20.

[199] Das mußte man aber sagen – mochte auch der Kronsyndikus die letzten Jahre seines Lebens in Geistesschwäche zugebracht haben, überall sah man die von früher her stammenden Spuren seiner rastlosen Natur. Die Güter der Dorste-Camphausens waren dagegen im Verfall.

Rings um Neuhof erhoben sich stattliche Anlagen, die selbst noch aus der winterlichen Decke in ihrer Bedeutung für die Zeit des Wachsens und Blühens vielversprechend hervortraten … Auf den Feldern, obschon sie hoch gelegen waren, bemerkte man selbst noch in den schneebedeckten Furchen die sorgfältige Cultur … Kalköfen, Ziegeleien fanden sich auch hier, doch alles in stattlicherer Erscheinung, als bei den Dorstes. Der Holzschlag in den Waldungen war nach der Regel, mit Schonung und Voraussicht auch für künftige Zeit … Die Buschmühle, wo einst der Deichgraf gehaust, war ein Meyerhof von ganz besonderer Pflege. Daß dem Deichgrafen dafür gleichfalls ein Ruhm gebührte, wurde nicht mehr viel erwähnt. Raschlebend ist unser Geschlecht oder – entschuldigt sich die Gegenwart durch die Sorgen, die auch ihr genug[200] aufgebürdet sind? Traurige Kränze, die auf Friedhöfen Niemand mehr erneuert! Trauriger Herbst, der zwischen verrosteten Gittern Jahre lang hängen bleibt, bis der Wind zu Hülfe kommt und auch mit diesem einst so blühenden Frühling die Erde düngt!

Der Park schien unverfallen … Die Ulmen, unter deren Schatten Lucinde so oft dahingehuscht, standen hoch und auch ohne Blätter stolz und vornehm … Die Tannenbäume gaben dem Ganzen einen Schein des Sommerlebens … Die Pavillons verriethen Bewohner, wie sonst. Nur der Teich war noch nicht aufgethaut; das große Geflügelhaus sah wie ein riesiger Strohmann aus; seine Bewohner mußten gegen die Kälte geschützt werden … Wie stattlich war das Schloß! Wie gewandt waltete schon der Erbherr! Wie sah man auf dem Hof von den Fenstern in der Frühe schon alles in Bewegung! …

Frau von Wittekind schritt trotz der Kälte und der feuchten Luft über den Hof und konnte, resolut wie sie war, Löb von der Verlegenheit befreien, eben die nähere Bekanntschaft mit zwei wilden Neufundländern zu machen …

Gut geschlafen, Herr Seligmann? lächelte sie … Sie bleiben doch den Tag über hier? … Wir haben viel zu plaudern … Aber erst nach Tisch! … Machen Sie sich's bequem! … – Sie sind unser Gast! …

»Sie sind unser Gast!« – Seit dem: »Speisen Sie bei mir in Drusenheim!« das ihm im Herbst Bernhard Fuld so vielverheißend und so wenig erfüllend zugerufen, nahm Löb diese Phrase nicht mehr allzu wörtlich … Schon wußte er auch, Frau von Wittekind[201] war genau … Sie liebte das Geld und verhandelte mit ihm mehr darüber, als ihr Gatte … Löb sollte sein Urtheil über noch weitere Verbesserungen der großen Besitzungen geben und Vorschläge zu Verkäufen machen; an baarem Gelde war Mangel … Auch in des Kronsyndikus echtem Testamente standen nicht kleine Legate zu bezahlen …

Frau von Wittekind hob sich durch ihr schwarzes Atlaskleid, in das sie sich schon in aller Frühe geworfen hatte, stattlich von den weißen Wänden des Schlosses ab … Sie schlüpfte behend über den mit Kieselsand bestreuten Hof. Ein eigenthümlicher Kopfputz von schwarzem Draht und Schmelzperlen zierte das noch schöne dunkle Haar der schlanken Frau, die gegen die gedrücktere und durch die Jahre verkümmerte Gestalt ihres Gatten sich wie eine noch jugendliche hervorhob … Löb sollte sich erst, da Besuch erwartet wurde, auf den Nachmittag zu umständlicheren Conferenzen bereit halten …

In den Zimmern, wo einst Lucinde und Klingsohr jene verhängnißvolle Abendstunde zubringen durften, wurde schon eine Tafel hergerichtet … Noch waltete dabei die Lisabeth, die den Makler scheu von der Seite anblickte … Löb wußte, daß sie ihm seine Bekanntschaft mit dem Küfer nachtrug. Sie war fast eine Dame geworden … Nur durch die Angst, die letzte Stunde ihrer hiesigen Wirksamkeit dürfte bald geschlagen haben, mochte sie heute etwas freundlicher gestimmt sein, als schon lange in ihrer Art lag …

Löb suchte Frieden und Freundschaft mit aller Welt[202] und plauderte sich gern aus dem Herzen heraus in die Herzen hinein … Das Schöne und Vornehme übte einen besondern Reiz auf sein ästhetisches Gemüth … Silberne Geräthschaften, die man in die obern Zimmer trug, reizten seine Neugier nach dem Glanz, nach den Farben, dem Marmor, die oben verschwendet sein sollten … Nur umschnoberten ihn noch die fatalen Hunde und hielten die schreckhaften Erinnerungen von gestern wach, auch die dunkeln Sagen von der Vergangenheit dieses Schlosses Neuhof …

Erschreckt umherirrend und doch träumerisch alles bewundernd und taxirend kam Löb auf die große Treppe. Stufe für Stufe zählend, schlich er hinauf …

Eine hohe Flügelthür stand mit beiden Schlägen offen …

In diese trat er behutsam ein, seine Neugier durch Bewunderung maskirend … Ein zuletzt vollkommen natürliches Staunen ergriff ihn über all diese Pracht … Er hatte viele Herrenhöfe besucht; aber diese Schönheit an Stuccaturen und Malereien, an bronzirten Marmortischen, in denen man sich hätte spiegeln und rasiren können, war ihm noch nicht vorgekommen … Reizend war eine links gehende Galerie, an den bemalten Wänden mit seidenen Divans und Glaskronen und Bronzeleuchtern geschmückt … Die Malereien stellten Scenen, wie er sich ganz richtig sagte, aus dem Olymp vor … Wie drang da der Klang des Liedes: »Vom hoh'n Olymp herab ward uns die Freude!« das manchmal die Studenten im Roland am Hüneneck sangen, in seine Seele! … Das war nun diese »Freude« aus – »Olim's Zelten«. Leider machte er diesen[203] Schnitzer zum Staunen und zum Lachen seines Neffen David Lippschütz, als er später diese Vorfallenheit in einem Briefe nach Kocher meldete – Er verwechselte »Olim's Zeit« mit der Zeit des Olymp … Allerdings war auch hier eine Olim's Zeit! Für so verfängliche olympische Gegenstände, wie an diesen Wänden von Künstlerhand wiedergegeben waren, würde die Gegenwart nicht einmal die raschbereiten Künstlerhände aufgefunden haben … Sie glichen den Fresken über Alexander und Roxane, die sich zu Rom von Rafael's Hand im Hinterzimmer der Galerie des Fürsten Borghese befinden.

In jetzt unverfänglicher, rein kunstkennerischer Stimmung verlor sich Löb immer weiter im Corridor und kam in einen großen Saal, der seinerseits etwas Schauerliches hatte – durch seine riesigen Dimensionen und seine Unwohnlichkeit und Kälte … Der Saal war rings mit Spiegeln belegt … In ganzer Figur, von seinen etwas zu kurzen schwarzen Beinkleidern an mit den hervorstehenden Knieen bis zum Scheitel seines heute ohne zu laute Musikbegleitung frisirten Haares, sich in Lebensgröße betrachten zu können – reizte Löb … Er mußte im ganzen Saal auf den Fußzehen die Runde machen …

Alles war still … Er griff an den Girandolen die Glastropfen an und ließ sie hin und her baumeln … Er erfreute sich an dem hellen Ton, den sie von sich gaben … Dann taxirte er das Krystall, die Bronze, den Sammet, und war besonnen genug, die Kunst der Decoration höher anzuschlagen, als den massiven Werth … Viele der Bronzirungen zeigten stark den »Zahn der Zeit«, jenen Begriff, den Veilchen in ihrem[204] Humor vorgeschlagen hatte zum Namen des Nathan Seligmann'schen antiquarischen Geschäfts zu wählen … In das Geschäft: »Zum Zahn der Zeit« gehörte bei näherer Besichtigung fast jeder dieser Plüsch- und Seidenstühle … Und so bekam Löb auch Handelsideen zum besten seines Bruders …

Darüber verging eine geraume Zeit …

Als er sich dann endlich auf den Weg machte, um umzukehren, erschrak er bei einem flüchtigen Blick in den Hof … Er sah aus einem eleganten Wagen einen Mönch aussteigen …

Bruder Hubertus das? sagte er sich und die Erinnerung an die gestrigen Erlebnisse ergriff ihn mit schreckhafter Macht …

Hubertus war es aber nicht … Löb besann sich, es war Pater Maurus, der Provinzial und Guardian selbst … Kam er etwa, um sich nach ihm zu erkundigen …

Die Diener verbeugten sich tief … Löb beruhigte sich … Der Klosterabt schien mit freiherrlich Wittekind'schem Wagen aus seiner Zelle abgeholt worden zu sein …

Vor Neugier und Gewissensbissen gerieth Löb bei dem Gedanken an seinen Rückzug in einen falschen Corridor … Es liefen deren zwei in den großen Ballsaal ab … Einer sah dem andern so ähnlich, daß Löb nicht wußte, war er durch den linken oder durch den rechten gekommen …

Als er seinen Irrthum erkannte, mochte er nicht den weiten Weg umkehren, sondern hoffte, eine der mehreren kleinen Thüren, die er hier sahe, verbände vielleicht beide Corridore … Er drückte eine derselben auf …[205]

Siehe da! Das war ja ein ganz seltsames Gemach …

Er trat einen Schritt vor, orientirte sich im Dunkeln … da – o Himmel! – fällt die Thür hinter ihm in ein Schloß, zu dem er keinen Drücker findet …

Im Dunkeln durchtastet der plötzlich zu allen Schrecken nun auch noch selbst Gefangene die ganze Länge der Ritzen an der Thür dahin, reißt sich an der Spitze eines hervorstehenden Nagels die Veranlassung zum schmerzhaftesten Au! ein und steht mit einem blutenden Finger … Was jetzt thun? … Klopfen? … Lärm machen? … Seine Neugier selbst an die Oeffentlichkeit bringen? …

Großen Männern gehen ihre Schatten voraus, sagt Jean Paul, und lebhafte Phantasieen erfassen sofort die äußerste Möglichkeit … Löb Seligmann sah sich vor Discretion, vor Scham und vor jetzt vielleicht erst kaum halb bestrafter Neugier stumm ringsum … Er sah sich hier eines langsamen Hungertodes sterben – ganz wie Florestan in »Fidelio« …

Das Zimmer war ohne Fenster … Es konnte nur benutzt werden durch Erleuchtung … Höchst prachtvoll, wenn auch gleichfalls schon für das Geschäft »Zum Zahn der Zeit« brauchbar, war auch hier die Decoration … Hier mußten sicher einst die üppigen Schönen auf schwellenden Divans geruht haben, wenn sie auf Bällen vor der Hitze des Tanzsaals flohen … Das sind Cabinete, dachte er, wie die, in welche Don Juan die Tausend und Eins entführte … Und um ihn her geigte und trompetete alles … aber im Geist rief er mit dem Schrei der Zerline: »Hülfe! Rettung!« …[206]

Mit der linken Hand, die er der Vorsicht wegen lieber jetzt mit einem glücklicherweise in der Tasche vorgefundenen Pelzhandschuh bewaffnete, rutschte er an den Wänden entlang, immer noch in der Hoffnung, einen Drücker zu einer nicht sofort ersichtlichen andern Thür zu finden, und schon gewöhnte sich sein Auge an die Finsterniß …

Und wirklich – die Hand fuhr jetzt auf eine Klinke – und ein neues Zimmer ging auf …

Aber – auch dies Zimmer war ohne Ausgang … Es war von gleicher Beschaffenheit, wie das vorige … Auch hier war alles auf Beleuchtung berechnet … Gott meiner Väter! seufzte Löb … Er hatte manchen vornehmen Ball, selbst Bälle bei seinen Vettern Fuld, in der Ferne beobachtet; er konnte sich denken, wie prachtvoll das sein mußte, wenn hier alles von Lichtern widerstrahlte, Eis herumgegeben wurde, lachend und reizvoll dahingegossen die Schönen auf den Divans lagen, die Herren um sie her voll Bewunderung und Galanterie … Da und dort sah er Spieltische … Gold und Silber glänzte ihm unter den Karten entgegen – Aber links und rechts waren sämmtliche Drücker abgeschraubt … Nur in der Mitte gingen die Thüren auf … So zu einem dritten Zimmer, das er gleichfalls noch öffnete … Die Luft war dumpf und stickig … Hier war seit Jahren nicht gelüftet worden … Löb wurde immer lebendigbegrabener …

Schon schickte er sich an, seinen Weg durch die drei Verließe zurückzunehmen und sein Heil, mit dem Risico des Verlustes seiner Kundschaft auf diesem Schlosse, in einem durchdringenden Hülferuf zu suchen, als er hinter[207] der Wand, da, wo es noch in ein viertes Zimmer gehen konnte, sprechen hörte …

Jehovah sei Dank! war sein erstes Gefühl … Er wußte, daß schon ein lautes Klopfen nun nicht mehr ohne Beistand bleiben konnte …

Sollte er jetzt gleich an die hier ohne Zweifel wiederum befindliche Tapetenthür pochen oder sich vorläufig in Ruhe verhalten? …

Das Gespräch nebenan schwieg plötzlich …

Leise wagte er auf den in den inneren Verbindungsthüren vorhandenen, aber überall festgeschraubten Drücker den wunden Finger zu legen …

Hier nun war die Thür verschlossen und sicher vermuthete man nebenan nur eine Wand und lehnte sich sorglos an sie an und war keines Lauschers gewärtig …

Wieder begannen die Stimmen …

Jetzt vernahm auch Löb Worte, hörte Namen, die ihm bekannt waren … ja die Namen »Borkenhagen« – »Himmelpfort« – »Westerhof« fielen … Nun schienen sie Anlaß zu Mittheilungen zu werden, die ihn interessirten und die vielleicht mit seinen gestrigen Erlebnissen zusammenhingen …

Deutlich unterschied er die Stimme Terschka's … Deutlich die des Präsidenten … Zwei andere wußte er noch nicht recht hinzubringen … Eine davon war ihm nicht gänzlich unbekannt …

Kämpfend mit sich, was zu thun sei, ob er rufen oder schweigen sollte, ging er noch einmal leise durch alle Zimmer zurück, suchte überall, wo ein Ausweg sein konnte, seine Befreiung, fand diese aber nicht und beredete sich,[208] entschlossen zu sein, zu rufen, zu klopfen, durch die geheime Tapetenthür mit seiner »fragwürdigen« Anwesenheit hervorzutreten in die feine Gesellschaft und ganz gehorsamst um Entschuldigung zu bitten … In Wahrheit aber setzte er sich hin, um – zuzuhören …

Jetzt erkannte er auch die dritte Stimme … Den ehemaligen Vicar von Sanct-Zeno, den Neffen des Dechanten, den Domherrn von Asselyn … Der Vierte war ohne Zweifel der Provinzial … Sollte er da seinen hülfestehenden Septimenaccord einsetzen und ein so schönes Quartett stören? …

Und es kam denn so, daß er auf einem Polstersessel dicht an der Thür verblieb … Es kam denn so, daß er zum Horcher wurde mit und wider Willen … Es kam denn so, daß er Dinge hörte, die ihm vor Frost die Erinnerung an den noch nicht überstandenen Februar weckten … Es kam denn so, daß er eine der schweren Seidendamastdecken von den Tischen zog und, trotz der in ihnen befindlichen Motten, sie um sich schlang und sich einhüllte und daß er sogar noch eine zweite holte und sich wie ein Hoherpriester zu Jerusalem vorkam mit den Urim und den Thumim … Denn die schweren Goldtroddeln hingen ihm quer über die Brust hinweg …

Der Präsident von Wittekind sprach mit einer, wie es schien, höchst erregten und von seiner gewöhnlichen kalten Art ganz abweichenden Stimme fest und bestimmt die deutlich hörbaren Worte:

Ja, Herr von Terschka! Ich war vorbereitet auf[209] einen Bevollmächtigten, den man in dieser betrübenden Angelegenheit mir von Rom aus schicken würde! … Hm! Hm! … Daß es aber Sie sein würden, gesteh' ich, hätte ich nicht erwartet …

Seligmann brauchte nur von »Rom« zu hören, um mit gespannterer Aufmerksamkeit zu folgen …

Herr Präsident, antwortete Terschka mit seiner Löb bekannten leutseligen Harmlosigkeit, die nur zuweilen, wie Löb gleichfalls hätte bestätigen können, unter vier Augen nachdrücklich abgelegt werden konnte; Herr Präsident, bei meiner nahen Verbindung mit dem Grafen Hugo ist der Auftrag, den ich vorgestern durch den Herrn Provinzial entgegengenommen habe, nicht so auffallend … Ich kenne ja auch selbst sehr genau das außerordentlich liebenswürdige Mädchen, das halt so zu sagen eine Adoptivtochter des Grafen Hugo ist …

Seligmann rüstete sich auf Vervollständigung seiner genealogischen Kenntnisse, die in diesen hohen Kreisen immer empfehlend sind …

Ich muß Sie, lieber Sohn, sprach der Präsident und redete damit ohne Zweifel den Domherrn von Asselyn an, ich muß Sie mit dem Gegenstand unserer Verhandlung bekannt machen, welcher Sie jetzt nicht nur in Ihrer Eigenschaft als mein Sohn und Freund, sondern auch als geistlicher Rather und zuverlässiger Zeuge beiwohnen … Man hat von Rom aus in einem an den Herrn Provinzial gerichteten Schreiben ausdrücklich …

Diese Worte brachen für Löb nicht ganz verständlich ab …

Eine Pause deutete die stumm bejahende Geberde[210] des Pater Maurus an, der demnach zu den drei Löb jetzt bekannten Personen wirklich die vierte war …

Mein Vater, fuhr der Präsident mit Erregung fort, hat leider aus dem himmlischen Gnadenschatz alle die Spenden nöthig, die er uns Sündern bietet … Ich spreche dies mit Schmerz, aber offen aus … Zu einer ganz besondern Kränkung für mich müssen die lebenden Zeugen seiner Verirrungen dienen … Doch werden diese befriedigt werden und sie sind es zum Theil schon – – Nur Ein Verhältniß bot und bietet noch immer Schwierigkeiten. In Rom befindet sich eine Frau, von der man behauptet, sie hätte Ansprüche, sich die zweite Gemahlin meines Vaters nennen zu dürfen. Sie soll auch in der That von einem frühern Pfarrer – dieser – Gegend – ich glaube – Leo Perl –

Seligmann erbebte bei Nennung dieses Namens. Jetzt verwarf er alle Ermahnungen seines Gewissens, die ihm unausgesetzt zuflüsterten, sich ein Zimmer weiter zu setzen und sich nicht in die Geheimnisse der vornehmen Welt zu drängen …

Nicht wahr? unterbrach sich der Präsident, als suchte er sich der Richtigkeit des Namens zu vergewissern …

Die Herzogin von Amarillas kennt vielleicht den Namen des Geistlichen nicht mehr, der sie traute … sagte Terschka …

Der sie traute – haha! Das ist es! Mit meinem Vater nämlich, lieber Sohn! Es handelt sich um eine Frau, die nichtsdestoweniger, daß sie sich Frau von Wittekind-Neuhof zu nennen berechtigt sein will, doch 1813 von Kassel aus nach Paris flüchtete und dort eine[211] neue Heirath vollzog mit einem spanischen Granden, leider einem Granden ohne Vermögen, dessen langer Titel sie lockte … Von der schweren Sünde der Bigamie, scheint es, will die römische Curie die Herzogin von Amarillas freisprechen und sich jetzt plötzlich für die erste Ehe entscheiden …

Herr Präsident, nein! sagte eine rauhe Stimme … Ohne Zweifel war es die des Mönches …

Bigamie! … Zwei Männer auf einmal! … Löb Seligmann schauderte vor einer Situation, die ihn zum Zeugen solcher Enthüllungen machte …

Der Präsident, sich in seiner Anklage gegen Rom mäßigend, fuhr fort:

Allerdings gestehe ich, Herr Provinzial, nicht völlig klar zu sehen in dem Interesse, für welches Herr von Terschka auftritt, und wieder in dem, für das Sie beauftragt sind. So viel weiß ich und will es nicht leugnen, daß diese Frau von Wittekind-Neuhof zwei Kinder von meinem Vater besitzen soll; als Herzogin von Amarillas war sie gewissenlos genug, sie beide zu opfern … Mein Vater, von dem muß ich es leider ebenso eingestehen, machte sich keine Sorgen um die Folgen seines – Temperaments – Er überließ diese Kinder, denen ich ihr Dasein und eine gewisse Berechtigung auf meine Anerkennung als natürliche Geschwister nicht im mindesten abstreiten will, dem Zufall, der sie dann auch wirklich seinen Augen entrückte … Jetzt soll eines dieser Kinder entdeckt sein. Von wem entdeckt? Entdeckt in einem Augenblick, wo die Herzogin von Amarillas in Wien aufzutreten gedenkt, in Wien, wo, wie überall, Gesetze[212] gegen Bigamie herrschen, falls – die Curie nicht hilft. Doch, wie gesagt, räthselhaft sind mir diese Entdecker einer Schwester – die ich haben soll. Es ist eine gewisse Angiolina – Pötzl, glaub' ich, ein Mädchen, das, wie Herr von Terschka sagt, zufällig vom Grafen Hugo vor Jahren gefunden worden – es war ja wol mein' ich bei einer – Kunstreitergesellschaft –?

Auf dies auffallend scharf betonte Wort trat eine Pause ein …

Terschka schien die Frage überhört zu haben …

Graf Hugo, fuhr in immer mehr sich steigernder Schärfe der Präsident fort, hat edel an dem Kinde gehandelt, das von jener sogenannten Frau von Wittekind, meiner Stiefmutter – auf der Landstraße verlassen wurde – bei jener damaligen Flucht der kasselschen Oper – Ich vergaß Ihnen nämlich zu sagen, lieber Sohn, Frau von Wittekind-Neuhof war ursprünglich eine italienische Sängerin …

Hörten für Löb Seligmann die Gewissensscrupel schon lange bei Nennung des Namens Leo Perl auf, so fühlte er nun vollends die behaglichste Wärme, sowol unter seinen bunten Decken und auf dem gepolsterten Sessel, wie vor Antheil an dem Vernommenen selbst … Ein Uebergang der Enthüllungen in die Sphäre der Oper … Eine italienische Sängerin … Er gedachte der Henriette Sontag, die eben damals eine Gräfin Rossi geworden war …

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, hat sein Pflegekind lieb gewonnen, so lieb, daß er nicht abgeneigt sein soll, aus ihm seine Gemahlin zu machen …[213] Vortrefflich ginge das, wenn Angiolina Pötzl eine rechtmäßige Freiin von Wittekind wäre … Herr von Terschka stellt mir das Ansinnen, diese Wendung der Dinge möglich zu machen … Ich weiß nicht, ob dies auch der Antrag des Grafen Hugo selbst ist, und offen gestanden, ich kann es kaum glauben … Würde er seine Schwiegermutter in Wien mit einem Proceß auf Bigamie empfangen wollen? …

Auf diese scharf betonte Hervorhebung aller Dunkelheiten der in Frage stehenden Situation trat eine Pause ein …

Aber mochte sich auch Seligmann diese Pause mit noch so viel stürmischen Passagen füllen, sein musikgeübtes Ohr hörte nimmer die Accorde, die in Bonaventura's Innern auf und nieder wogten und riefen: So sprichst du, du – von der Bigamie! Du, mit dem sich vielleicht auch – meine eigene Mutter in gleicher Sünde befindet! …

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, wird ja nun jetzt so reich, daß er für sein Pflegekind unmöglich blos eine Ausstattung, unmöglich nur Geld begehren kann … Meine junge Stiefschwester soll schön und geistig gebildet sein … Herr von Terschka verglich sie schon lange mit jener abenteuernden Lucinde, von der Sie vielleicht schon hörten, lieber Sohn, vom Anlaß zum Tod meines armen Bruders Jérôme … Ich meine jene Dame, von der man ja sagt, daß sie plötzlich jetzt in Witoborn wieder aufgetaucht ist …

Wieder trat auf diese gelegentliche Anmerkung eine Pause ein … Seligmann fand schwerlich ein Tonbild[214] der Orkane, die bei diesen Worten tausend Instrumente durch das Herz eines der Hörer stürmten … Lucinde in Witoborn! … Bonaventura schien auf diese Mittheilung eine auffallende Bewegung gemacht zu haben …

Ja, sagte wenigstens Terschka wie zu einem, der daran zweifelte, das genannte Fräulein war vorgestern auf Münnichhof … Aber Sie erwähnen sie nicht zu ihrem Vortheil, Herr Präsident! … Es ist eine Reihe von Jahren her, daß Graf Hugo und ich allerdings Ihrem Vater und diesem Mädchen, seiner damaligen Begleiterin, am Strande der Ostsee begegneten … Wir kauften dort Pferde ein … Mein Freund, der Graf, besprach mancherlei, was zu seinen hiesigen Erbschaftshoffnungen gehörte und worüber der damalige Vormund und Onkel der Gräfin Paula, Ihr Herr Vater, Auskunft geben konnte … Die Rede kam auf jenes schöne Mädchen, das unter seinem Schutze reiste … Ich verglich sie allerdings mit Angiolina … Der Kronsyndikus gerieth über meine Analyse in die größte Verwirrung … Die Nacht soll er eine aufgeregte Scene gehabt und nichts, als von seiner zweiten Gemahlin gesprochen haben und das wie von einem Wesen, dessen Vorhandensein sein Gewissen drückt …

Nur irren Sie sich in einigen Punkten! fiel der Präsident mit seiner frühern Schärfe wieder ein. Sie verglichen jene Lucinde weniger mit Angiolina, als mit jener so bekannt gewordenen Olympia Maldachini in Rom … Und darüber kam der Schrecken meines Vaters; der Name Fulvia Maldachini war der frühere Name der Herzogin von Amarillas …[215]

Seligmann sah jetzt große, wirkliche, echte, italienische Oper … Maldachini! … Welch ein Klang – schon – beim Hervorruf …

Der Stand der Dinge ist der! fuhr der Präsident fort, der immer mehr sogar in eine drohende Vortragsweise kam. Mein Vater hat vor einigen Jahren, als er noch bei Geisteskräften war, eine Generalbeichte beim ehrwürdigen Pater Maurus niedergelegt. Diese war so inhaltsreich, daß sie vom Herrn Provinzial nach Rom geschickt werden mußte. Dort scheint sie einflußreichen Personen bekannt geworden, Personen, die an dem Erweis einer Bigamie der Herzogin von Amarillas mehr Interesse zu haben scheinen, als die vielleicht sehr vernünftige Frau selbst, die wenigstens seit Jahren nicht die mindeste Erinnerung an Schloß Neuhof verrathen hat. War ihr Gedächtniß zu schwach für zwei Kinder, die sie in Deutschland zurückließ, wie sollte es jetzt aufleben für das Bekenntniß einer Schuld, die vielleicht die römische Curie, aber nicht die bürgerliche Gesetzgebung verzeiht! Der Herzog von Amarillas war arm. Ein echter Grand von Spanien, besaß er nur seinen Namen, der in seiner ganzen Vollständigkeit acht bis zehn Güter repräsentirte, die im Monde liegen. Mein Vater schickte damals Summen nach Rom. In frühester Zeit wurden sie erbeten, in späterer gefordert; dann plötzlich verhallte alles, was dort für ihn drohend vorhanden lebte … Wer aber nun jetzt es ist, der dort plötzlich wieder Sprache gewonnen hat, wer nun jetzt durch Sie redet, Herr von Terschka –

Angiolina ist so liebenswürdig, unterbrach Terschka[216] aufs eiligste, daß ihr die Auszeichnung, mit Ihnen verwandt zu sein, wol zu gönnen wäre …

Wer ist Ihr Auftraggeber? drängte der Präsident …

Ich – wich, ohne Zweifel lächelnd, Terschka aus – ich kann nur sagen, man wünscht, daß ich in aller Stille die Verhältnisse sondire, namentlich das Factum herstelle, ob die Herzogin von Amarillas wirklich Ihre rechtmäßige Stiefmutter ist, Herr Präsident! Die weitern Folgerungen daraus, gesteh' ich, liegen mir ja noch gänzlich fern …

Löb erkannte ganz seinen diplomatischen Terschka …

Nun wohl, Herr Provinzial, wandte sich der Präsident an den Mönch, Sie sehen, es geschieht alles, um das Siegel zu brechen von jener Beichte, die Sie empfingen … Ihr Ordensgeneral hat Ihnen nicht erlaubt, den Inhalt dieser Beichte zu erzählen, aber prüfen sollen Sie denselben; so ungefähr, denk' ich, schrieb man Ihnen … So leg' ich denn in Ihrer Gegenwart, lieber Sohn, in Ihrer, Herr von Terschka, die Zeugnisse von sechs Cavalieren vor, die leider nicht mehr am Leben sind; sie haben der sogenannten Vermählung meiner Stiefmutter beigewohnt … Dann aber bitt' ich Sie, Herr Provinzial, lesen Sie sich in die Handschrift des edeln Dechanten von Sanct-Zeno Herrn von Asselyn in Kocher am Fall, meines Schwagers, wie ich ihn nennen darf, hinein und theilen Sie uns hernach diese Zuschrift mit, die ich gestern Abend auf eine Stafette, die ich vor acht Tagen nach Kocher schickte, erhalten habe … Sie wird uns über diese Ehe und über Leo Perl's dabei gespielte Rolle die genügende Auskunft geben …[217]

Löb mußte aufstehen … Es war in der That zu viel, was auf seine Wißbegierde einstürmte … Ja er bedachte: Erfährt man je, daß du Zeuge dieser Familiengeheimnisse warst, so steckt man dich vielleicht ein oder macht dich ebenso unschädlich, wie einen gewissen Lauscher in den »Falschmünzern« … Er mußte seine Decken lüften, weil er in Transspiration kam …

Nach einer Weile, in der Bonaventura ohne Zweifel voll Staunen oder – voll Besorgniß der Worte seines Onkels gedachte: »Lass' aber alles das unter Priestern bleiben!« und von Terschka's Anwesenheit immer mehr beunruhigt werden mußte, begann die rauhe und strenge Stimme des Pater Maurus:

»Mein insonderst geehrter Herr Präsident und lieber Herr Schwager! Ich habe das alles geahnt, was nach dem Tode Ihres Vaters kommen würde! Auch schon zu meinem Neffen, unserm guten Bonaventura, hab' ich mich in einer vor kurzem abgegangenen Zuschrift darüber ausgesprochen … Es ist ein seltsamer Vorgang, auf den Sie hindeuten, und wohl versteh' ich Ihren Schmerz, Ihre tiefe Betrübniß! Beschämung – sagen Sie! Warum dies Wort – zu – Priestern? Wir Priester der römischen Kirche sind – bei solchen Dingen in – – unserm Element –« …

Der Vorlesende stockte …

Der Präsident sagte, wie es schien, mit Lächeln:

Sie werden hier eine Stelle finden, die Sie überschlagen dürfen! Indessen – –

Bonaventura mochte voll Besorgniß der Intoleranz des Provinzials gedenken … Und auch Seligmann gedachte[218] mit Schrecken des Dechanten, der so freundlich mit der Hasen-Jette verkehren konnte und nur deshalb nicht die untern Viertel am Fall zu Kocher besuchte, weil er zu sagen pflegte, »Reinlichkeit ist mein erstes Religionsdogma« …

»Denn«, fuhr jedoch der Provinzial und ohne weitern Ausdruck der Befremdung über diese Freimüthigkeiten zu lesen fort, »denn unsere ganze Kirche beruht ja auf dem Natürlichen im Menschen. Wer unsere Kirche schildern will, muß vom Fleisch beginnen und im Fleisch aufhören. Die katholische Kirche erbaute Gott zu einer Hülfe für die Sünder. Sie ist deshalb in allem der Gegenpol der nackten Menschheit und darum eben nur auf diesen Gegenpol errichtet. Bei den Protestanten ist die Sünde eine Unterbrechung ihres vom Geist beginnenden und im Geist endenden Lehrgebäudes; aber bei uns ist sie das alleinige Wesen desselben. Darum liebt der natürliche Mensch den Katholicismus und wieder der Katholicismus« – –

Der Provinzial stockte und murmelte wieder …

Seligmann dachte an die Rumpelgasse und den Unterschied der Religionen …

Lassen Sie das! Lassen Sie das! … unterbrach der Präsident im Ton seiner andauernden Wallung …

Doch der Mönch fuhr fort:

»Da hatt' ich beim Abschied vom Obersten von Hülleshoven den Streit über die Frage: ›Was ist unser Genius!‹ Monika, des Obersten Gattin, schrieb mir einst: ›Unser Genius ist der Schutzgeist gegen unsere Schwächen!‹ Der Oberst sagte: ›Unser Genius ist der Fahnenträger unserer[219] Kraft!‹ Beide haben Recht und beide Unrecht. Sie hätten sagen müssen, wie der Genius im Menschen entsteht … Was ist der Genius – des Katholicismus – der Genius Napoleon's – der Genius Goethe's«? – …

Wieder unterbrach der Präsident … Wieder dachte Seligmann, wenn auch schon etwas schwieriger auffassend, an die Bereicherungen für Veilchen …

»Napoleon war körperleidend«; fuhr Pater Maurus zu lesen fort. »Man kann leidend sein und doch sich ganz beherrschen. Die fallende Sucht aber kann man nicht beherrschen; das ist ein entsetzliches Naturgebot. Napoleon's Kammerdiener Marchand mußte ihn oft einschließen; des Kaisers Angst war: Jetzt überfällt dich dein Dämon! Napoleon's Genius war demzufolge der Geist, der ihn trieb, diesem Dämon zu entfliehen. Daher seine Unruhe, daher seine Liebe zum Frieden und doch die Unmöglichkeit, beim Frieden zu verharren, daher sein Vorwärtsdrängen, seine Art zu kämpfen, seine Auffassung über Welt und Zeit, sein Aberglaube, sein Wallensteinglaube an Ahnungen, seine Besuche bei Kartenlegerinnen, seine glühende Neigung zu Frauen und doch seine Kälte im Augenblick der Liebe – Napoleon ist das Leben eines Mannes, der sich unter einem unglücklichen Naturgesetz weiß. Alles, was er that und sprach, war auf dies Naturgesetz: Entfliehe deinem Fluch! bezogen. Goethe ist nicht anders zu verstehen, als aus einem Naturgesetz. Nur bezieht sich bei Goethe sein ganzes Denken und Fühlen auf ein anderes Factum – er hatte einen unehelichen Sohn. Diese Möglichkeit und sittliche Gêne[220] mußte er durch sein ganzes Dasein, seine Dicht- und Weltauffassung vertheidigen. ›Legitim‹ oder ›Illegitim‹ – das wurde sein Grübeln und merkwürdig, sein schlechtestes Werk, die ›natürliche Tochter‹, war gerade aus den geheimsten Falten seines Herzens geschrieben … Warum plaudere ich das alles? Ich könnte bitter sein und es so ausführen: Unsere ganze römische Kirche ist mit der Zeit auch allein über den Einen dunkeln Abgrund der Seele gebaut, daß wir Priester nicht heirathen dürfen …«

Der Provinzial sprach ironisch:

Der Dechant gehört der philosophischen Zeit an …

Er will sie auch nur schildern, sagte der Präsident und beruhigte Bonaventura, der auf die Mittheilung nur der Hauptsachen aus einem Briefe drängte, der ihm in ängstlicher Weise eine krankhafte Aufregung des theuern Onkels verrieth …

»Ich schildere Ihnen die Zeit, in der unsere Sünden jung waren, die Zeit, in der ich mit dem Kronsyndikus bekannt wurde … Es war gerade, als Goethe, unser damaliger Gott, den einzigen gefunden hatte, vor dem auch er zu Staub wurde. Dies eben war Napoleon, unsere zweite Gottheit. Es war in jenem Erfurt, da, wo Goethe schweigsam vor Napoleon stand, der Mann, der ewig die Natur suchte, vor dem Mann, der ewig die Natur floh. Ich befand mich gerade damals bei dem sogenannten ›Parterre der Könige‹ als ein der Diöcese Dalberg's angehörender Priester. Ihr Vater war in Erfurt erschienen als Syndikus der jungen Krone Westfalen bei den alten deutschen Ständen des Teutoburger Waldes … Herr von Wittekind zog vor, in der Nähe der Pracht[221] und Herrlichkeit des fremden Hoflagers zu leben. Und doch starb in Ihrem Vater trotz seines Leichtsinns ein Mann wie aus der Ritterzeit … Die eiserne Hand, die Götz nur künstlich führte, schlug Ihr Vater natürlich. Ich habe gesehen, wie er von einer Tischplatte die Ecke abbog gleich August dem Starken von Sachsen, dem er leider nur zu sehr glich, wenn ihm auch dessen Sinn für Größe, die stolze Haltung und Bedeutsamkeit der Gesinnung versagt waren. Ein Nimrod war's, der zuletzt in wilder Baulust den Rest von Muth austobte, der ihm vom Jagdtreiben übrig geblieben. Sein Park, sein Schloß, seine Oekonomie müssen ihm Summen gekostet haben; aber er brachte sie durch Geiz wieder ein. Die Folgen seiner gewaltthätigen Natur, die genug von ihm verdeckt werden mußten, liegen Ihnen jetzt offen vor, die stärkste Prüfung, die der Kindesliebe beschieden sein kann« –

Pater Maurus besaß den Takt, einen Augenblick innezuhalten …

Seligmann warf einen still beglückenden Rückblick auf seine eigene vorwurfslose Laufbahn als Garçon …

»Der Handel mit der Fulvia Maldachini«, fuhr der Mönch fort, »stammt aus jener Zeit einer wilden Philosophie, aus jener Zeit, wo auch in des sonst so strengen Napoleon Heergefolge' der alte französische Leichtsinn sich wieder regen durfte. Seine Marschälle waren früher Perrükenmacher und Kellner. Als sie auf ihren Lorbern ausruhen wollten, konnten sie nur genießen, wie Perrükenmacher und Kellner, die das große Loos gewinnen, genießen. Napoleon hatte Verwandte,[222] die er, um eine neue Legitimität zu begründen, auf Throne erhob, während seine Schwestern erklärte Courtisanen, seine Brüder Champagnerreisende waren. Der Hof des Königs von Westfalen riß in seinen Strudel Männer und Frauen vom deutschesten Ursprung. Ach, wir waren tief gesunken! Und noch jetzt – im Vertrauen – wir sind ein liebedienerisches Volk, geborne Fürstenknechte! Ich habe in Deutschland Bureaumenschen gesehen, die einem Nero und Caligula ebenso zuvorkommend würden gedient haben wie einem Antonin oder Marc Aurel … Ihr Vater, ein junger Witwer – kein Stand ist gefährlicher, als der der jungen Witwen und Witwer – genoß noch einmal seine Jugendjahre. Trotz seines Amtes war er ein Händelsucher, ein Wettrenner, ein Don Juan … Damals also besaß ich am Münster von Witoborn ein Kanonikat, das ich in alter Weise von einem Vicar verwalten ließ … Ich war Priester geworden, wie andere unter die Soldaten gehen. Mein Bruder Friedrich studirte die Rechte, mein Bruder Max war ein Soldat. Als ich Priester geworden war, reiste ich in die Welt hinaus, war lange in Paris und kam nach Kassel, Erfurt und Witoborn – wie ein Abbé zurück. Goethe, Napoleon und – Grécourt waren meine Gottheiten … Ich schloß mich meinem Landsmann, Ihrem Vater, an. Wittekind konnte so ansteckend lachen, daß man ihm gar nicht lange wegen seiner sonstigen Unarten zürnen konnte … Wir waren ein Kreis wilder Gesellen und ich bekenne und darf es bekennen, da ich später mancherlei Unstern bestand, ich, ein Priester, ich entwarf nach Bildern aus Herculanum[223] und Pompeji Zeichnungen, die in Kassel nicht etwa Frauen zweideutigen Rufs als lebende Bilder stellten, sondern die Gattinnen der Minister, die Töchter der Gesandten, Deutschlands ältester Adel!« …

Eine Pause ließ Löb Zeit, sich die vorhin gesehene Galerie und die Frömmigkeit des jetzigen Adels dieser Gegend in Vergleichung zu bringen …

»Eine der gefeiertsten Tagesschönheiten«, fuhr der Provinzial zu lesen fort, »war die Römerin Fulvia Maldachini. Sie war eine Sängerin in der italienischen Truppe, die König Jérôme neben der deutschen und französischen hielt. Das Repertoire überwachte der Kaiser selbst aus Paris oder aus dem Hauptquartier und verfuhr darin ebenso streng, wie bei Bildung der Ministerien, des Heers und jenes Schattens von Repräsentativverfassung, dem Ihr Vater seinen ›Kronsyndikus‹ verdankte. Ich seh' Ihren Vater noch, wie er die Syndikatsuniform zum ersten Mal anlegte und den Galanteriedegen umschnallte. Ungeduldig, sich bei Eröffnung der Landstände zu verspäten, war er nahe daran gegen seinen Bedienten die etwaige Schärfe des Spielzeugs zu versuchen. Der Maldachini sagte man nach, sie wäre besserer Abkunft, wäre durch Umstände veranlaßt gewesen, ihre Stimme zu verwerthen, eine Stimme, die uns Deutschen mehr Entsetzen, als Bewunderung einflößte. Sie hatte, so jung und schön sie war, in ihrer Kehle eine Tiefe, die mit Proserpina bis in den Tartarus hinunterstieg. Das Theater erdröhnte zwar von Beifall, wenn sie ein: Perfido! knirschte; aber wie ein Dolch lag es neben jeder Note, die sie[224] sang und besonders – wenn man einmal nicht applaudirte« – –

Seligmann wußte nichts von Gluck und Piccini … Aber Norma bot Vergleichungen … Er verstand vollkommen dieses Knirschen, namentlich beim Nichtapplaudiren …

»Es galt für unmöglich, die Gunst der Maldachini zu gewinnen …« las der Mönch. »Das gerade reizte den Kronsyndikus. Die Schönheit der Erscheinung, ihre Gestalt war mächtig, das Geheimniß, mit dem sie sich umgab, bestrickend. Sie nahm die Huldigungen des Freiherrn von Wittekind an, namentlich seine Geschenke; dafür war aber nicht mehr sein Lohn als ein Zunicken im Theater. Sie lehnte sich an den Hof, der sie beschützte, an die große Zahl ihrer Verehrer. Der Kronsyndikus ertappte sich auf einer wirklichen Schwärmerei für sie. Feste bot er ihr, die sie annahm. Er ließ sie zur Fastenzeit, wo die Bühne geschlossen wurde, in den Sommerferien nach Neuhof in sechsspännigen Carrossen kommen … Sie, Herr Präsident, und Ihr Bruder waren damals in Pensionen … Die stolze Sängerin wohnte auf Schloß Neuhof wie eine Fürstin. Nichts aber entlockte ihr eine Zärtlichkeit, nichts eine Erwiderung der Liebesbetheuerungen, die ihr, wie mich Lauscher versicherten, der Freiherr auf den Knieen machte« – –

Lauscher! … Seligmann bebte … Hier, diese Cabinete waren doch wol die Orte, wo man auf Schloß Neuhof lauschen konnte …

»Fulvia Maldachini verlangte die legitime Gemahlin des Freiherrn zu werden. Sie nannte sich eine geborne[225] Marchesina und in der That, der Freiherr von Wittekind beschloß, sie zu heirathen …«

Löb sah fast den Eindruck dieser Worte … Sah fast Terschka's Lächeln …

Mit einer Stimme, deren Sicherheit deutlich verrieth, daß für ihn in allen diesen Mittheilungen nichts Neues lag, las der Provinzial weiter:

»Dies Heirathsproject entsprach an sich ganz dem Charakter jener Tage. Man hatte nicht im mindesten das Gefühl, daß diese Napoleonischen Zustände nur eine Episode wären. Ein völliges Aufopfern des Stolzes und Heimatgefühls trat ein. Fast wäre Ihr Vater seiner Leidenschaft erlegen, wenn nicht seine Freunde dazwischengetreten wären. Freiherr von Malstatt, Graf von Dohrn, Baron von Liebetreu, die Andern – alle widersetzten wir uns. Als Fulvia kalt blieb, höhnisch die Lippen aufwarf und sich in ihren rothen Gewändern, mit dem grünen Kranz auf dem kurzgeschnittenen schwarzen Tituskopf, den Dolch im Busen, wie eine junge Medea zeigte und doch bestrickend schön, doch verheißungsvoll lächelnd wie der beginnende Frühling, da wurde zur Rettung Ihres, wie es schien, geradezu verlorenen Vaters ein Entschluß gefaßt. Wir verpflichteten uns, eine Farce aufzuführen. Fulvia konnte kein anderes Wort deutsch, als soviel nöthig war, kräftig zu fluchen. Sie lebte unter uns, wie im Grunde damals alle diese Fremden; sie lebten im eigentlichsten Sinne des Worts wie in der Verwirklichung eines Traums. So war auch ihr Deutschland nichts als Wald und Flur und Flur und Wald; nur vom Geld sah sie, daß es das allbekannte echte Silber[226] und Gold war. Der Freiherr schlug ihr eine Ehe vor, die aus Familienrücksichten einige Jahre lang geheim bleiben müßte. Fulvia, die die große Stellung ihres Verehrers kannte, die von seinen mächtigen Verwandten wußte, die einsah, daß für gewisse Vermögensverhältnisse auch in Rücksicht auf die vorhandenen Söhne erster Ehe Schwierigkeiten entstehen konnten, willigte ein … In dem Dünkel und Siegesübermuth, der sie, wie damals alle diese abenteuernden Fremden, gegen jede Vorsicht blind machte, steigerte sie sich selbst zuletzt zur Ueberzeugung, daß sie ihre allgemeine Anerkennung als Frau von Wittekind erst von spätern Zeiten abhängig machen müßte … Nun ging unser Leichtsinn so weit, daß der eine künstliche Pacten schloß mit Siegeln von Aemtern, die nirgends existirten, der andere Correspondenzen mit der Familie eröffnete, der dritte falsche Dimissorialen des Pfarrers von Schloß Neuhof brachte, die nothwendigen Depense, die dem Freiherrn gestatteten, sich andernorts trauen zu lassen – kurz, wie es nur in einer Zeit möglich war, wo täglich die größten Ereignisse sich drängten, Throne wankten, Völker in Bangen und Zagen lebten. Wir erfanden und setzten dies Abenteuer unserer ›noblen Passionen‹ wie eine Fastnachtsposse in Scene« …

Löb Seligmann schauderte über den ehrwürdigen Herrn Dechanten, der einst solcher Streiche fähig gewesen …

»In Paris hatte ich einen jungen geistvollen Gelehrten kennen gelernt, eine höchst geniale Natur … Er nannte sich Leo Perl und war ein Jude« …

Löb's Athemzüge wurden ihm jetzt selbst fast vernehmbar.[227] Er mußte aufstehen und zwei Schritte weiter gehen … Dann stand er wieder still, um nichts zu versäumen, und horchte zitternd …

»Perl war«, las der Provinzial, »aus der Gegend meines jetzigen Wohnorts gebürtig und seines Zeichens Rabbiner. Sein Aeußeres war ein gar stattliches. Nach Paris kam er, um in den dortigen Bibliotheken talmudische Manuscripte zu lesen. Ich lernte ihn kennen und schätzen. Im Geiste der Zeit, der nicht mehr der Geist des Deismus, sondern ein Bestreben war, irgendwie aus dem Deismus herauszukommen, standen wir uns nahe. Frömmler waren wir natürlich am wenigsten; das Leben nahmen wir leicht – ich wenigstens gab den Lebensanschauungen eines Alcibiades nichts nach« …

Alcibiades! wiederholte sich Löb und wußte jetzt ein höheres Wort zur Bezeichnung des Leichtsinns …

»Wir hatten aber ein Bedürfniß des Positiven. Freilich – wir suchten es eher in Indien und an den Quellen des Ganges, als in Judäa und an den Quellen des Jordan. Leo Perl war halb aus Scherz halb ernsthaft Kabbalist, was mich als Curiosität anregte. Er sprach die meisten lebenden und mehrere todte Sprachen. Sonst war er aufgewachsen wie ein echter Rabbinerknabe in alten Büchern und mikrologischen Studien; die Welt war ihm auf dem Gebiet des Parquets und der feinern Geselligkeit fremd, jedoch seine zähe Lebenskraft, sein Witz und manche Schalkhaftigkeit halfen ihm auch dort sich zu behaupten …«

Gott im Himmel! sagte sich Seligmann und war nicht einverstanden mit dem Worte: Zähe Lebenskraft …[228]

»Zugleich war Perl gefällig und interesselos, wie ein Kind … Ihm verdank' ich nicht nur den größten Theil meiner Ausbildung, die Läuterung meiner Lebens- und Kunstansichten – sogar meine Existenz« …

Ein Mensch! rief Seligmann schmerzbewegt …

»Durch Perl wurde ich auf das Stift Sanct-Zeno an seinem Geburtsort aufmerksam gemacht und auf dessen alte Rechte und Urkunden … Er begleitete mich nach Deutschland und gab mir Mittel und Wege, diese einträgliche Stelle mit Hülfe des Kaisers von Oesterreich aus der Säcularisation zu retten und für mich zu gewinnen. Ich habe ihm für alles das ein treues Herz bewahrt und meine Schuld ist es nicht, wenn ich zu den vielen Erinnerungen an ihn nicht auch noch die an äußere Beweise meiner Dankbarkeit fügen kann. Plötzlich zog er sich von uns allen zurück … Trotzdem, daß er infolge unsers Leichtsinns Christ wurde«

Löb saß wieder zusammengekauert wie ein Jäger auf dem Schnepfenfang …

»Leo Perl hatte in seinem Wesen zwei unvermittelte Gegensätze. Der gewaltige Mann lebte höchst mäßig, entbehrte wie ein Stoiker und dachte doch wie Epikur. Er vermied die Frauen und duldete jede Ausgelassenheit« …

Wie Veilchen! sagte Löb …

»Er aß trocken Brot und sprach anerkennend über die, denen nur Trüffeln mundeten« …

Wie Veilchen! …

»Er erklärte sich für unfähig, einen vernünftigen[229] Satz zum Druck zu stilisiren und seine zierliche Hand schrieb doch Briefe voll Geist« …

Wie Veilchen! …

»Perl war der strengste Kritiker, der jemals beizende Lauge im Urtheil über ein Ganzes mit der Fähigkeit verband, doch im Einzelnen die Tiefe der Absicht und die Schönheiten des Details zu erkennen« …

Das wurde Löb zu hoch und – »beizende Lauge« führte ihn sogar zerstreuend auf Veilchen's Spitzenhandel …

»Er tadelte in kleinen Aufsätzen ein Buch so, daß man dennoch den Verfasser lieb gewann. Alles das geschah mit so viel Bonhommie, daß man vor Lachen gesund wurde, wenn man seine Scherze las« …

Seligmann hauchte wieder für sich hin: Wie Veilchen! …

»Ich nannte ihn den zwölften Apostel, den Christus zum Ersatz für Judas Ischarioth hätte nehmen müssen. Auch versicherte er mich, sein Vorgänger Judas Ischarioth wäre der unglücklichste aller Menschen auf Erden gewesen: er wisse bestimmt, er hätte Christus geliebt: er hätte ihn mehr geliebt, als Johannes; er hätte Jesus nur verrathen, um ihn zur Entschiedenheit zu bewegen; er hätte sich erhängt aus Verzweiflung, weil ihn ein Werk der Freundschaft mislungen. Würde ihn Jesus, sagte Perl, drei Jahre lang um sich geduldet haben, wenn er nicht Eigenschaften an ihm erkannt hätte, die wenigstens denen der andern Apostel gleichkamen? … So zwischen Ernst und Scherz, bald durch seine Behauptungen erschreckend, bald wieder wohlthuend, konnte[230] Leo Perl plaudern. Wir gewissenlosen Cavaliere – immer ist es mir, als hätten wir nicht Ursache gehabt, uns der spätern Wendung seines Schicksals so zu rühmen, wie wir's zu unserer Beruhigung oft im Stillen thaten« …

Leo Perl starb als christlicher Pfarrer in Borkenhagen … sagte ein dumpfe Stimme, die wol Terschka's sein konnte … Dies Wort schien auf die bindende Kraft eines geweihten Priesters berechnet zu sein …

Vielleicht war er schon heimlich in Paris ein Christ! erwiderte der Präsident mit parodirender Ironie …

»Leo Perl«, fuhr der Provinzial fort, »wurde von uns überredet, in den Betrug der Maldachini miteinzutreten. Ganz in der Laune, die wir an ihm kannten, griff er zum Champagnerglase und sagte lachend zu. Wir verlangten von ihm nichts Geringeres, als sich in ein Priestergewand zu hüllen und in einer entlegenen Kapelle, auf den Gütern eines der Mitverbündeten, bei nächtlicher Weile den Freiherrn von Wittekind mit Fulvia Maldachini zu trauen. Aufrichtig gesagt, ich erstaune noch jetzt über seine Zustimmung … Ich kannte sonst die Gewissenhaftigkeit, die ihn beseelte, bei aller Leichtigkeit in der Beurtheilung anderer« …

Auch für Löb verlor sich sein: Wie Veilchen! und der Spinozismus jetzt in drei bis fünf Jahre Gefängniß …

»Perl war des Ritus so kundig, wie oft kein – Domdechant« –

Der Provinzial mußte wol im Lesen lächeln … Seine Stimme klang heller …

»Die vermessene, wahnwitzige Scene ging vor sich[231] bei Lichterglanz und unter Assistenz eines Meßners, den eine Person spielte, die ich Ihnen nicht nennen will« …

Eines Priesters also! sagte Terschka bedeutungsvoll, ohne den Dechanten selbst zu nennen …

Wie es scheint! bemerkte der Präsident und setzte mit Bitterkeit hinzu: Sie suchen für Ihre Casuistik irgendeine geheime Schraube! Was das bürgerliche Recht mit dem Zuchthaus bestraft, wird bei uns das kanonische nicht zum Sakrament erheben! – Doch lesen Sie! Ich bitte! …

»Eine katholische Trauung muß in dem Ort stattfinden, wo man lebt; dafür hatten wir die Demissorialien. Sie findet in der Regel des Morgens statt; dafür hatten wir wiederum einen Erlaßschein. Das in der Waldkapelle bei Nacht verbundene Paar bestieg eine Kutsche und reiste auf Schloß Neuhof. Dort lebte es dann so, wie es der Freiherr gewünscht hatte. Einstweilen noch kehrte die Maldachini in ihre Stellung zur Bühne zurück. Sie genas später eines Knaben, der auf den Namen der Mutter getauft und von einer Dame erzogen worden ist, die ich – gleichfalls nicht nennen kann« …

Frau von Gülpen! blitzte es in Löb auf … Doch nahm er diesen Gedanken zurück, da er nur die große Anzahl »Nichten« kannte, denen Frau von Gülpen eine so liebende Tante war …

Länger dauerte freilich der Nachklang desselben Namens – bei Bonaventura …

»Die Kämpfe der Maldachini, sich anerkannt zu wissen, gingen mit der Zeit aufs Aeußerste. Sie wurden um so gefährlicher, als sie Verdacht schöpfte und mit Entdeckung drohte. Nur weil ihr Perl öfters in wirklicher Priestertracht[232] entgegentreten konnte, wurde sie beruhigt. Der Kronsyndikus hatte in seinen Neigungen keinen Bestand; bald wurde er gegen sie wie gegen alle; sein Leben auf Neuhof steigerte sich ja bis ins Sinnlose« – …

Löb füllte die Pause, die entstand, mit der Empfindung: Muß ein Sohn das von seinem Vater hören! …

»Bald erfuhr auch diese seine vermeintliche Gattin die gewöhnliche Tücke seines Sinnes. Sie kam zum zweiten mal in die Hoffnung und bestand mitten in dem Gewühl der Flucht des westfälischen Hofes von Kassel 1813 ihre Entbindung. Der Kronsyndikus, sich an den Zusammenbruch des Königreichs Westfalen haltend, verstieß sie … Hülflos wurde sie von den Mitgliedern ihrer Gesellschaft in den allgemeinen Strudel des Schreckens und der Flucht mit fortgerissen … Wir verloren sie aus den Augen und das für immer. Eines Tags erzählte mir Ihr Vater lachend, sie wäre in Paris eine Herzogin geworden … Damals aber brach die Zeit an, wo über uns alle ernstere Stimmungen kamen. Unsere mannichfach neubedingten Lebensstellungen riethen uns, unsere Aufführung zu regeln und so entstand das Bedürfniß, auch über diesen Jugendstreich den Mantel der Vergessenheit zu breiten – zumal, da ich später von Leo Perl zu meinem Schrecken erfuhr, daß er diese Ehe –«

An dieser Stelle war es plötzlich dem Horcher, als hörte er eine Bewegung, die nicht von den Männern im Nebenzimmer kommen konnte, obgleich auch drinnen die durcheinander gehenden Stimmen ein Staunen auszudrücken schienen …[233]

Aengstlich sprang Löb zur Seite und hielt die Decken, die ihm entgleiten wollten …

Alles war wieder still. Glücklicherweise … Denn gerade die ihm werthesten Stellen der Bekenntnisse des Dechanten konnten ihm verloren gehen …

Der Provinzial hatte inzwischen nicht weiter lesen können, denn Terschka sprach … Terschka sprach von der Ehe und forderte Bonaventura auf, zu sagen, worin die katholische Ehe ein Sakrament wäre, ob durch den Priester oder durch die Verbundenen? …

Die Lehre der Kirche läßt es kaum zweifelhaft! lautete die leise und mit tiefster Erschütterung gegebene Antwort des Domherrn …

Der Präsident bat um genauere Erklärung … Doch an dieser so hochwichtigen Stelle mußte Löb Seligmann den Schrecken erleben, daß sich jenes Geräusch wiederholte … Es schien sogar aus dem dritten der dunkeln Zimmer zu kommen … Bebend sprang er zur Seite und fiel fast über die Franzen seines improvisirten Hohenpriestermantels … Dann aber war wieder alles still …

Dafür aber waren die Männer nebenan im lebhaftesten Streit über die Ehe und das Sakrament … Der katholische Glaube in allen Subtilitäten, deren Kenntniß plötzlich von Terschka mehr im Scherz als im Ernst angedeutet wurde, regte den Präsidenten so auf und veranlaßte seinerseits für die Rückhaltsgedanken der Kanonisten so heftige Wortbezeichnungen, daß der Provinzial mit entschiedener Stimme einfiel und rief:

Lesen wir wenigstens den Brief! …[234]

Dann fuhr er fort:

»Die Trauung selbst war allerdings eine Scene, die uns alle mit Schrecken überrieselte … Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde … Die Klänge der Orgel« …

Löb Seligmann konnte nicht nachfolgen …

Der Himmel strafte ihn für die Schuld seiner Väter …

Das Geräusch nahm zu, er hörte einen leise auftretenden Fußtritt – er bekam Gesellschaft …

Unwillkürlich mußte er sich zur Erde ducken hinter einem der größern Sessel …

Es kam Jemand, der gleichfalls die Vortheile der spanischen Wände des Schlosses genießen wollte … Schon war seine Gesellschaft im zweiten Zimmer …

Sie kam leise auftretend jetzt ins dritte …

Es war eine Dame … die Herrin des Schlosses selbst … die Präsidentin …

Löb sah seine Ehre und seine Zukunft auf dem Spiel, wenn die hohe Gönnerin ihn hier ertappte …

Die Decken waren ihm schon entglitten …

Fast fiel die vornehme Frau über sie; sie legte sie murmelnd auf die Tische … Sie schien hier schon orientirt zu sein … Es war die Mutter des Domherrn – und doch so völlig eine andere …

Löb kniete hinter dem Lehnstuhl und berechnete schaudernd, wie die Frau sich wundern würde, wenn sie seinen Hut – Gott sei Dank! – Sein Hut war in einem Schlosse, wo er sich so heimisch fühlen durfte, auf seinem Zimmer geblieben …[235]

Die Präsidentin nahm wie er an der Wand Platz und schien so vertieft in die Worte, die der Provinzial las, daß er es wagte, zwischen zwei Uebeln das geringere zu wählen: Entdeckt zu werden oder über Leo Perl nicht völlig ins Reine zu kommen …

Er mußte letzteres vorziehen …

So kroch er auf allen Vieren in das nächste Zimmer, richtete sich dort behutsam auf, schlich in das erste Zimmer zurück und fand jetzt, wie er erwartet hatte, einen Drücker an der Thür, die auf den Corridor führte. Ein Griff war eben erst aufgesetzt worden …

Sanft folgte jetzt die Thür dem Druck seiner Hand und nun sah er wohl, nun fehlte der praktikable Handgriff draußen …

Leise zog er die Thür wieder an sich und verschwand und war befreit …

Die hellste Mittagssonne schien …

Sie schien so frühlingsahnungsreich, so erlösend von allen Banden des Winters und des Todes, daß er von einem Traum erwacht zu sein glaubte …

Zu dem, was ihm noch an Vervollständigung der merkwürdigsten Geheimnisse seines Lebens fehlte, legte er das Gefühl hinzu, doch lieber im Sichern zu sein, lieber unentdeckt auf Fährten, die ihn leicht aus seiner gegenwärtigen glänzenden Laufbahn entfernen konnten …

Schloß Neuhof wurde ihm zum »Schloß Avenel«.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 199-236.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon