den der völlig verthierte und doch wieder furchtsame und feige Mensch deshalb bedurfte, um die Kraft zu gewinnen für Hubertus' weitere Pläne … Immer noch kämpfte er mit sich, ob er einen Mordbrenner der gerechten Strafe entziehen durfte … Schon während er die Flamme aus der Ferne auflodern sah und ihm der Gedanke kam: Das, das ist die That, zu der sich der Unglückliche[147] hat dingen lassen! gab er die Absicht des Schutzes auf und beflügelte nur noch um Lucindens willen seine Eile – nicht fassen konnte er, wie ein ihm durch Klingsohr so anziehend gewordenes Mädchen sich an so verbrecherischen Vorgängen betheiligt wissen konnte … Dann sah er doch wieder den, den er suchte, als den Thätigsten bei der Rettung … Durch diesen unerwarteten Anblick gewann er neue Gunst für den Verlorenen … Selbst wenn er sich sagen mußte: Der Verzagende warf sich nur deshalb unter die Rettenden, um nicht den Schein der Anstiftung zu haben, die Umstände zwangen ihn, seine Rolle zu wechseln – erfüllte ihn das Räthselhafte des ganzen Verbrechens mit dem Verlangen, erst aus Bickert's Munde selbst darüber aufgeklärt zu werden … Dem Arm des Gesetzes ihn zu entziehen, konnte, nicht unter seinen Entschlüssen derjenige sein, der die Oberhand behielt … Vorläufig jedoch wollte er ihn um Lucindens willen in Sicherheit bringen, ihn noch heute gegen Abend weiter befördern und ihm nur für den einen Fall auf den Weg nach Bremen verhelfen, daß er einen Menschen antraf, dem sich solche Hülfe noch mit gutem Gewissen gewähren ließ, und daß ihm keine durch die Brandstiftung verdeckte sonstige schwere Unthat zur Last fiel … Um Aufklärungen über Bickert's Beginnen konnte er jetzt nicht drängen …

Allmählich ließen sich auch die Frauen hören und sorgten für einen erquickenden Morgentrunk …

Sollte vom Schlosse geschickt werden, sagte Hubertus, sich zum Gehen anschickend, so erzählt nur, daß ich ihn ins Spital tragen wollte, aber mit meinen Kräften[148] nur bis hieher reichte! Was man an Erquickungen bringt, nehmt getrost an! Kann man ihn aber selbst schonen und von Niemanden sprechen lassen, desto besser! Ich ließe an Euerer Statt Niemanden zu ihm …

Die Frauen versprachen zu thun, was in ihren Kräften stand … Nur sagte die Schmeling:

Wenn aber die Gensdarmen kommen –

Die Gensdarmen? …

Ich vermuthe …

Die Gensdarmen? Warum die?

Mutter Schmeling fuhr mit dem gekrümmten Zeigefinger wieder hinter ihrem Ohre hin und her und machte nachdenkliche Mienen, obgleich sie sich dabei entschlossen auf ihre paar noch übrigen Zähne biß …

Was habt Ihr denn nur? – fragte der Mönch …

Mutter Schmeling stand nicht Rede, sondern lästerte über die Ordnungen der Welt. Sie stellte hundert Fragen in Aussicht, die ja bekanntlich ein Narr thun und auf Erden nicht der Weiseste beantworten könnte …

Hubertus sah, daß diese Erwartung eines Besuchs durch die Gensdarmen nicht in Verbindung mit dem neuen Hauseinwohner und der Ursache des Brandes stand, forschte dann auch nicht länger und begnügte sich eingesehen zu haben, daß auf alle Fälle sein Plan, Bickerten weiter zu entführen, von ihm zu beschleunigen war …

Um nach Witoborn zu kommen, nahm er den Feldweg und über die Kirchhöfe hinweg …

Auf das vergoldete Holz und Gestein, auf die welken Kränze, hier und da auf die grünen Hängetannen[149] blickend, sagte er sich: Der Abend deines Lebens ist längst da und wie kommst du noch einmal in deinen letzten Stunden zu solchen Dingen! Längst dem Leben entrückt, kannst du vom Abenteuer nicht lassen! Sonst, unter dem milden Pater Henricus ganz nur den stillen Werken des Klosters hingegeben, regt dich jetzt dieser schroffe und gewaltthätige Pater Maurus auf, läßt dich umirren wie einen verstörten Geist, treibt dich an die Bahre deines bösesten Feindes, des Kronsyndikus, nun gehst du schon mit Nachtunholden, die der Irrsinn und das Verbrechen aufscheucht! Vielleicht fliehst du wirklich noch mit Klingsohr in den hohlen Eichstamm und verbirgst dich vor den Gesetzen der weltlichen Obrigkeit und flüchtest dich in die den Franciscanern erlaubte Alcantariner Regel, die ein Heiliger stiftete, der vierzig Jahre lang nur knieend schlief, der in die Speisen, wenn sie ihm zu gut dünkten, Asche warf, der der Zeitgenosse Karl's V. im Kloster St.-Just, der heiligen Therese und – des Don Quixote war! … Sonst stand Hubertus bei jedem Kinde, das ihm begegnete, still und konnte mit ihm plaudern, heute hafteten seine Gedanken nur an dem Namen Lucinde, Picard, Terschka – Von diesem letztern glitt noch alle Annäherung ab, wie Stahl vom spiegelglatten Eise … So verloren in seinen Gedanken war er, daß er selbst den freundlichen Mann nicht sofort erkannte, der beim Austritt aus dem Wege zwischen den Kirchhöfen auf die Wallanlagen von Witoborn ihm in einem Einspänner, auf Schloß Westerhof zu vorüberjagend freundlichst nickte … Der kleine Mann in einem blauen, am Kragen mit Pudelpelz besetzten[150] Mantel, aus dem die weißesten Vatermörder wie Bram- und Reffsegel lugten, war Löb Seligmann, der vielgeschäftige Gütermakler, der neulich neben dem hochgemuthen Küfer gestanden hatte, als dieser sein Todtengericht hielt … Hubertus wandte sich links den Mühlen zu, die von dem Witobachgrund herüber schon mit Donnerton hörbar wurden … Es that ihm wohl, diese wilde Musik zu hören, die vorzugsweise durch die mittlere Mühle, ein gewaltiges an einem alten Thurm gelegenes Werk, hervorgebracht wurde; unmittelbar war noch ein weitrauschendes Wehr benachbart, das gestellt und dann in andere Abzüge gelenkt werden konnte; selbst im Winter fror hier nicht die Witobach …

Aus diesem Thurm heraus kam in weißen, gleichfalls vom Brande Spuren tragenden Müllerkleidern Hedemann …

Beide begrüßten sich, ohne sich vor dem Lärm des Wassers und der Mühle verständigen zu können …

Hedemann sprach vom Landrath, vom Brande; aber Hubertus mußte den Kopf schütteln. Mindestens dreißig Schritte weit hatten beide über schmale und glatteisende Stege hinwegzuschreiten, um eine Stelle zu gewinnen, wo sie sich verständlich machen konnten …

Der Landrath war noch in dieser Nacht gestorben …

Sein Diener kam vom Schloß, erzählte Hedemann, und holte ihn ab … Dann wurde es immer schlimmer und schlimmer mit ihm … In seiner Erschöpfung blieb er und so hat er denn die ewige Ruhe …

Was an der Ehre nagt, geht langsam, aber es trifft … konnte Hubertus hinzufügen nach den Verhältnissen, die[151] er kannte … Für Bickert und Lucinden schien ihm diese Wendung besorglich … Wie leicht konnte nun der junge Enckefuß selbst erscheinen …

Vom Brand erzählte Hedemann mancherlei, was zwar schon Hubertus wußte, sich aber doch berichten ließ, – um alles noch nach anderer Auffassung zu hören … Die Volksmeinung wollte sich noch immer für den in der Kapelle zurückgebliebenen Kohlentopf entscheiden … Im Laboratorium war nichts versehrt … Gerade dorthin hatte man das Archiv geborgen bis auf einige Schränke, die verbrannt sein sollten …

Die Glocken läuteten von allen Seiten … Die kirchen- und altarreiche Stadt wurde zu den vielen stillen Messen gerufen, die täglich vor der einen täglichen großen gelesen werden …

Ins Münster mußte man niederwärts steigen … In eine alte Vorkapelle führten erst mehrere Stufen … Hier standen Grabmäler und Standbilder aus ältester Zeit … Dunkelbraun und schwarz und lichtlos unheimlich war alles; dem Innern des Münsters selbst fehlte nicht das Licht … Die Fenster waren nicht bunt … Pracht und Kunstliebe zeigte sich wenig … Nur der Hochaltar, der fast schon in der Mitte der Kirche begann, trug Embleme Jahrhunderte alter Auszeichnungen … Messen wurden hie und da in Seitenkapellen gelesen …

Hubertus wandelte, an jeder dieser Kapellen sich verneigend, auf dem steinernen Estrich lautlos dahin und forschte in den Betstühlen nach einer Knieenden in schwarzen Kleidern, die er unfehlbar anzutreffen erwarten[152] durfte … Von den Vorgängen auf dem Schlosse des Grafen Münnich konnte er nichts wissen …

Eine der Bänke zum Knieen nach der andern musterte er … Mit dem Schein eines bloß äußern Interesses durfte er nach seinem Stande nicht in dem heiligen Bau umherwandeln … Seinen Rundgang mußte er durch ein Niederknieen da und ein längeres Beten dort an den Kapellen erklärbar finden lassen …

Den Grad seiner aufrichtigen Verehrung vor den Heiligen kennen wir nicht … Wir sehen nur, daß er hinter der Andacht der Uebrigen nicht zurückbleibt … Wer ihn beobachtete, konnte annehmen, daß er durch die ganze Kirche, wie dergleichen oft geschieht, in dieser Form einen Rosenkranz abbetete …

Lucinden entdeckte er nicht …

Schon waren rings in den Kapellen die Wunderaugenblicke der »Wandlung« vorüber, schon konnten die murmelnden Priester nahe bei ihrem: Ite, missa est! angekommen sein …

Da fiel neben der letzten Kapelle und schon dicht wieder am Eingang sein Blick durchs Fenster auf einen eben vorrollenden Wagen, dessen Kutscher eine Livree trug, die ihm als die gräflich Münnich'sche bekannt war … Sollte er dort vielleicht eine Erkundigung einziehen? …

Wie er im Begriff war, die Kirche zu verlassen und der düstern Vorkapelle sich zuzuwenden, begegnete ihm eine tiefverschleierte schlanke Gestalt, einen schwarzen Mantel von schwerem Pelz übergeworfen – wofür hatte die gute Wally Kattendyk nicht alles gesorgt! –[153] den Sammethut zierte eine niederwärts gehende geschwungene Reiherfeder … Das waren ja die Formen, die er suchte …

Ein kurzes Zucken und Stillstehen der an ihm Vorüberschreitenden bestätigte seine Voraussetzung …

Wohl konnte Lucinde auf den ersten Blick sehen, daß die Messen bald vorüber waren … Aber auch stille Gebete genügten für ein längeres Verweilen in der Kirche … Sie mußte es sein … Hubertus, der sich an den mächtigen Pfeilern des mittlern Schiffs hin nachschlich, bemerkte, wie sie die entlegenste Gegend der Kirche suchte, einen Seitenwinkel mit kleinen runden Fenstern, wo ein alter Taufstein stand … Alles war in diesem kleinen Viereck dunkel und still … Hier kniete die Angekommene nieder und zog ihr Brevier …

Auch Hubertus warf sich drei Schritte von ihr zu Boden …

Das Schreckliche ist geschehen! murmelte die Beterin mit offenbar zitternden Lippen vor sich hin …

Hubertus rückte näher …

Was wird kommen? fuhr sie mit angsterfüllter Stimme fort …

Hubertus, der sich in diese wunderliche Form der Zwiesprache nicht sofort finden konnte, erzählte das in dieser Nacht von ihm Erlebte … Oft mußte er dabei in seinem Bericht innehalten, denn bald ging ein Meßner vorüber, bald ein Geistlicher, bald ein Singknabe, der von hier zum Orgelchor stieg … Die Vorübergehenden mußten denken: Zwei Seelen das, die sich heute dem heiligen Ansgarius gewidmet haben! Denn gerade der[154] Bekehrer der Friesen und erste Bischof von Bremen stand über ihnen …

Bremen war freilich in minder geweihtem Sinn das Endziel der Hubertus'schen Mittheilung …

Lucinde sagte:

Geben Sie doch in diesem Fall jede Rücksicht auf die Gesetze preis! Was ist denn überhaupt Strafe? Was wollen Sie der Obrigkeit ihre Sorgen erleichtern? Wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß diese Brandstiftung aus dem Gehirn eines gewiß einst seiner Strafe nicht entgehenden Bösewichts entsprang, aber ehrliche Leute in Verdruß bringen kann, so glauben Sie mir's! Entfernen Sie diesen Menschen auf ewige Zeiten aus dieser Gegend, ja aus unserm Welttheil! Welche Macht Sie auch über ihn gewinnen, Sie finden einen mit abergläubischer Schwäche gepaarten verstockten bösen Sinn, den Sie zu heilen und zur Besserung zu führen nur die kostbare Zeit verlieren! Seine That mag Gott richten! Theilweise hat er sie ja schon selbst gebüßt durch seine Beschädigung und gesühnt sogar durch Aufopferung! …

Hubertus hörte in dieser Rede alles wieder, was er von Klingsohr über Lucindens wilde Natur wußte …

Noch machte er gegen die mächtig bestürmende Kraft ihrer Worte die Einrede:

Aber der Schurke legte Feuer an! Was war seine Absicht? Welchen Gewinn konnte er daraus ziehen?

Hinderten ihn nicht vielleicht die Umstände am Stehlen? flüsterte Lucinde. Untersuchten Sie, wo er etwas geborgen hat, was er sich aneignete? Mit diesen[155] Forschungen wird jede Stunde mir und andern verderblich und ich schwöre Ihnen, Sie erhalten einst die Aufklärung – ich würde sie Ihnen schon jetzt geben, wenn – Sie ein Priester wären!

Der Laienbruder mußte in diesem Augenblick ein Gebet murmeln. Denn die rings stehenden Bilder der Heiligen lockten auch andere Beter an … Schon befürchtete er, daß eine daherkommende und jetzt still stehende Dame neben ihnen Platz nehmen würde … Wie war sie zu verscheuchen? Er sah sie mit seinem Todtenkopfantlitz aus der Kapuze, die er über sich gezogen hatte, an; da erschrak sie, daß sie zurückfuhr und sich entfernte … Es war Frau von Sicking selbst gewesen … Sie hatte Lucindens Anwesenheit draußen vom Kutscher erfahren, der das Fräulein in erster Morgenfrühe zu ihr zurückbringen sollte … Sie erkannte den Mantel Lucindens und die Reiherfeder … Anreden durfte sie die Betende nicht … Der schreckhafte Mönch vertrieb sie in der That zu einem Altar, der den Schmerzen Mariä gewidmet war … Sie liebte Gottes Wort in einnehmenderer Erscheinung …

Lucinde hatte ein scharfes Auge … Sie erkannte Frau von Sicking nur etwas von der Seite aufblickend … Mit bebender Stimme sprach sie zum heiligen Ansgarius:

Ich lasse Sie nicht, wenn Sie mir nicht versprechen, die Gefahr noch heute zu entfernen! Diesen Menschen vor allem, so weit Sie können! Unbekümmert um seine ruchlose That sollen Sie ihm die Mittel zur Flucht gewähren![156] Ist Ihnen dieser Mensch noch vor kurzem von Werth gewesen, warum wollen Sie ihn jetzt aufgeben?

Hubertus murmelte ein Gebet, denn Lucinde mäßigte sich nicht …

Warum antworten Sie nicht? unterbrach sie ihn. Sie wissen doch wol, was weltliche Gerechtigkeit ist! Sie, der Sie Ihre Liebe geopfert bekamen, ohne den lachenden Triumph der Mörder gestraft zu sehen! Erst die göttliche Gerechtigkeit strafte die Buschbeck … Waren Sie nicht der gottberufene Richter des Paters Fulgentius? … Den Kronsyndikus strafte Gott dadurch, daß er den gefürchtetsten Tyrannen zum Kinderspott machte … Hat Klingsohr eine Schuld auf sich, so sehen Sie ja sein tägliches Elend … aus dem ich übrigens Sie und ihn befreien will …

Hubertus betete … Diese Seele riß zu ungestümen Thaten hin …

Sie können Frost und Hitze ertragen … Sie werden dem Pater Sebastus zur Seite stehen müssen, wenn er nach Rom – ohne – Schuhe gehen will …

Kennen Sie – auf dem Schlosse – Wenzel von Terschka? … fragte der Mönch, dieses Mädchens entschlossene Rücksichtslosigkeit zu allem für fähig haltend und zunächst in der That nur um ihrem Drängen auszuweichen …

Unwillig über die unerwartete Querfrage, schwieg sie …

Kennen Sie die Herkunft dieses Mannes, den ich nannte? wiederholte Hubertus …

Was soll das? … Das ist ein Cavalier aus Wien … ein Böhme …[157]

War der Mann nie in Rom?

Lucinde schwieg und wiegte ungeduldig den Kopf …

Sie kommen nicht selbst auf Westerhof? …

Doch! … Ich denke … warum? antwortete sie endlich …

Hubertus überlegte, ob er nicht Lucinden zur Vertrauten des Interesses machen sollte, das er, wie an Bickert, so auch an Wenzel von Terschka nahm …

Frau von Sicking's Andacht mußte eben gestört worden sein … Sie erhob sich und blickte auf die noch immer Betende, deren Geflüster ihr nachgerade auffallen konnte …

Als sie näher kam, hatte wieder Hubertus kein anderes Mittel, sie zu entfernen, als seinen Blick … Frau von Sicking ging an einen andern Altar …

Ich beschwöre Sie, betete Lucinde, verlieren Sie keinen Augenblick! Jeder Moment des Zögerns ist verderblich –

Wollen Sie mir nur eines versprechen? – mußte Hubertus, und jetzt fast, der äußern Umgebungen wegen, nothgedrungen, sagen … Sie haben mächtige Verbündete, große Beschützer … Wollen Sie für uns sorgen, wenn wir in den Orden der Alcantariner treten und unbeschuht nach Rom entfliehen?

Lucindens eigene Wege deuteten schon lange nach Rom … Sie kämpfte einen Augenblick, sagte dann aber doch – so mächtig fühlte sie sich in ihrer Anlehnung an Nück: –

Ich verspreche es Ihnen!

Nun erklärte sich Hubertus bereit, daß er sofort einen Wagen suchen wolle, mit dem er Jean Picard nordwärts den Bergen zu fahren könne … Aufklärungen[158] über die Absicht des Verbrechers würde er nicht früher begehren, als bis er in Sicherheit wäre … Durch den Preis, den er in Aussicht stellen würde, nach und nach die Erbschaft zu gewinnen, hoffe er, sprach er, ein Mittel in der Hand zu haben, ihn in Amerika festzuhalten und zu einem tugendhaftern Leben zu führen … Das Geld befinde sich noch auf dem Gericht in Witoborn und könne ihm vielleicht am besten durch einen Advocaten zukommen … Hubertus nannte den auch hierorts allbekannten Nück …

Nein, nein! lehnte diesen Namen Lucinde ab …

Hubertus hatte kein Arg und erklärte, sich auch sonst wol helfen zu können …

Damit erhob er sich und ließ die Beterin allein, die es auch ihm wie so vielen – »angethan« hatte …

Allmählich erhob Lucinde ihr Haupt von dem Pult, vor dem sie kniete, schlug erschöpft ihr Brevier zu und trocknete die in der That von Angsttropfen befeuchtete Stirn …

Sie hatte die Nacht nicht eine Stunde geschlafen …

Frau von Sicking riß sich aus ihrer Anbetung los und schloß sich Lucinden an, die wie aus einem Traum erwacht sie begrüßte …

Beim Austreten aus dem Münster erzählte sie, daß sie bei Gewittern und Feuersbrünsten in einen Zustand gerathe, der sie zwänge, sich in den dunkelsten Winkel zu flüchten … Sie wäre in dem gestrigen Tumult aufgesprungen, hätte sich im ersten besten Zimmer eingeschlossen, auf alles Rufen und Klopfen keine Antwort geben können, bis erst im Schlosse alles still geworden und der Feuerschein nachgelassen hätte … Dann hätte sie ihren Versteck verlassen. Die Gräfin Münnich hätte sie gezwungen,[159] die Nacht auf dem Schloß zu bleiben; doch schon in aller Frühe wäre sie wieder aufgebrochen … Sie hätte das Gelübde gethan, sämmtlichen Altären des Münsters nach der Reihe ihre Verehrung zu bezeugen … Darum auch wäre sie zuerst in den Münster gegangen …

An alledem war nichts Unwahres, aber Frau von Sicking hatte gestern doch schon manches über Lucindens Vergangenheit erfahren und war heute von einiger Zurückhaltung. Ihre Erzählung der Vorfallenheiten auf Schloß Westerhof, während beide im eigenen Wagen auf ihre Besitzung zurückfuhren, hatte die geheime Absicht, den frühern Beziehungen Lucindens zu Gräfin Paula näher zu kommen …

Lucinde merkte dies allmählich, merkte auch die der Gräfin Paula nicht eben günstige Gesinnung der Frau von Sicking, die mit großer Schärfe urtheilen konnte … Als sie Lucinden zur Chocolade festhielt, immer wieder von Paula und den zweideutigen und höchst »incorrecten« Visionen derselben begann, fiel ihr eine seltsame Beleuchtung auf die Pracht und Herrlichkeit dieser Niederlassung, auf die Teppiche, über die sie hinschritten, auf die kleinen verwickelt angelegten Cabinete mit gothischen schwarzen Möbeln, bilderbeladenen Wänden, auf die mit rothem Sammet überzogenen Betschemel … Die Frau ist neidisch auf Paula wegen Bonaventura! sagte sie sich … Wo sieht sie ihn denn? Fährt sie deshalb so oft zu Müllenhoff? …

Frau von Sicking wollte gegen Mittag nach Schloß Westerhof zur Condolenz und forderte ihren Besuch auf, sie dorthin zu begleiten …[160]

Die eben auf einem silbernen Plateau überreichte neueste Post für Frau von Sicking gestattete Lucinden ihren Zorn und das Erglühen ihrer Wangen zu verbergen …

Bei alledem aber, durch den ihr vom Himmel geschenkten Beistand des Laienbruders, durch – auch ihre Zähmung des »Bruder Abtödters« doch ermuthigt und auf ein günstiges Verlaufen aller dieser Gefahren hoffend, warf sie schon voll Uebermuth auf ihrem Zimmer ihr Brevier hin, wie – die Schöne, die vom Ball kommt, ihren Fächer, hinter dem sie eine Eroberung machte …

Zur Wiederbegegnung mit Bonaventura und Paula interessirte sie sogar der mit Cherubimköpfen umrahmte Spiegel …

Sie fand aber ihr Aussehen doch noch zu angegriffen, als daß sie schon heute diese Scene wagen sollte.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 134-161.
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