19.

[161] Auch diesen beiden aus Witoborn zurückkehrenden Damen war im Vorüberfahren ein Gruß gespendet worden aus dem von Westerhof schon wieder heimkehrenden Wägelchen jenes gewissen Mannes im blauen Mantel mit dem schwarzen Pudelkragen …

Löb Seligmann grüßte in der allerglückseligsten Laune …

Hatte er auch in verschiedenen Spiegeln der Gegend, die er im Lauf dieses Winters und vor dem Frühjahr nicht mehr verließ, beim Rasiren seines Barts, beim Kämmen und Ansingen seines wolligen Haares eine nicht gewöhnliche Anzahl von grauen Löckchen bemerkt; doch kamen sie nur als ein zufälliger Tribut an seine Jahre, nicht als Folge von Kummer und Sorge …

In der von so mannichfachen Aengsten und Bedrängnissen erfüllten Sphäre, die wir schildern, war er die zufriedenste, frohste, vielleicht die einzige »gesunde Natur«, wenn nicht am Körper doch an der Seele …

Das Vertrauen, das ihm zuerst Terschka schenkte, das sich dann dem ganzen Adel der Gegend mittheilte, gab ihm einen Schwung, der nur von jener ihm manchmal eigenen Rührung über sich selbst gemildert wurde …

Aber sogar diese Anwandelungen der Wehmuth wie sonst[162] beim Hinblick auf Kocher am Fall, auf den Korb der Hasen-Jette, auf die schwachen Beine David's, auf die Blüte des Ghetto, Veilchen, die unter der Geldgier seines so unpoetischen und ihm unähnlichen Bruders Nathan schmachtete, kamen ihm jetzt seltener. Nur der hierortige Mangel an Opernmusik, die sonst seiner Seele ein so nothwendiges Labsal war, war eine Lücke in seinem Dasein. Von der classischen Anmuth der Arie: »Ha, das Gold ist nur Chimäre!« war er musikalisch tief überzeugt – die Textesworte unterschrieb er bei seinen gegenwärtigen glänzenden Einnahmen weniger – aber er mußte sie sich allein trällern.

Die Eroberung dieses gewissenhaften Kenners der Ackerkrume, der Ertragsfähigkeit der Güter, der einschmeichelnden Ueberredungskünste bald beim Bauer, bald beim Edelmann verdankte Terschka dem Vormittag auf der Villa des Herrn Bernhard Fuld in Drusenheim. Er ließ ihn nach Witoborn kommen und »schlachtete«, wie der Kunstausdruck lautet, bereits im voraus die Güter des Grafen Hugo ein, noch ehe die Uebergabe in allen Formen erfolgt war. In Terschka hafteten aus den Lebenssphären seiner frühesten Kindheit andere Eindrücke vom Judenthum, als er sie durch Löb Seligmann empfing. Heyum Picard und – Löb Seligmann! … Letzterer mit den rührendsten Gleichnissen und Sprüchen aus dem Talmud, die ihm Gewinn auf Kosten der Ehrlichkeit verboten –! Löb citirte sie zuweilen mit einer gewissen jungfräulichen Verschämtheit … »Wir haben ein Sprichwort, Herr Baron –!« Das die stehende und mit Erröthen gesprochene Phrase, mit der Löb ein solches Citat aus dem Talmud anbrachte – wie einen Traum aus der Menschheit kindlichsten Tagen …[163]

Eine wunderbare Kunst besaß Seligmann, alle Verhältnisse, in die das Leben ihm einen Einblick gestattete, – bis auf den Grund auszukosten. Selbst einen so entschieden negativen Umstand, wie den, daß Armgart von Hülleshoven damals, als er sich die Rettung der kleinen Pensionärinnen von Lindenwerth vor Wassersfluten so angelegen sein ließ, unter den zur Villa Dahinwatenden nicht anwesend war, benutzte er zur Anknüpfung einer Bekanntschaft, ja zu dem seelenvollsten Genuß, Nachgenuß der Thatsache: Also, Fräulein, Sie waren damals nicht dabei! … Dabei sein Auge! … In seinem Gemüth blieb's eine Nachbetrachtung mit den schmelzendsten Accorden … Angelika Müller, die kannte er aus der Dechanei und die hatte er damals gesprochen und demzufolge besuchte er Püttmeyern – und Grützmacher hatte einst bei Witoborn als Gensdarm gestanden und demzufolge sah er sich dessen ehemalige Wohnung und Stall an und knüpfte die Bekanntschaften seiner Nachfolger an und – Also das ist ein Vetter von Ihnen? und ein einziges seelenvoll so durchempfundenes Verhältniß, erleichterte es auch sein Geschäft, das eben im Couragemachen zu Veränderungen und Expropriationen gemüthlich werthgewordenen Eigenthums bestand, so war es das doch nicht allein, was er dabei suchte … Benno von Asselyn, mit dem er hier oft zu thun hatte, Benno, der ihn für seine Güterschlachterei als Student aus dem Roland »geschmissen« hatte, Benno war ihm eine lockerer Bekanntschaft von einem Heimatsgefühl, von einer Seelenerquickung, als sänge, da er ihn zum ersten male hier sah, sein ganzes Sein: »Ich komme aus der Normandie!« … Ebenso elegisch betrachtete[164] er Thiebold de Jonge … Ebenso Hedemann; auch »unbekannterweise«, aber um seines Sohnes willen, den Landrath von Enckefuß, an dem ihn seine Geldverlegenheit um so mehr rührte, als er, gelegentlich von diesem um Hülfe angesprochen, bedauerte erklären zu müssen, daß er »Geschäfte dieser Art« nicht mache … Mit Bonaventura vollends trat ihm die ganze alte Kathedrale von Sanct-Zeno in Kocher am Fall wie im Mondlicht entgegen; das Sterbebett der Nachbarin Ley; Treudchen und mit ihr der Blumenstrauß, den er an jenem Morgen für Veilchen gekauft hatte … Alles das hob ihm Seele und Gemüth …

Mit besonderer Andacht besuchte Löb das große Dorf Borkenhagen. Er betrachtete sich von allen Seiten jenes Pfarrhaus, wo »denn also« Leo Perl, sein leiblicher Vetter, abgefallen vom Glauben seiner Väter, gelebt hatte und gestorben war … Er betrachtete die Fenster, die Walleinfriedigung, den Brunnen und die Scheuer dieser Wohnung mit einem so elegischen Rückblick, daß der jetzige Pfarrer das Fenster seines Studirzimmers öffnete und ihn fragte: Wünschen Sie etwas? … Durch seine Seele zogen sich bei diesem rauhen Anruf alle Töne des Gefühls unverdienter Kränkung, die nur jemals sein angebeteter Bellini componirt hat …

Von Veilchen wußte er über Leo Perl so viel Wunderbares … Perl war ein Freidenker und doch – ein Kabbalist gewesen. In Paris hatte er in alten Pergamenten studirt und trotz Voltaire eine schreckhafte Geisterwelt anerkannt. Nun erschien ihm Leo Perl wie einer jener Rabbis, die durch gewisse Zahlenzusammenstellungen, die sie einer thönernen Figur auf die[165] Stirn schreiben, diese lebendig machen. Eine solche Figur dient dem Zauberer, verrichtet ihm alle Geschäfte, macht das Schwierigste möglich und begehrt keinen andern Lohn dafür, als gut zu essen und zu trinken. Wischt dann ein Zufall die Zahlen von der Stirn des »Golem« oder der Rabbi vergißt eine gewisse Formel, so wird das Thonbild zum leibhaften Teufel und hat schon manchen Nachts im Bette erdrosselt. Gott – so immer kam ihm die Erinnerung an Leo Perl! … Das war nun da die Kirche, wo dieser, ein Jude, celebrirt hatte! Das war nun da der Friedhof, wo er begraben lag! … Und das waren die Lehmhaufen, aus denen er sich allenfalls so einen Golem hätte bilden können! …

Im Kloster Himmelpfort, hieß es eines Tages im Wirthshause, lebten noch Mönche, die den Pfarrer Perl näher gekannt hätten … Mit diesem Kloster kam Löb durch einen Besuch in Verbindung. Vor noch nicht acht Tagen wurde er in Witoborn »Bei Tangermanns«, durch den Küfer Stephan Lengenich überrascht. Der »Gerechtfertigte« kam wieder aus dem Gefängnisse, das er jetzt wegen seiner Betheiligung an jener Versammlung im Roland hatte als Strafe für geheime Verbindungen verbüßen müssen. Der vierschrötige, feierliche, exaltirte Mann trat in einem großen kaffeebraunen Mantel bei ihm ein und gab sich in so fragwürdiger Schreckhaftigkeit, daß Löb Seligmann unwillkürlich an eine seiner Lieblingsopern »Zampa« und das erste Auftreten des furchtbaren Räuberhauptmanns denken mußte … Der Küfer kündigte ihm an, daß er sein Begehren nach dem Stück Tuch vom Jagdrock des Kronsyndikus (der bei[166] seiner Ankunft noch lebte) zwar für einige Zeit durch Veilchen's Beredsamkeit hätte fallen lassen können, aber nicht für immer und am wenigsten für jetzt, wo er seit einem halben Jahr schon wieder die ganze Schwere des Unrechts dieser Welt und der Nichtrechtfertigung vor Menschen hätte erfahren müssen. Er verfluchte den Verführer Hammaker, der seinen Lohn gefunden. Er bereute den Verkauf des Blutackers in Drusenheim. Er war ganz in jener volksthümlichen Rachestimmung, die bei solchen Gelegenheiten unter welthistorischeren Bedingungen zu Masaniellos, John Hampdens und Andreas Hofers machen kann, in unserm Leben, wie es so kommt und geht, leider nur zu commandirenden Spritzenmeistern. Stephan Lengenich wollte zu näherer Auskunft über den Tuchstreifen ins Kloster zu dem Mönche Sebastus. Zitternd und doch voll hohen Interesses hörte Löb Seligmann die Proposition, ihn dorthin zu begleiten. Die wildesten Racheklangfiguren aus »Fidelio« und »Lucrezia Borgia« tanzten vor seinem Ohr und Auge …

Glücklicherweise – so kann man hier wol sagen und da leugnete Veilchen die unmittelbare Vorsehung! – war der Kronsyndikus schon in den nächsten Tagen gestorben und Stephan Lengenich knirschte nur mit den Zähnen. Er kam, um einen Proceß gegen den Kronsyndikus einzuleiten. Eine festliche Einholung in die Keller der Moppes'schen Weinhandlung, wo ihm seine unterirdische Stellung verblieben war, hatte er um diesen Proceß verschoben. Nicht eher wollte er mit Blumen geschmückt wie Bacchus auf einem Fasse in die Keller getragen werden unter Männergesangbegleitung – der junge Moppes[167] hatte selbst eine Cantate dazu componirt – als bis er, endlich im Besitz des Tuchstreifens, zum Landvogt gesagt: »Schließ' deine Rechnung mit dem Himmel, denn deine Uhr ist abgelaufen!« Nun war die Uhr abgelaufen … Stephan Lengenich sprach mit Advocaten, die ihm keine Ermuthigung gaben. Seine »Entlastung« konnte er nur an der Eiche selbst vollziehen …

So besuchte denn Löb Seligmann mit ihm das Kloster Himmelpfort, um auf alle Fälle den Streifen Tuch von Klingsohr zu fordern. Beide trafen den Pater auf dem Krankenbett. Siech und elend blickte er sie an. Vor dem Küfer, gegen den er einst falsches Zeugniß abgelegt hatte, schlug er die Augen nieder. Auch auf Löb Seligmann besann er sich; er hatte ihn einst trotz seiner Verehrung vor dem Judenthum in der Theorie, in der Praxis beim Zinngießer Klingelpeter zur Thür hinausgeworfen. Bekannt war ihm, daß Seligmann die Brieftasche bei Nathan, seinem Bruder, in der Rumpelgasse gefunden und von der Einlage dem Küfer Kunde gegeben hatte …

Seligmann führte das Wort und erzählte, daß nur bisher durch Veilchen's Beredsamkeit, dann durch eine neue Haft, der Küfer in seinem Verlangen nach jenem Tuche wäre aufgehalten worden, nun aber begehre er dasselbe aufs bestimmteste von ihm. Klingsohr hatte eben die Kunde vom Tod des Kronsyndikus erhalten und gab das Tuch und ließ geschehen was wollte. Er fragte nach Veilchen. Löb erzählte von ihrer Güte und Milde. Klingsohr erwiderte:

Euch Juden steht es besser an, wenn ihr dem Shylock gleicht! … Da Stephan Lengenich! Macht damit was[168] Ihr wollt! Auch aus mir – und – meinem falschen Zeugniß! …

Dumpfe Stille in dem Kämmerlein … Der Mönch wandte dem Besuch den Rücken und streckte sich, lang wie er war, gegen die Mauer auf sein Lager … Stephan Lengenich kannte sein Schicksal. Er sah in Klingsohr einen Gefangenen der Regierung, einen gottesfürchtig gewordenen Mann, den man verhinderte, für die Sache der Kirche zu wirken … Ihn seines falschen Zeugnisses wegen jetzt noch zu verklagen verbot seine ganze Stimmung … Auch würde ihn die Kunde, er hätte bei weltlichen Gerichten einen Mönch des Meineids beschuldigt, daheim um seinen Triumph gebracht haben …

Pater, sprach er, Sie haben mir viel bitteres Leid angethan, durch das Unterschlagen dieses Tuchs vom Rock des Mörders Ihres Vaters, das ist wahr – jahrelang … Aber ich – ich höre, die Regierung hat Sie mit Gewalt hieher geschickt …

Löb Seligmann zitterte vor den Wirkungen, die dies theilnehmende Wort hervorbringen konnte …

Seligmann! …

Herr Lengenich! …

Sie schwören uns –

Gott im Himmel! …

In der That wurde eine Flucht besprochen … Warum sollte der Küfer den Pater nicht nach Lüttich befördern helfen zu den Vätern der Gesellschaft Jesu?

Seligmann gab jede Versicherung, die Großmuth des Küfers zu ehren, aber – er mußte mehr erleben … er war außer sich, als die Verabredung getroffen wurde, daß[169] an zwei einsamen Pappeln, die Sebastus von seinem Lager aus bezeichnete, in der Dämmerung und am Tage des Leichenbegängnisses Lengenich's Wagen stehen sollte – dieser war mit eigenem Fuhrwerk gekommen … Erst als Klingsohr zu Löb sagte: Sind Sie denn feiger, als ein Mädchen? Meine Flucht war ja von Ihrer – neuen Deborah veranstaltet! gab er nach … Veilchen hatte allerdings, selbst hinterm Ofen noch, etwas vom Geiste der Deborah …

Die Flucht scheiterte, wie wir wissen, an der Akustik der Krankenstube des Klosters … Stephan Lengenich hatte seine Rede an der Eiche im Düsternbrook gehalten, hatte, wie sich an alles Erhabene so leicht der Schnörkelstrich des Lächerlichen knüpft, die Unterbrechung durch die Possen Stammer's erleben müssen, hatte die Genugthuung sowol der Unterstützung des Mönches Hubertus, wie der ihre Falschheit entlarvenden Ohnmacht jener Lisabeth, die ihn verrathen, verrathen um eine goldene Uhr, zu der sie schon lange mehr als eine Kette trug … Alles Wunderbare war geschehen … Der Zug ging vorüber … Löb Seligmann zog den neuen Wilhelm Tell, der den Ruf des Tyrannen wenigstens noch mit Pfeilen des Wortes erlegt hatte, aus dem Gewirr des gestörten Leichenzuges … Tangermann in Witoborn wurde nicht erst von dem großen Todten- und Weinrichter angeschmeichelt um seine Gelbsiegel, als es galt dem Gelungenen und noch Kommenden zu trinken, er stellte drei Rothsiegel als »die Sorte nicht« zurück, die ihm genügen konnte, seine Zunge zu befeuchten, während er den umstehenden Neugierigen Aufklärungen gab über sein ganzes großartigverschlungenes Lebensschicksal … Im Sturm und zu allen Unternehmungen fähig, fand er[170] sich dann mit seinem Einspänner an den beiden Pappeln beim Kloster ein. Er wartete, wartete zwei Stunden auf den Flüchtigen … Pater Sebastus kam nicht … Er fuhr dann ab, dem Triumphzug in seine Keller entgegen …

Löb Seligmann aber dankte Adonai, als er von diesen Beziehungen zu einem so eigenthümlichen Staatsdemagogen befreit wurde, Beziehungen, in die er sich nur auf das magische Wort »Veilchen« und die Hoffnung wieder eingelassen hatte, im Kloster Himmelpfort würde er Bekanntschaften machen, von denen er etwas über Leo Perl erfuhr …

Selbstverständlich war es, daß er sich einige Tage später die Brandstätte in Schloß Westerhof ansah … Er hatte mit so vielen Adeligen in diesen Tagen zu thun, daß er vom Neuesten als Augenzeuge sprechen mußte … Gerade bei einer Bekanntschaft, die er gemacht hatte, der mit dem Präsidenten von Wittekind und dessen geschäftskundiger Gattin, der Mutter des Domherrn von Asselyn, konnte ihm ein solcher authentischer Bericht die Bürgschaft eines angenehmen Eindrucks sein, falls er, wozu er Veranlassung hatte, sich gerade heute noch auf Schloß Neuhof begab …

Mit Rührung hatte er den Arbeitern, die den Schutt aufräumten, im Wege gestanden; mit betrachtendem Schmerz hatte er sich dem Strahl einer noch immer gehenden Spritze ausgesetzt … Er sah, staunte und schüttelte sich die Tropfen ab … Es war ein förmlicher Einschnitt in die eine Seite des Schlosses entstanden. Links und rechts von der Brandlücke konnte man die offenen Zimmer sehen, wie nach Löb's Phantasie im Theater, wenn »Zu ebner Erde und[171] erster Stock« gespielt wird … Haufen von Büchern, Kisten und Kasten erinnerten ihn an die Rumpelgasse …

Eben trugen Bediente und Arbeiter Körbe voll Schriften nach einem entlegenen Thurm … Baron von Hülleshoven und Baron von Terschka, beide hatten heute kein Auge für ihn. Sie begleiteten die Körbe und hoben auf, was ihnen entfiel … Es waren Schriften und Documente und gewiß lateinische und französische darunter, die – »für David Lippschütz den Ankauf von Schulbüchern ersetzt« hätten … Auch sah sich schon Löb darauf einige an; sie wurden ihm mit Verweisen aus der Hand genommen … »Dulden ist das Erbtheil meines Stammes!« lag in seinen Augen. Hatte er denn diese Bücher heimlich einstecken wollen? … Auch Fräulein Benigna war heute den Umständen entsprechend von mehr abweisendem, als zuvorkommendem Benehmen gegen den Mann der praktischen Ackerwirthschaft … Gräfin Paula schwebte da und dort hinter den Fenstern wie ein verstörter Geist. Er hatte viel von ihren Wundern und Ferngesichten gehört und befand sich darüber, wie seinem Glauben natürlich ist, im Zustande gelinden Zweifels. Ein Gespensterglaube, der sich an das Wunderbare durch Figuren von Lehm gewöhnen soll, die durch ein Zahlengeheimniß die Befähigung erhalten, jeden Freitag mehr als menschlich Schalet zu essen, kann im Gemüth nicht besonders für das Wunderbare stimmen …

Nur Armgart berücksichtigte ihn plötzlich und sogar mit hohem Interesse …

Als sie ihn sah, rief sie ihn voll Schrecken an:

Ha! Haben Sie wol Neues aus Kocher am Fall?[172]

Mein gnädiges Fräulein –!

Ist mein Vater abgereist? Vielleicht schon in Witoborn? Reden Sie doch! …

Mein Fräulein –! …

Seligmann fand sich nicht sofort in die determinirte Frage … Er genoß noch erst die Thatsache der Anrede als solche selbst …

Als er sich dann in die Begebenheit gefunden, glich sein Antlitz den Gesetzestafeln, wie sie aussahen, als Moses auf den Sinai hinaufging …

Armgart ließ ihn, da sein Schweigen nur ein umständliches Vorbereiten auf das Verschleiern seines Nichtwissens wurde, ebenso schnell stehen, wie sie ihn angeredet hatte …

Das kostete wieder einige Zeit des Besinnens und wieder einige Spritzengüsse …

Bei alledem aber doch höchst geschmeichelt und befriedigt von einer so ehrenvollen Aufnahme carriolte er auf Witoborn zurück … Er führte sein halbbedecktes Wägelchen selbst … Es gehörte einem witoborner Kutscher, dem er ein ansehnliches Pfand für die richtige Behandlung des Gauls hatte hinterlassen müssen … Löb verstand sich aber auf alles, was zum Leben des Landes gehört … Er war die seltsamste realistische Natur, die sich zum Ideal verklärte … Sein Wissen und sein Thun erfüllt von Thatsachen der Wirklichkeit bis zum Klee und zum Dünger hinunter und doch sein Fühlen ganz Aether … Seligmann war kein Pantheist oder Spinozist – (die Einwendung, die er einst gegen Veilchen's Pantheismus gemacht hatte, lautete: »Ei Veilchen, der Geist Gottes schwebte doch [173] über den Wassern. Und Sie sagen: Er schwebte in ihnen?« …) aber sein Gott blies alle Instrumente und in der Luft klang es ihm wie Sphärenmusik.

Bei Witoborn wieder angekommen, mußte Löb etwas langsamer fahren, denn die Wallanlagen sind erhöht … Wieder begegnete ihm jener Mönch, der an der Eiche sich so nützlich gemacht hatte … Wieder grüßte er ihn aufs verbindlichste … Für die abschreckenden Gesichtsformen dieses resoluten Mannes hatte er kein Auge – Er dachte an Aufklärungen über Leo Perl … auch über den armen »Feind« von ihm – über Sebastus –

Hubertus ging eine Weile neben seinem Wagen einher und redete Löb an … Er ließ sich von der Brandstätte erzählen … Der Verdacht über den Ursprung des Feuers haftete immer noch an dem Kohlentopf …

Im Hören und Gehen verfolgte Hubertus einen Plan … Als Löb Seligmann in die Stadt einbiegen wollte, bat er ihn, einen Augenblick still zu halten …

Wollen Sie einsteigen? sagte der gefällige und seinen Absichten auf diese Art so nahe kommende Mann und rückte schon zur Seite …

Hubertus sagte, er möchte gern einen Kranken, der hier dicht in der Nähe läge – er wäre beim Brande verunglückt – ins Kloster schaffen … er verstünde sich auf das Heilen von Brandwunden besser, als die Aerzte im Spital …

Aber ich muß auf Schloß Neuhof – entgegnete Löb, theils dem, was er schon merkte, ausweichend, theils gelegentlich auch die Orientirung über seine vornehmen Verhältnisse unterstützend …

Das ist nur ein Umweg! – sagte Hubertus. Sie[174] werden nicht viel um eine Stunde später ankommen … Freilich, setzte er hinzu: Mit einem Kranken muß man langsam fahren …

Und diese Worte kamen so vom Herzen, daß Löb schon gewonnen war. Gott soll dich segnen hundert Jahre! hörte er im Geist seine Schwester sagen …

So stieg Hubertus schon ein und der Gaul lenkte dahin, wohin der Mönch mit den knöchernen Fingern deutete …

Die Kirchhöfe gaben gleich den natürlichsten Uebergang des Gesprächs auf die gemeinschaftlichen Erlebnisse am Düsternbrook, auf den Küfer, auf Pater Sebastus, von dem Löb erfuhr, daß er für seine beabsichtigte Flucht in der Strafzelle sitzen mußte, auch auf den Tod des Landraths von Enckefuß … Hubertus erzählte seine Betheiligung an den letzten Lebensstunden desselben und mehrte dadurch nicht wenig den Anschluß Seligmann's, der sein Selbander zwischen Jud und Christ nicht mit den Empfindungen genoß, die Andere aus Lessing's »Nathan« schöpfen, doch jedenfalls mit manchem wohlthuenden Accord aus »Templer und Jüdin« …

Bald war es Mittagszeit … Löb sprach von einem Wirthshause, wo man in einer Stunde würde füttern müssen … Vor drei, vier Uhr erreichte man beim langsamen Fahren und Einschlagenmüssen von Vicinalstraßen das Kloster nicht …

Hubertus stimmte zu und Löb begann schon von Borkenhagen. Da aber zeigte Hubertus auf das Haus der Mutter Schmeling, vor welchem sie halten wollten …

Sie fuhren einen Seitenweg von der Landstraße ab …[175]

Plötzlich stutzte Hubertus. Er entdeckte einen Gensdarmen, der eben ins Haus der Hebamme trat …

Unwillkürlich fuhr sein linker Arm auf die Kapuze, die sein kahles Haupt bedeckte, und drückte sie tief ins Gesicht … Er fürchtete sein Erschrecken zu verrathen …

Der Wagen hielt und Hubertus wußte eine Weile nicht, sollte er aussteigen, sollte er bleiben … Ein Halbdach bedeckte beide, ihn und Seligmann … Er drückte sich sogar an die Hinterwand zurück …

Kommt der Mann von selbst herunter? … fragte Seligmann, den Grund des Zögerns nicht begreifend, und stemmte seine Peitsche erwartungsvoll auf die Schöße seines blauen Mantels …

Hubertus schwieg, ermannte sich und stieg aus …

Mit Empfindungen, gemischt aus Theilnahme und Urtheil über Religionsunterschiede und Neugier über den Gensdarmen und die ihm unbekannte Hanthierung der Frau Schmeling sah Löb dem Mönche nach, der mit nackten Füßen, dürftig durch die Sandalen geschützt, in die Nebelnässe hinaustrat und zu dem sich verengenden Hohlweg erst nieder, dann aufwärts schritt …

An der Hauspforte blieb Hubertus eine Weile stehen und horchte …

Mutter Schmeling hatte in ihm unbekannten Angelegenheiten Gensdarmen bei sich erwartet … Das wußte er … Aber seiner Besorgniß schien es nun doch entschieden, daß der an den Landrath gegangene Brief in officieller Weise wiederholt worden war …

War der Verbrecher erkannt, wie konnte er ihn da[176] noch der gerechten Strafe entziehen! … Schon ergab er sich und dachte: Arme Lucinde! … So handelte und fühlte er schon im Bann ihrer bestrickenden Ueberredung … So in Erregung schon durch ein abenteuerliches Leben als Eremit und die Flucht nach Rom …

Hubertus hörte die Stimme der Schmeling und das Säbelrasseln des Gensdarmen, der eben die Treppe hinaufstieg …

Je mehr sich dieser von der Schmeling zu entfernen schien, desto lauter erscholl deren Stimme. Jetzt unterschied er deutlich, was sie hinter ihm herrief:

Suchen Sie nur oben! Suchen Sie! Sehen Sie nur, ob bei mir Katzen entbunden werden! Aber daß Sie sich dabei nur vorm höllischen Feuer in Acht nehmen! Teufels Großmutter muß böse Katzen haben! Mies, mies, mies! … Komm Mies und nimm dein Wochensüppchen von dem Herrn Gensdarmen! … Herr Müllenhoff schickt dir's! Komm! – komm! … Unser Kindchen hat zwar die Nothtaufe gekriegt, aber sie ziehen's mit Milch und Wasser auf! Großmutters Mieschen! …

Hubertus, der kaum etwas von einer Katze gehört hatte, als er annehmen konnte, daß doch wol hier eine andere Fährte, als die des Brandstifters gesucht wurde, hatte die Beruhigung, den Gensdarmen, der, als er dann eintrat, schon wieder die Treppe herabstieg, lachend sprechen zu hören:

Schon gut, schon gut – Frau Schmeling! Wir thun eben, was uns befohlen wird! Ich höre und sehe und, was die Hauptsache ist, ich rieche nichts von Katzen[177] bei Ihnen! Nämlich Katzen, die hier gejungt hätten! Schon gut! Schon gut! Ei, da kriegt Ihr ja Mittagsgäste! Wir haben heute alle Hände voll zu thun! … Nun, er ist richtig hinüber, Väterchen! …

Wer? fragte Hubertus, dessen Gedanken nur an Bickert hafteten …

Der Landrath! … Ja so! Den Menschen vom Schloß oben sucht Ihr? … Wetter, das war gestern Abend Euer Meisterstück! … Ich glaub's wol, daß Ihr ihn nicht weiter habt bringen können als bis hieher! …

Frau Schmeling hielt schon inzwischen dem Landrath nicht die erbaulichste Nachrede … Und der Gensdarm schilderte Hubertus' gestrige Rettung des gräflichen Dieners … So ging denn diesem alles gemüthlich und beruhigend …

Inzwischen fiel der immer doch noch nach Katzen spähende Blick des Gensdarmen auf ein junges Mädchen, das in der Küche stand ...

Ei Lene! sagte er erstaunt und fuhr mit zweideutigem Tone fort: Sie hier? Na! das dacht' ich wol, daß es mit Ihr so weit kommen würde! Geb' Sie nur keinen Unrechten an! …

Frauen, wie Mutter Schmeling, sind immer in der Lage, bei vermöglichen Leuten für Ammen sorgen zu müssen und die Lene war ein blitzäugiges schwarzes Ding, das nächstens dazu empfohlen werden konnte …

Ja, sagte die Hebamme höhnisch, auf dem Finkenhof kommt nun bald keine mehr zu Schaden! Der Finkenhof wird ein Betsaal …

Bruder, Bruder, fuhr inzwischen schon wieder dem[178] Mönche zugewandt der Gensdarm fort … Die Leiter so lange frei zu halten, das hätte keiner fertig gekriegt! … Und schon am Morgen bei der Jagd die Noth mit unserm Alten! … Der ist denn also hin … Guter Kerl ist er gewesen, das ist wahr, aber krank war er im Kopf schon lange; vor lauter Ambition! Wir sagten's nur keinem … Als der Kronsyndikus begraben wurde, sagte er noch: Gebt Acht, nun weiß ich, was der arme Tropf mir vermacht hat … Hier auf den Deetz zeigte er … Was steht denn da draußen für ein Fuhrwerk? …

So unterbrach schon wieder der Umsichtige sein Deuten auf den Kopf …

Hubertus sprach ohne langes Besinnen, der Mann im Wagen draußen wolle ihm helfen den Kranken ins Spital bringen …

Herr Seligmann? … Das Fuhrwerk gehört Schöninghs …

Mit diesen ruhig controlirend hingesprochenen Worten war der Scharfspähende in verhallender Rede zum Haus hinausgetreten und schon zum Hohlweg hinunter und auf Löb zu, der ihn mit herabgezogenem Hute begrüßte …

Inzwischen hatte das Lachen und Zanken der Schmeling fortgedauert …

Die Hauptrollen dabei spielten Staat, Kirche, Welt, Zeit, Sitte, Vorurtheil, das Gleichniß vom Splitter und Balken, der Pfarrer zu Sanct-Libori und ein junges Kätzchen, dessen Mutter man bei ihr suchte …

Hubertus war zu beschäftigt mit seinem nächsten Vorhaben,[179] um sich lange bei diesem Zwischenfall aufzuhalten …

Wie geht's denn oben? fragte er, als die Magd ihm den gestern bestellten Speckkartoffelpfannkuchen brachte, dessen Fett- und Zwiebelgeruch das ganze Haus durchduftete …

Suppe hat er und auch ein Stück Fleisch genommen! hieß es …

Nun, dann wird er's ja aushalten können! Ich nehm' ihn jetzt – mit ins Spital oder …

Hubertus murmelte während des Essens und sah sich, scheinbar ruhig, nach der vorerwähnten Lene um, die sich auch vor ihm versteckt hielt …

Jetzt trat sie vor und stand mit kecken, funkelnden Augen vor dem Bruder und setzte dem Kopfschütteln desselben eine leichtfertige Geberde entgegen …

So, so weit also, Lene! sagte Hubertus … Das hätt' ich wissen sollen, als ich dir deine Briefe an den braven Wachtmeister schrieb, der dich heirathen wollte …

Die Lene zog den Mund und ließ Mutter Schmeling reden …

Die Lene ist heilig! kicherte diese. Ja, heilig, sag' ich Ihnen! Wer bei einem Pfarrer gedient hat, der kann gar nicht sündigen …

Hubertus ließ sich auf so leichtfertige Anspielungen nicht ein …

Inzwischen klatschte draußen Seligmann ungeduldig mit der Peitsche … Es fing ihn an zu frieren, zu hungern und – die Zwiebeln und der Speck dufteten wol auch anmuthend zu ihm hinüber …[180]

Hubertus eilte nach oben und war im Begriff, in das Staatszimmer einzutreten …

Als er die Thür öffnete, bot sich ihm ein erschreckender Anblick …

Der Kranke stand im Hemde, mit den beiden eingewickelten Händen in abwehrender Stellung … Furcht und Schrecken auf seinen Mienen … Unfehlbar hatte ihn in solche Aufregung das Suchen des Gensdarmen gebracht, den er im Hause gehört hatte … Zwar hatte der Gensdarm nur die Thür geöffnet und den gräflichen Diener in seiner gestreiften Jacke scheinbar schlafend gefunden und sich mit leichtem Murmeln ohne weiteres entfernt … Aber Bickert war hinter ihm her aufgesprungen und stand jetzt da, wie auf Tod und Leben gerüstet …

Jantje, Jantje! rief Hubertus, indem er sich schon zu einem Handgemeng rüstete … Ihr erkältet Euch ja! …

Wer ist Jantje? stöhnte Bickert, aber mit gesammelter äußerster Kraft …

Ei sieh, sieh, du kannst reden! … Ich dachte gestern – Bei so großem Schreck hat mancher einen Krampf im Kinnbacken weg – zeitlebens …

Schreck? … Worüber? … Wer seid Ihr? … Bringt mich aufs Schloß! … Zu meiner Herrschaft, sag' ich …

Hubertus wußte nicht, ob ihn der stumpfsinnige Mensch nicht mehr erkannte und keine Erinnerung hatte an den gestrigen Tag, keine Erinnerung an seine früheste Knabenzeit, die ihm gestern doch nicht ganz verklungen[181] zu sein schien, oder ob er seinen Absichten mistraute und sich so nur verstellte …

Es ist ja ein Kohlentopf gewesen! sagte er mit Schärfe und drängte damit den vor Kälte Zitternden ins Bett zurück. Jetzt aber ruhig da! Euere Stalljacke hält nicht warm … ich habe unten eine tüchtige Roßdecke … Ja, ein Kohlentopf war's, von dem das Feuer auskam! … Nun, haltet doch nur! … Ich ziehe Euch jetzt an! … So war's nicht immer dazumal, wenn Hayum Picard an der Waldecke stand und pfiff und von der Windmühle pfiff's wieder und Abraham kam und – nein, seine Gevattern können wir nicht von Leon Levi und Moses Ocker sagen – die Taufe kam erst in Brest, wo sie einem dann – haha! – gleich so ein hübsches Pathengeschenk mit auf den Arm brannten … Haltet doch nur! … So zart hat uns freilich die Hanne Sterz dazumal Sonntags nicht geputzt! …

Die Macht aller dieser Worte war niederschmetternd … Der Verbrecher vermochte nicht dagegen aufzukommen … Hubertus würde beim Ankleiden ruhig so haben fortfahren können, die Erinnerungen und das Gewissen des verstockt Niederblickenden zu wecken, wenn nicht vor Ungeduld, Neugier, Nächstenliebe, Anziehungskraft des Pfannkuchens Löb Seligmann auf der Treppe erschienen wäre und sich erboten hätte, den Kranken tragen zu helfen – »Gott! Bei deinen Kräften!« hörte er im Geist die Hasen-Jette sagen … Dem Gaul hatte er die Leine gekürzt und ihn vertrauensvoll stehen lassen …

Auf diese Art konnte Hubertus keine andere Verständigung[182] herbeiführen, als soweit nöthig war, den jetzt Angekleideten zum Folgen zu zwingen … Sich tragen zu lassen widerstand Bickert …

Wohin? murmelte er …

Gott im Himmel! sprach Löb Seligmann, staunend über diese Widersetzlichkeit … Der Mann ist noch im Fieber …

Wohl mußte er über die wilde Miene des Trotzes, über den Widerstand gegen eine Hülfe, die ihm so liebevoll geboten wurde, befremdet sein …

Hubertus führte Bickert und sprach laut:

Daß ich Euch nur da am Arme nicht weh thue! … Da, wo Ihr das Brandmal bekommen habt, Aermster! Ich meine, gestern … Es sieht aus, wie wenn auf dem Arme chinesische Buchstaben stünden … Chinesisch hab' ich lesen gelernt … Ein Jahr später, als wir alle von Mynheer Kattrepel abgeholt wurden – wißt Ihr Vater Kattrepel unterm Dreibein – ich meine – als ich unter die Soldaten nach Java ging … Ja Lene! Lene! … Wachtmeister war ich auch einmal … Und betrogen – das wurd' ich auch! … So aber nicht, wie der brave Spikermann von dir! Leichtsinniges Ding! Laß dir's nur erzählen von Mutter Schmeling! … Frau, rechnet Euch all Euer Gutes vor Gott an – und auch dies Werk der Barmherzigkeit – ich meine, wenn Ihr einmal zur Rede stehen müßt für Euere lästerlichen Reden über den Pfarrer zu Sanct-Libori und uns andere Gottesheilige …

Im Verlassen des Hauses mußte Hubertus den auf dem glatten Boden bergab Ausgleitenden dennoch tragen …[183] Bickert wußte nicht, ging es mit ihm hinter Schloß und Riegel oder zur Freiheit … Wer der Mönch sein konnte, dessen entsann er sich … Dennoch, selbst wenn er ein Gegenstand nur wohlwollender Absichten blieb, erbitterte ihn die Entdeckung seiner Thäterschaft, die er so tief verschleiert geglaubt hatte und von der er auch jetzt annehmen konnte, daß sie hier Niemand außer diesem Mönche wußte … Hammaker, der ihn gedungen und kurz vor seiner Verhaftung mit der Urkunde versehen hatte, war todt – Noch einmal erhob er sich, schlug um sich und rief:

Ich will auf's Schloß! … Zu meiner Herrschaft!

Löb Seligmann fuhr so jählings zurück, daß er fast noch gefallen wäre zum Dank für all seine Menschenliebe … Nur die Kraft und Geistesgegenwart des Mönchs halfen zuletzt zum Ziel … Hubertus setzte den in eine Pferdedecke Eingeschlagenen entschlossen in den Wagen, wies Seligmann vorn auf den Bock, nahm neben Bickert Platz … So fuhren sie alle drei von dannen … Bickert zusammengekauert in der Wagenecke … Hubertus neben ihm, voll Grübeln über seine weitere Hülfe und hinausstarrend in die winterliche Gegend … Löb vorn mit zurückkehrender Heiterkeit und Redseligkeit, die sich um so mehr in kleinen zuweilen geträllerten Liedchen kund gab, als beim Ort Borkenhagen die Aufklärungen über Leo Perl beginnen sollten …

An dem von Löb bezeichneten Wirthshause wurde halt gemacht und der Gaul gefüttert … Auch Löb nahm hier mit Auswahl, was sich vorfand … Hubertus verschmähte trotz seines Pfannkuchens nichts, was ihm[184] noch hier die Küche schenkte … Bickert aber lehnte alles ab … Ja er fing an sich mit dem Gaul zu befreunden … Hubertus blieb in der Nähe, um jede verdächtige Bewegung zu beobachten …

Kennt Ihr mich also jetzt, Jean Picard? fragte er, indem er zu ihm mit einem Suppentopf herantrat und selbst mit dem hölzernen Löffel aß, den er immer bei sich führte …

Bickert sagte, düster die buschigen Augenbrauen zusammenziehend und ihn voll Verlegenheit angrinsend: …

Ich kenne Euch nicht und heiße auch nicht so …

Das wäre schlimm! entgegnete Hubertus. Denn ich bring' Euch in mein Kloster, wo ich gerade für den, dem Ihr so ähnlich seht, eine hübsche Summe Geldes liegen habe … Im Bettstroh, Brüderchen, heben wir uns manches auf …

Der Verbrecher drehte sich vor Unruhe hin und her …

Daß Ihr's brauchen könnt, weiß ich von einem wunderschönen Fräulein … Weiß der Himmel, wie die an Euch gekommen … Ja, es gibt manchmal seltsamen Geschmack … Aber Amerika ist weit und einen guten Platz wollt Ihr doch auch haben, wenn Ihr zu Schiff geht, nicht einen, wo immer drei auf zehn sterben … Särge gibt's auf dem Wasser nicht, das wißt Ihr … Wer draufgeht, ins Wasser! … Ganz so nackt, ganz so kahl, wie dazumal, wißt Ihr, der Todte war, dem ein Teufel seine letzte Ruhe störte …

Bickert erhob sich starr …[185]

Rollt Ihr so die Augen? … Im Mondschein hab' ich vielerlei gesehen, Löwen und Tiger … Auch Menschen, die sie zerrissen hatten … Aber keinen kalten Todten, dessen Seele schon im Himmel ist und der neben seinem Sarge liegt, in dem ein Mensch noch nach Geld sucht! … War denn kein heiliges Bild in der Nähe, das dazu zu sprechen anfing? … Hayum's Taufe mag freilich nicht tief gegangen sein … Hanne Sterz aber war leidlich fromm … Wo steckt die wol jetzt? … Auch unter der Erde? …

Bickert sah bei diesen scharf betonten und fast nach den Silben ihm zugezählten Worten empor wie zu einem Richtschwert …

Inzwischen brachte Seligmann ein Glas Wein, das er dem Kranken anbieten wollte … Die Kunde von dem beim Brand Verunglückten, durch Hubertus so aufopfernd Geretteten hatte sich im Wirthshause verbreitet … Der Wagen wurde von Neugierigen umstanden … Bickert verbarg sich in seiner Decke …

Die Fahrt ging weiter, ohne daß Hubertus sich vollkommener mit Bickert verständigen konnte … Bickert sah ihn wie den Boten seiner Richter an …

Tapfer und frisch ermuthigt schwang Seligmann die Peitsche …

Hubertus gerieth ins Erzählen und brachte Dinge zur Sprache, die nach allem, was von ihm erlebt worden war, wunderbar genug sein konnten … Allmählich schien Bickert darüber zur Ueberzeugung zu kommen, daß wol am gerathensten sein würde, den guten Absichten des[186] Alten, auf den sich sein verdüstertes Gedächtniß besann, zu vertrauen …

Schon war es Dämmerung, als die langsam gehende Fahrt bei Borkenhagen am dortigen Pfarrhause ankam …

Auf Löb Seligmann's Frage nach Leo Perl erwiderte Hubertus in der That:

Ja, den kannt' ich! Es war ein getaufter Jude! Juden – nehmen Sie's nicht übel, Herr – Juden sind die curioseste Nation … In Java hab' ich sie gerad gefunden, wie hier … Brave Seelen darunter, wie Sie, Herr, wahre Samaritaner … Aber – auch schlimme – blutdürstige sogar – – Wo sie unter sich und nach ihren eigenen Gesetzen leben, begreift man, wie sie sonst steinigen konnten, hinter Propheten herliefen, die um Wunder fragten und wenn sie auch noch soviel thaten, sie ans Kreuz nageln ließen … Das ist die alte heiße Sonne Asiens …

Auch Löb fühlte in den Finales und bei den Chören der heroischen Opern immer etwas vom Blut der Makkabäer und gegen Bernhard Fuld hatte er an jenem Drusenheimer Sonntage wirklich im Geist nach dem Schwert gegriffen … Doch lehnte er alle diese Ansichten über das Temperament seines Volks ab und sagte lachend:

Der Jude ist heiß, das ist wahr! Aber wie Gott der Herr ist er – ein Busch voll Feuer! Hat Einer Courage und greift zu, keiner verbrennt sich!

Bei Erwähnung des Namens Leo Perl und des Umstandes, daß Seligmann mit diesem Priester verwandt wäre, horchte Bickert auf … Auch ihm war dieser[187] Name erinnerlich – als Unterschrift unter dem lateinischen Papier, das er im Sarge des alten Mevissen statt Geld gefunden und an Lucinden gegeben hatte zur Uebergabe an Bonaventura …

Ich sagte, fuhr Hubertus fort, daß ich den Pfarrer Perl kannte … Aber eigentlich zum Kennen war der Mann nicht … Er verrichtete sein Amt, war ein großer Redner, celebrirte wie ein Heiliger, stattlich stand er am Tabernakel … Aber in seine Nähe ließ er Niemanden und die Leute fürchteten sich vor ihm …

Warum ist er Christ geworden? …

Aus Erleuchtung – denk' ich …

Da oben hinterm Berg der Kronsyndikus und der Dechant von Asselyn in Kocher am Fall waren die Ursache seiner Erleuchtung …

Auf den Namen »Asselyn« zuckten die Augenbrauen des Verbrechers und auch Hubertus kam von Seligmann's Fragen durch die Erwähnung des Kronsyndikus ab …

Seligmann unterbrach jedoch sein Grübeln:

Sie haben Leo Perl nicht näher gekannt?

Nur einmal in meinem Leben hab' ich ihn gesprochen …

Was hat er gesprochen? …

Gesprochen hat er, um es recht zu sagen, vorher schon ein Jahr lang mit mir, aber durch Blicke …

Durch Blicke … Wie so Blicke? …

Immer, wenn er mir im Feld begegnete, sah er mich mit seinen großen schwarzen Augen an …

Warum sah er Sie an? …[188]

Ich war damals Jäger gewesen und eben erst ins Kloster gegangen … Oft war mir, wenn ich ihn grüßte, als wollt' er mit mir reden … Dann blieb ich stehen … Aber er ging vorüber … Das dauerte, bis seine schwere Krankheit kam …

Welche? …

Die Zehrung …

Der starke Mann die Zehrung! …

Wenn er hustete, krachte es wie ein Gewölbe …

Gott im Himmel! …

Ich ließ ihm ein Mittel anbieten … Ich dokt're schon lange ein wenig …

Es half nichts …

Er nahm's gar nicht …

Nahm's nicht … Aus Stolz auf die Gelehrsamkeit … auf seine Wissenschaften …

Oder er wollte keine Furcht vorm Tode zeigen … Das sagte er mir einst, als ich das einzige mal mit ihm gesprochen hatte …

Warum sprach er mit Ihnen? …

Er wollte mir für mein Mittel danken …

Wollte Ihnen danken! …

Bruder, sagte er, ich werde sterben … In drei Tagen bin ich todt …

Wußt' er das? …

Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?

Sprach der Pfarrer zu Ihnen … Und Sie thaten ihn? …

Finster zuckten seine Augen … Er mußte wieder heftig husten … Als sich die Brust beruhigt hatte[189] und er wieder sprechen konnte, schickte er seinen Vicar hinaus …

Seinen Vicar …

Namens Langelütje –

Langelütje …

Nun sah er sich um und sprach mit seiner heisern Stimme: Bruder Hubertus, ich habe von Euch manches Gute gehört! Aber auch Euch ist's schlecht im Leben ergangen! Auch Euch haben Liebe und Freundschaft betrogen …

Was? Wen hat Liebe und Freundschaft betrogen?

Aber nicht alle sind so versöhnlich wie Ihr! …

Wer sind die Andern? … Wen hat die Liebe betrogen? …

Andere bleiben, was sie sind, andere treibt die Rache –

Wen hat die Rache getrieben? …

Bei diesem Worte erstickte des Pfarrers Stimme und der Husten begann so heftig, daß es wol eine Viertelstunde bedurfte, bis er sich erholt hatte … Nun erhob er sich von seinem Lager und flüsterte mir zu: Da! Wenn ich todt bin, Bruder, seht – da hab' ich eine Schrift …

Bickert's furchtentstelltes Antlitz bekam einen Ausdruck schärferer Fassungskraft … Doch Hubertus merkte nichts davon … Nur sorgen mußt' er, daß Löb nicht vor Ansammlung von Mittheilungsstoff für die Rumpelgasse sein Pferd aus dem Auge verlor … Er fuhr fort:

Wenn ich todt bin, sagte der Pfarrer, da hab' ich eine Schrift … Schwört mir zu Gott dem Allmächtigen,[190] daß Ihr diese Schrift nie erbrechen wollt! … Seht, sie ist mit meinem Kirchensiegel gesiegelt …

Bickert fühlte handgreiflich in der Erinnerung dies Siegel des lateinischen Briefes …

Tragt diesen Brief, sowie ich begraben bin, hört Ihr, nicht gestorben, sondern erst, wie ich begraben bin, so, wie sich einem Pfarrer geziemt begraben, versteht Ihr, nach Witoborn – hört Ihr, zum Bischof …

Warum zum Bischof? brach Seligmann erstaunend aus, denn er war auf Testamentsgedanken gekommen und deutete im Ton an, ob katholische Pfarrer ein Testament nicht einfach bei den Gerichten niederlegen dürften …

Zum Bischof! bestätigte Hubertus. Es war dies damals der Bischof Konrad … Ein Freund meines guten Guardians, des Provinzials Henricus … Ein sanfter, milder Greis, der den Pfarrer Perl getauft hatte, ihn im Seminar zu Witoborn unterrichtete, zum Priester weihte … Ein guter, hoch in die Jahre gekommener, vergeßlicher Mann … Er steht immer noch lebendig vor mir – mit einer Nase … so lang …

Hätten Sie die Nase gehabt und gemerkt, was in dem Briefe stand! …

Das erfuhr ich nie … Der Brief war an die Curie gerichtet und abzugeben an den Bischof … Dem gab ich ihn … Der Bischof erbrach, sah eine lange Zuschrift in Latein, legte sie zum spätern Lesen zurück und plauderte mit mir … Nun – und das ist alles, was ich mit Leo Perl im Leben zu thun gehabt habe …

Mit einer nur scheinbaren Geringschätzung sagte Seligmann: Was kann er geschrieben haben? … Er[191] wollte damit nur verschleiern, daß man ja hier eine außerordentlich wichtige Entdeckung anzunehmen hätte …

Hubertus zuckte die Achseln …

Warum war der Brief lateinisch? …

Er hatte ohne Zweifel die Bestimmung, nach Rom geschickt zu werden …

Warum nach Rom? …

Weil der Heilige Vater alle unsere Wünsche in dieser Sprache zu hören wünscht …

Warum schickte er seine Wünsche nicht selbst nach Rom? …

Der Weg für einen Pfarrer geht nach Rom nur über seinen Bischof …

Wissen Sie was? sagte Seligmann in immer mehr sich steigerndem Verlangen, hinter diesen letzten Willen seines leiblichen Vetters zu kommen … Ich glaube, der Bischof hat den Brief gar nicht nach Rom geschickt … Ich meine deshalb, weil er so vergeßlich war …

Nicht unmöglich …

Und wenn er ihn doch schickte, dann hat er vorher eine Abschrift genommen …

Was für Rom bestimmt ist, muß für Rom bestimmt bleiben …

Nein, ich sage, der Brief liegt noch drüben im witoborner Archiv und enthält die Anzeige, daß sein Vetter Löb Seligmann oder ein Kind von Henriette Lippschütz, Namens David Lippschütz, alle seine geheimen Ersparnisse erbt, die Bücher ausgenommen, die ein gewisses Fräulein Veilchen Igelsheimer kriegt, deren Liebe und Freundschaft ihn nicht betrogen haben, und die alten Kleider, die[192] sind fürs Geschäft seines Vetters Nathan Seligmann bestimmt …

Fragen Sie die jetzige Frau von Wittekind da oben! … sagte Hubertus, von der nicht ganz im Scherz gemeinten Rede erheitert … Ihr erster Mann war der Regierungsrath von Asselyn, der Vater des Domherrn von Asselyn … Sie kann vielleicht –

Was kann die Frau, die ich ja heute noch sehen werde? … sagte Löb und wandte sich auf Hubertus' Stocken um …

Hubertus zeigte aber eben nach dem Kloster Himmelpfort, das jetzt erreicht war und nur noch allein seine Gedanken in Anspruch nahm …

Wir sind am Ziel! sagte er, ließ halten und setzte nur noch, schon im schnellen Absteigen begriffen, hinzu:

Der Regierungsrath hat bald nach dem Tod des Bischofs alle Bibliotheken und Archive Witoborns zu ordnen gehabt … Wenn er die Schrift damals noch vorfand, so liegt sie vielleicht in der Bibliothek des Königs; sie war wie in Kupfer gestochen …

Diese Reden verhallten schon in den Zurüstungen des Aussteigens … Die ernsteste und schwierigste Aufgabe war eben jetzt für Hubertus zu lösen, die, Bickert unbemerkt ins Kloster zu schaffen …

Er lehnte ein Vorfahren am Kloster entschieden ab und weckte erst jetzt damit in Seligmann's Zügen einen Anflug von Staunen und Mistrauen …

Es war dunkel geworden … Das Wetter war ganz in Regen umgeschlagen … Schwer senkten sich schon lange die Nebel über die nahen Höhen … Einsam[193] und still lag das Kloster … Hier und da blitzte in einer Zelle ein Licht auf … Um acht Uhr ging dort schon alles zur Ruhe … Zwischen sechs und sieben fand der Imbiß zur Nacht statt …

Vorzugsweise hatte Hubertus beim Erzählen immer die Kirche im Auge behalten … Am Zifferblatt der Kirchthurmuhr schien er die Minuten zu zählen, die noch übrig waren bis fünf … Um fünf wurde meistens die Kirche geschlossen … Zugänglich war sie überhaupt nur in einem Nebeneingang, der halb schon ins Kloster selbst führte …

An den beiden Pappeln, wo Stephan Lengenich so lange vergebens gewartet hatte, um den Pater Sebastus in seinem Wagen mitzunehmen, hielt nun auch Seligmann und sah, wie Hubertus, den Schlag öffnend, dem jetzt ruhig folgenden, immer stiller gewordenen Kranken den Arm bot, um ihm hinunterzuhelfen …

Schon läutete es drüben zur Vesper … Hubertus wußte, den Strang zur Vesperglocke zog Pater Ivo … Vor dem konnte er ruhig vorübergehen und sogar Bickert im Arme tragen, der Pater würde nicht aufgeblickt, sondern nur gesungen haben: Maria, Maienkönigin!

Hubertus wandte sich an den über das Geheimnißvolle im Benehmen des Mönches jetzt immer mehr betroffenen Seligmann mit den Worten:

Guter Mann! Ich danke Ihnen von Herzen! Aber thun Sie mir jetzt nur noch einen Gefallen! Warten Sie noch ein Viertelstündchen … Ich muß – erst die Bewilligung – des Guardians – einholen … Ein Viertelstündchen! Dann vielleicht – komm' ich zurück … Wo[194] nicht, nun dann ist alles gut, dann dank' ich Ihnen herzlich und wollen Sie mir nur noch Eines zu Liebe thun, so sprechen Sie von unsrer Reise mit Niemanden, der nicht darnach frägt oder, besser noch, zu fragen ein Recht hat! Vor Allem von der Unterkunft des Mannes hier im Kloster schon zu Niemand – Sie wissen, es ist wegen der Doctoren! Wir sollen ja im Kloster nur – die Seelen heilen! …

Seligmann, der nicht gern auf ungesetzlichen Wegen wandelte, versprach etwas befangen, warten und schweigen zu wollen …

Hubertus führte den Kranken langsam dem Kloster zu und verschwand mit ihm allmählich hinter Hecken und im Abenddunkel …

Jetzt erst bekam doch der ganze Vorfall mit seinem Samaritanerherzen etwas auffallend Abenteuerliches für Löb … Perl's lateinischer Brief an den Bischof von Witoborn … Die geheimnißvolle Uebergabe erst nach dem richtigen Begräbniß eines katholischen Pfarrers … Die scharfe Betonung der Rache … Nun dieser Abschied … Er begnügte sich noch, in allem heute zu Erfahrung Gebrachten blos eine reiche Befruchtung der Phantasie, des Verstandes und des Herzens seiner kleinen Weisheit in der Rumpelgasse zu besitzen … Aber das Dunkel der Nacht nahm jetzt zu … Hier die Einsamkeit wurde gespenstisch … Das Davonschleichen des Mönches mit dem Kranken, der, wie er erst jetzt bemerkt hatte, sogar seine Pferdedecke als Angedenken mitgenommen hatte – alles das bekam etwas Beklemmendes …

Bei alledem verging die Viertelstunde …[195]

Es verging auch eine halbe … Hubertus kam nicht zurück …

Die bestimmte Weisung des Mönches, daß er weiter fahren konnte, wenn er nicht zurückkehrte, hatte Seligmann allerdings empfangen … Indessen, gab er auch die Pferdedecke preis – er taxirte sie auf die Zinsen, die ihm die kleine Auslage vor Gott wieder einbringen würde – sein gefälliger Sinn bestimmte ihn noch zu bleiben oder wenigstens seinen Gaul nur langsam, und auch nur dem Kloster zu, sich in Bewegung setzen zu lassen …

Er sah sich dabei nach rechts und links um und spähte, ob nicht doch noch der Mönch zurückkam …

Alles blieb aber still und einsam … In der Ferne sah er Häuser im Nebel schwimmen, aber in nächster Nähe befanden sich nur Felder, abgegrenzte Gärten, kleine Baumgruppen, keine Menschen …

So erreichte er eine stattliche Allee, die zum Kloster führte, und hielt auch hier noch eine Weile …

Da er durchaus Niemanden zurückkommen sah, fuhr er die Allee entlang dem Kloster zu und bekam immer mehr Mistrauen über all die sonderbaren Umstände, unter denen Hubertus seinen Pflegling mitgenommen … Warum das alles so heimlich? sagte er sich … Von jener Vorsicht, die man im Kloster wegen der Aerzte zu nehmen hätte, war er anfangs entschiedener überzeugt gewesen, als jetzt …

Inzwischen stand er dicht an der stattlichen Treppe, die zum geschlossenen Portal der Kirche führte …

Als es noch immer still blieb, wollte er endlich weiter fahren …[196]

Aber sein wißbegieriger Sinn bestimmte ihn, noch einmal einen Versuch zu machen, ob er nicht etwas von den beiden Verschwundenen in der Kirche selbst entdecken sollte … Die Pferdedecke war an sich verschmerzt, er hätte aber doch gern gewußt, wo sie geblieben …

Dicht an dem Ende der stattlichen Aufgangstreppe zur Kirche begann die Einfriedigungsmauer des Klosters … Einige Schritte entfernt lag eine Thür, von der er durch den Besuch bei Pater Sebastus wußte, daß sie in einen kleinen Vorhof, dann zur Linken ins Kloster, zur Rechten durch einen Gang in die Kirche führte …

An diese Thür ging er und drückte, mit einiger Beklemmung über seinen Antheil an den Ursachen, die den Pater Sebastus in Haft gebracht hatten, auf die Klinke …

Die Thür ging auf …

Alles war still … Vorsichtig trat er einige Schritte weiter bis an den Gang zur Kirche …

Da hörte er plötzlich einen lauten, entsetzlichen Schrei … Gellend, markdurchdringend ertönte es …

Der Schrei kam von der Kirche her und war wie die Stimme eines Erstickenden …

Unmittelbar darauf hörte man noch ein furchtbares Krachen, das weit in der Kirche widerhallte …

So bang ihm jetzt zu Muthe wurde und so fern ihm jede Melodie der Ermuthigung ins Ohr klang – etwa ein »Frischgewagt!« aus »Maurer und Schlosser« – er war mit zwei Schritten, die auf dem Steinboden ängstlich knirschend widerhallten, dennoch vollends der Thür der Kirche – noch näher getreten …

Da hörte der Tollkühne eine leise Stimme singen,[197] hörte einen Schlüsselbund drehen, sah Jemand aus der Kirche kommen und huschte erst jetzt zurück auf den kleinen Vorplatz, von dem man in die Halle trat, wo sich die Gänge links und rechts theilten … Bei alledem dachte er: Ei was! Du kannst ja ein Verlangen tragen, dir die Kirche anzusehen … So blieb er stehen … Und was kann denn auch so Entsetzliches geschehen sein, da ja ein so ruhiger Zeuge zugegen war! …

Die Kirchthür wurde zugeschlossen … Ein Mönch ging vorüber und sang für sich ganz ruhig und friedlich … Wie er Löb Seligmann erblickte, rief er allerdings plötzlich: Husch! …

Dies Husch! war eigen …

Husch! husch! wiederholte der Mönch und wehte doch nur durch die Luft, wenn auch schon ganz dicht unter Seligmann's Nase …

Wie ein Donnerwetter sprang Löb denn nun doch von dannen, ließ die Mauerthür offen, rannte an seinen Wagen, sprang auf diesen hinauf, ergriff die Peitsche und lenkte den Gaul lieber von der Treppe ein wenig abwärts …

Niemand kam ihm nach …

Löb mußte annehmen, daß seine Aufgabe erfüllt war, und fuhr von dannen …

Noch einmal fuhr er die ganze Länge der Kirche vorüber und seltsam! nun war es ihm, als sähe er an einem vergitterten Fenster der untersten Gewölbe einen Lichtstrahl …

Er hielt sich indessen nicht mehr auf …

Der entsetzliche Schrei, das furchtbare Krachen, das[198] so gespenstisch in den Gewölben hin und her irrende Licht brachten ihn um allen Anhalt polizeigemäßer Beruhigungen …

Noch drei Stunden brauchte er, bis er Schloß Neuhof erreicht hatte … Noch einmal mußte er tränken und füttern, bis er die schönen Tannen des freiherrlich Wittekind'schen Parks sah …

Dann ließ ihm allerdings die Präsidentin im Seitenflügel ein freundliches, wohlgeheiztes Mansardenzimmer anweisen, ließ ihm ein Essen vorsetzen und ihn auf morgen bescheiden …

Vom Brand auf Westerhof war, wie er an der Bedienung sah, auch hier alles erfüllt …

Nicht minder von Hubertus und von dem geretteten Diener …

Löb konnte von alledem als Kenner berichten …

Indessen – er hatte den Muth verloren, sich als einen Eingeweihten der Kirche zu bekennen … Schon einmal war ihm die Begegnung mit einem Mönche übel bekommen … Dies stille Husch! Husch! Jener Schrei, das Krachen, das Licht im untern Gewölbe – Es kam ihm eine Vorstellung, als setzte ihn das Schicksal vielleicht einmal selbst in Musik und verwandelte ihm sein jetzt sich so heiter anlassendes Leben in eine Oper mit tragischem Ausgang …

Er riegelte die Thür zu und entschlief mit gespannter Erwartung auf die kommenden Enthüllungen … Er faßte den Vorsatz, durch taktvoll diplomatisches Beherrschen seines Mittheilungsdranges, der Sphäre, in der er hier leben durfte, nach allen Richtungen hin Ehre zu machen.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 161-199.
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