1.

[3] Oesterreich und Wien! …

Wer konnte sonst beide Namen neunen hören und vernahm nicht sofort Musik! …

Und wenn dich auch jetzt noch mit Windesflügeln das Dampfroß in einem einzigen Tag von der Elbe an die Donau entführt, so grüßen den haltenden Zug mitten auf der Heide, mitten in der Nacht, zwei Stationen vor Ankunft in Wien, Clarinette und Geige … Der Sturmwind fegt den Novemberregen an die Fenster … Hinaus blickst du durch die beschlagenen Scheiben … Nichts, als öde gespenstische Nacht vor deinem Auge – und doch empfängt dich Jubel und Lust … Seltsames Bild … Auf einen Stab gestützt, am Rand des Erdwalls, starrt ein Schäfer im zottigen Lammfell auf den haltenden Zug … Ein Wanderhirt, der aus Ungarn kommt und weiter zieht mit seiner nächtlich rastenden Heerde … Die österreichische Geschichte … Einsame Nachtträume der Völker, still am Weg sich sehnend nach Erfüllung … Unter lachender Lust und Freude …

Am Donaustrand – auch da wispert es ebenso – leise und leise – um die alten Ritterburgen … Klagelaute[3] um versunkene Banner und Kronen … Was liegt nicht begraben im feuchten Schoose der Donau! … Was könnte sich nicht melden zur Auferstehung unter dem nächtlichen Sternenhimmel, wenn ringsum auf den düstern Bergwänden die Geisterjungfrauen geheimnißvoll ihre Harfen zu schlagen beginnen! …

Von Tyrol und Salzburg her, aus den sagenhaften Schluchten des Untersbergs und von den echoreichen grünen Bergseen Steiermark erschallt die Zither …

Die Zither, dies liebliche Instrument, könnte Sancta-Cäcilia statt der Orgel erfunden haben …

Du kennst es nur aus dem lampendunstigen und cigarrendurchqualmten Keller der leipziger Messe, kennst es nur aus dem Concert aufgeputzter Jodeltyroler … Aber auch da wird die Zither dich gerührt haben – so, daß du den Genius Oesterreichs hättest fragen mögen:


Was lachst du so traurig, was weinst du so froh?


Wenn so rührend die bebende Saite unter kraftvollem Finger ihre Schwingungen austönt … Wenn der Ton, immer gebrochen, immer in der Geburt des Halls schon halberstorben und doch, neugefaßt vom kunstgeübten Finger, neubelebt, Riesenfermaten aus lauter kleinen zitternden Tremolos hält … Wenn der Ton sich festklammert, gleich einem Knaben, der nicht ruht den höchsten Ast eines Blütenbaums zu erklettern … Auf der höchsten Höhe, in die uns die Töne der Alpenzither schwingen können, welch ein Blick dann auf die Thäler der Erde! … Deine Jugend siehst du, siehst den grünen Plan deiner Kindheit, athmest im Herzen auch die[4] reinste Alpenluft … Selbst unter dem »Soll und Haben« und dem Strumpf- und langen und kurzen Waarenhandel der leipziger Messe in Auerbach's Keller konntest du die Thränen nicht zurückhalten, wenn das berühmte Tyrolerquartett – nur nicht singt! Das schenke ihm die Muse! – nur die Zither schlägt … Die Spielerin sammelt mit dem Notenblatt … Im koketten Brustlatz, mit dem spitzen Hut ein unschönes Mannweib … Aber – sie spielte dir – und sich auf der Zither – Oesterreich … Sie spielte ein Ahnen, Suchen, Sehnen nach unbestimmten, dem Land und Volk selbst nicht klaren Zielen … Sie spielte das Wittern einer Geisterluft, Morgengrauen schönerer Hoffnungen … Sie spielte die Freude, die sich selbst nicht vertraut, und ein Leid, das dem Schöpfer zürnen möchte, weil er die Erde bei alledem und alledem – so schön erschuf …

Musik ist der erste Gruß in Oesterreich …

Auch in Wien …

Die große Hauptstadt ist erreicht, die bremer echte Havanacigarre glücklich eingeschmuggelt … Der Venusberg geöffnet … Tannhäuser zieht den schwarzen Frack an und die gefirnißten Tanzstiefel und vertanzt sich das gebrochene Herz … Strauß und Lanner! Sie geben schon lange Trost für die »Zerrissenheit« selbst im Alpengemüth – selbst für »Weltschmerz« im Pusztensohne …

Hört diese Tänze! … Ein Dämon liegt in ihnen …

Wie mit Kirchenglocken fangen sie an, sanft und feierlich … Das Adagio eines Meßganges … Sittsamer,[5] concordatsmäßiger Niederschlag der Augen … Das führt, denkt man, geradeswegs nach Mariazell und Loretto –! …

Plötzlich wirft der kaum geordnete Nonnenzug die Kapuzen ab … Nun hüpft die Freude – erst wie! ein Füllen lustig über den Klee. Erst nur noch – ein fußtrillerndes Ausschlagen des Uebermuths … Erst nur Kopfüber der Fröhlichkeit, Humor, der, wie Harlekin Colombinen, neckt, spaßelt, thaddädelt – alles so, wie sich nach dem genommenen Ablaßzettel im einleitenden Adagio vergeben läßt …

Dann aber wird der Humor zur Selbstironie … Der Walzer cancant, die Grazie tanzt auch hier wie in Paris mit Formen der Epilepsie, die Melodie geht rückwärts, läßt sich die Augen verbinden, tanzt unter Eiern, schiebt einen Karren auf dem Seil zum Thurm hinauf, geht auf beiden Händen, dreht sich als Kopf überm Rumpf herum und sagt dem Rücken »guten Tag«! …

Halt! springt die Sittenpolizei dazwischen … Metternich's Censur und Moral, die noch in den von uns geschilderten Tagen regieren, und der Dämon wird rasch wieder ein Kind, das unter Blumen spielt, ein Kind, das nur nach Schmetterlingen hascht oder vor einer Hummel entflieht – aber – welch einer Hummel! … Brummelt die so spaßig, so taumlig, so torklig … Baßgeige, wohin rennst du? … Baßgeige, bist du betrunken? – Leute, entflieht! Entflieht! … Staberl spannt seinen Regenschirm auf – haltet doch! Das gibt ja Sturm – Wo führt's dich hin? Zum[6] »Stuwer?« … Sind das Pot-à-Feu's? Döbler'sche Sträußchen? Sternschnuppen? … Wohinaus? …

Ins Firmament! Grad' in die Milchstraße, aber von Würsteln und Kringeln behangen … In einen Kometenschweif von feurigen Nasen … Ein einziger Strohhalm die schwindelnde Brücke, aus der alle Walzenden zugleich über den unermeßlichen Abgrund hinübermüssen … Heiliger Nepomuck, jetzt hilf! … Sie fassen sich alle an, klammern sich an die Rockschöße … Strauß nimmt den Fidibus, steckt noch den Strohhalm über das Weltgebäude hinweg in Brand und nun müssen die Paare hinüber … Die Glöckchen, die klingen, die Pickelflöte, die lacht, die Geigen, die quinkeln über den äußersten Steg hinweg … Das gibt ein Unglück! …

Aber – der Maestro bringt sie alle wohlbehalten in seine Schlußcoda zurück … Baß, Trommel, Posaune finden sich in harmonischer Vereinigung bei den letzten Takten wieder zusammen … Alles bricht in pyramidalen Jubel, in »Fanatismo« aus … Der taktirende Maestro verbeugt sich gelassen und ruhig, »der Tanz ein Leben« oder »das Leben ein Tanz« ist beendet und nebenan – sind die Tische weiß gedeckt für die harmlosesten Bedingungen des irdischen Daseins – »Backhänerln«, »Roßbrateln«, »Beflamoths«, »lämmernen Hasen«, »Engländern« und allen möglichen Nationalgerichten der classischen Küche Oesterreichs …


So war auch das Gewirr, in das Benno von Asselyn eingetreten …[7]

So übertäubt – im Spätherbst, beim Blätterfall und häufigen, noch warmen Regenschauern schon an die bevorstehenden Freuden des Winters erinnert – irrt er durch die Straßen Wiens – verfolgt von bunten Anschlagzetteln, Aufforderungen zu Lust und Freude … Eben sehen wir ihn in die stolze Herrengasse treten …

Fußgänger umdrängen ihn, Wagen rollen, Rosse sprengen dahin … Nur immer Achtung! Ausweichen! Ausweichen! … Auch den von den Regenschirmen niedergießenden Fluten …

Einige Minuten verlieren wir den trotz seiner Aufregung bleichen jungen Mann mit seinem regenfeuchten, schwarzen Bärtchen, im triefenden, neuerfundenen Macintosh, vor Wirrwarr um sich her und in sich selbst – ohne Regenschirm! – …

Aber bald tritt er aus einem hohen, mit Karyatiden geschmückten vornehmen Palast wieder hervor …

Er sinnt: Wohin? … Auf die Schottenbastei hinaus zur Linken? … Auf die Freyung zu meinem guten Chorherrn hinüber, bei dem ich wohne? … Zu den Zickeles, an die du empfohlen und für jeden Abend geladen bist? … Oder noch in irgendein Theater? … Das Burgtheater soll ja – in der Nähe sein …

Da ruft ihn der Portier zurück …

Verzeihen's! … Den Dreimaster lüftend, fragt er: Waren's Herr Baron von Asselyn? …

Mein Name! …

Benno von Asselyn war schon zweimal unter dem hohen Portal des gräflich Salem-Camphausen'schen Palais[8] gewesen, hatte, schon zweimal mit dem Hüter des Eingangs über die Nichtanwesenheit des Grafen gesprochen … Diese Leute haben nur ein Gedächtniß für empfangene Trinkgelder …

Ein Brief für Euer Gnaden vom Herrn Grafen Erlaucht sollte eben zum Herrn Baron hinübergetragen werden! …

Der Brief lag auf dem Sims des kleinen Guckfensterchens der Portierstube … Benno nahm ihn an sich … In der Auffahrt des Palais brannte hochoben eine etwas düstere Lampe … Der Portier deutete auf sein Stübchen und ein dort befindliches Licht, das zwar auch keine Millykerze war, aber es reichte hin für die kurze Lectüre … Eine Secunde und Benno hatte gelesen, daß ihn Graf Hugo aufs dringendste morgen zum Frühstück auf seinem Schlosse Salem erwartete …

Der Portier sah dem schlanken jungen Manne jetzt voll Spannung nach und ahnte und vermuthete etwas … Die Bedienung eines großen Hauses hat ein scharfes Auge für die innern Angelegenheiten ihrer Herrschaft … Hängt Der mit unser Aller Schicksal zusammen? mochte er denken und sah lange hinter ihm her, sah, wie der junge Mann davonschoß und so in Gedanken, daß er immer noch nichts vom Regen zu merken schien …

Benno hatte sich rechts gewandt, ging, auf die morgende kleine Reise gespannt, und fühlte nun doch wol an seinem Hut und den Stiefeln, daß es Zeit war irgendwo unterzutreten …

Er stand am Burgthor …[9]

Da las er an einer vom Thor geschützten Wand:


»K.K. Hofburgtheater.«


»Hamlet, Prinz von Dänemark.«


Er trat in das nahe kaiserliche Theater …

Ein labyrinthisches, von kleinen Winkelgängen durchkreuztes Gebäude nahm ihn auf … Schwer fand er sich zurecht bis zur »Kassa« … Noch war diese offen, aber kein Billet mehr zu haben … In Oesterreich gewöhnt man sich – mit Unrecht – nur an diejenigen Unmöglichkeiten zu glauben, die sich auch dem Klang des Silbers gegenüber nicht wegräumen lassen … Benno's Zweifel fanden kein Gehör. Er verließ ohne Billet die »Kassa« und verwickelte sich in den Gängen …

Ein gefälliger Herr, der sich verspätet zu haben schien und hinter ihm herging, wies ihn zurecht … Der Ausgänge schien es mehrere zu geben … Der freundliche Herr ließ es sogar geschehen, daß Benno in eine Wachtstube gerieth, die ganz den bekannten Kasernenduft hatte … Grenadiere spielten hier Karten und dennoch huschten Damen in eleganten Kleidern hindurch, ja Benno stand sogar plötzlich zweien Gestalten gegenüber, die jedenfalls zu dem Gefolge des Königs Claudius von Dänemark auf der Bühne gehörten …

Der fremde Herr sah Benno's Erstaunen und sagte zu ihm lächelnd:

Ei, Sie sind fremd, mein Herr? …

Schon zog er die Dose gegen den Wachtstubengeruch …

Nicht wahr, das erinnert Sie an eine Dorfkomödie?[10] fuhr er fort. Aber es thut mir leid, daß Sie vielleicht mit diesem Eindruck weiter reisen! Sie haben kein Billet bekommen … Wenn ich Ihnen einen Platz in meiner Loge – Bitte … In allem Ernst … Meine Loge liegt zwar nur im dritten Stock … Despectirlich ist das aber keineswegs, lieber Herr! … Ohne Spaß … ich mache mir sehr ein Vergnügen daraus … Kommen Sie nur! …

Das gemüthliche Air des feinen Herrn war so einnehmend, daß Benno in der That nach einigem Zögern, aber auch fernerem Zureden folgte …

Ich gehe voran! sagte sein Führer und plauderte im Gehen:

Nicht wahr, Sie denken hier an eine mögliche Feuersbrunst? …

Er deutete auf die Enge der Logentreppen … Man ging in die Stockwerke hinauf, wie auf einer Wendeltreppe zu einen: Thurm. Im seltsamen Contrast zu dieser Aermlichkeit standen die reichgallonirten Diener mit ihren Servirbrettern, auf denen sie »Gfrornes« trugen …

Benno entschuldigte sich unausgesetzt über seine Dreistigkeit und schüttelte seinen Hut und seinen Macintosh …

Im Gegentheil! erwiderte sein freundlicher Protector und ordnete inzwischen gleichfalls seine Toilette und mit einen: Kämmchen sein weißes, krauses Haar … Die Dreistigkeit ist auf meiner Seite … Sehen Sie nur, jetzt muß ich Sie auf meine beiden Plätze sogar durchs Paradies führen … Aber zur Linken haben wir dennoch einen kaiserlichen Hofrath und zur Rechten einen Millionär von der haute finance … Die Logen sind[11] bis in den Kronenleuchter hin schon auf Jahre voraus gesucht … Und wie ist das heute überfüllt … Immer so bei denen classischen Stücken jetzt und besonders wann im Kärthnerthor eine durchgefallene deutsche Oper wiederholt wird …

Durch die dichtgedrängte Galerie machte der Logenschließer dem gesprächig satyrischen Herrn Platz und nahm den nassen Macintosh, unter dem Benno sich glücklicherweise im Salonfrack befand … Fast in der Nähe des Kronleuchters lag allerdings die Loge des freundlichen Führers … Die Ränge waren eben nicht zu stark besetzt … Desto voller war es unten … Kopf an Kopf in einem langen düstern Saale, dessen Bauart mehr zum Hören, als Sehen des auf einer schmalen Scene Dargestellten bestimmt schien … Eben sprach der Darsteller des Hamlet eine der längern wirksamen Reden in melodischem Tonfall, mit ebenso viel Kraft wie Anmuth … Befangen suchte sich Benno in seine so schnell und überraschend ihm gekommene Situation zu finden … Sehen konnte er allerdings vom Spiel so gut wie nichts … Er mußte sich an die Worte halten und an seines Begleiters Erläuterungen, die von einem: Guten Abend! hier, von einem: Küß' die Hand! dorthin unterbrochen wurden …

Die Beschwörungsscene war im Gange … »Schwört auf mein Schwert!« sprach Hamlet, der mit hinreißendem, vielleicht zu vielem Feuer gespielt wurde …

Im Saal war alles todtenstill … Man hörte das dumpf aus der Erde kommende: »Schwört!« des Geistes … Alles das hinderte aber ebenso wenig den[12] Protector Benno's wie die Umgebungen immerfort dazwischen leise zu kritisiren und zu »plauschen« …

Schau, schau! sagte ersterer. Das schreibt sich gewiß unser Herr Professor da auf … »Schwört auf mein Schwert!« … Nicht wahr, lieber Professor, das ist für ein italienisches Ohr rein kalmückisch? … »Schwört auf mein Schwert!« … Ich muß aber auch sagen, was der Deinhardstein da wieder für eine Uebersetzung genommen hat … Oder soll's ausdrücklich ein Wortwitz à la Sa – Ei guten Abend, Resi! … Ei, küß' die Hand! … Wie kommt denn heute der Professor in Ihre Begleitung – Protegirt er auch den Herrn – Wie heißt der neue Debutant, den die Kaiserin protegirt? … Kein Zettel da? … Die Unordnung in denen Logen greift immer mehr um sich! … Warum ist kein Zettel da? …

Für Benno mußten diese Absprünge des Tons vom zartesten Gemüth bis zur schärfsten Ironie, jetzt an den Logenschließer zur entschiedensten Grobheit, höchst charakteristisch sein … In einem und demselben »Geplausch« wurde der Logenschließer geputzt, ein junges, heiteres Mädchen, das vor ihm saß, angeredet, eine höchst steife, lange Figur, in einer weißen Halsbinde neben ihr ironisirt, der fremde junge Mann unterrichtet, die Darstellung beurtheilt, alles mit derselben Lebhaftigkeit und den leichtesten Uebergängen eines Seelenzustandes in den andern. Bald Gefrierpunkt der Kritik, bald Siedepunkt des Enthusiasmus … Dazu noch die Dose gezogen und geschnupft und Benno nach dem wievielten Tag seines Aufenthalts gefragt, auch auf die Theuerung[13] Wiens aufmerksam gemacht und bei alledem auch noch eine bedeutende Persönlichkeit in dieser Loge und in jener lorgnettirt …

Die Ringsumsitzenden hatten im Grunde alle dieselbe Manier. Sie fanden wenigstens diese quecksilberne Beweglichkeit, dies Abspringen von der Hitze im Saal auf das heute »ein Bissel« mangelnde Feuer im Spiel »der Uebrigen«, von der brillanten Toilette dieser und jener Fürstin auf die »schauerlich« schlechte und abgenutzte Decoration in der Scene ganz in der Ordnung. Und bei alledem, wenn auch noch soviel kritisirt und »mechant« gefunden wurde, bei einem: Bravo! stürmte sich ein förmliches Liebesfeuer von Enthusiasmus urplötzlich entbrennend aus … Trotzdem, unmittelbar darauf erfolgend, über dies und das ein leises: »Unter der Würde!« …

Benno sah, daß diese Art, sich zu geben, aus dem Gemeingefühl einer Stadt entspringt, deren Bewohner sich gleichsam zu einer einzigen großen Familie bekennen … Die Worte »Herz«, »Gefühl«, »Gemüth« wurden sowol hier, wie auf den Brettern gehandhabt wie eine Prise Schnupftaback … Die schwungvolle Darstellung des Hamlet ausgenommen, war die Vorstellung mehr im Geiste Iffland's … »Vater«, »Mutter«, alle diese Worte wurden mit einer besonders biedern Treuherzigkeit betont. An seinem Protector fiel Benno auf, wie er ihn trotz seiner kindlichen Harmlosigkeit doch ab und zu höchst scharf beobachtete … Sogar eine klug lauernde Kälte lag in dem Blick der kleinen glänzenden Augen mit höchst scharfen grauen Brauen …[14]

Ein Zwischenact trat ein, den eine würdige Musik belebte …

Benno konnte sich jetzt in seinen nähern und entferntern Umgebungen zurecht finden. Auch fiel er selbst schon auf – nach seiner schlanken edeln Gestalt, nach einem feinen Lächeln der anziehenden Gesichtszüge einigen Entfernteren … Nach seiner fremdartigen Aussprache allen Nähersitzenden … Die Plaudereien seines Protectors veranlaßten die vor ihm Befindlichen, sich öfters nach ihm umzusehen …

Nur dem Italiener wurde das Umsehen schwer. Entweder war der Nacken zu steif oder nur die weiße Halsbinde war es. Flüchtig erhaschte Benno eingel bes, von Blatternarben entstelltes Antlitz. Um so lieblicher hob sich von ihm der schelmische Mädchenkopf ab, die Resi, wie sie sein Protector nannte … Es war eine muntere Brünette, nicht mehr »zu jung«, die sich unausgesetzt gar lustig halb italienisch, halb deutsch mit ihrem Nachbar neckte. Der Italiener blieb auch kalt zu diesen Spöttereien. Seine Gesichtsformen schienen von einer Pergamenthaut überzogen zu sein, die sich nicht veränderte, auch wenn er selbst etwas sprach, das andre lachen machte … Resi stritt mit ihm über den Charakter der Deutschen und nannte Hamlet einen Dänen, auf den die Malicen ihres Nachbars nicht im mindesten paßten …

Ma questo strofinaccio ha frequentato una universitâ tedescha! sagte der Italiener …

Benno verstand und sprach das Italienische wie seine Muttersprache … Er durfte annehmen, daß der Professor, der Hamlet seiner Thatlosigkeit wegen einen[15] »Waschlappen« genannt hatte, ein Musiker war. Resi lenkte ihre jetzt zorniger werdenden Erwiderungen immer auf das musikalische Gebiet …

Sein Führer, der endlich den Theaterzettel bekommen hatte, las diesen laut, lachte dabei über den Streit, blinzelte Benno zu und sagte:

Der Laërtes – der soll engagirt werden … Eine Empfehlung aus München … Der ganze Hof ist deshalb zugegen … Resi, wie kommt's, daß heute der Dalschefski seinen Platz abgetreten hat? … Herr Professor, eine seltene Ehre für die deutsche Kunst! … »Müller« heißt der Debütant … Die allerhöchsten Herrschaften sind so außerordentlich gnädig … Der Mensch kann aber seine Beine noch nicht halten …

Benno würde an dem kleinen Kriege auf den Bänken vor ihm, wo sich noch eine ältere Dame und ein anderer Herr befanden, seine harmlose Freude gehabt und sein schmerzlich zerrissenes, hochgespanntes und sozusagen überbürdetes Gemüth erleichtert haben, wenn nicht plötzlich im Lauf der Neckereien sein Begleiter mit einem Namen wäre angeredet worden, der ihm das Blut erstarren machte …

Und mehr noch …

Kaum hatte er die Anrede: »Herr von Pötzl« zum zweiten mal vernommen, da stieg sein Schrecken bis zur Besinnungslosigkeit, denn im weitern Verfolg der wieder neubegonnenen Handlung auf der Bühne reichte ihm sein Führer das Perspectiv mit den geheimnißvoll geflüsterten Worten:

Jetzt aber! Jetzt schauen's! … O ich bitt'! … Da –[16] Das ist merkwürdig! … Unser Schicksal! Im Hamlet! … Dieser Herr Müller ist gut empfohlen … Nein, schauen's doch, Resi! … Beim Staatskanzler – Alle die römischen Herrschaften … Der Principe Rucca … Und die Dame da … Das ist die Herzogin von Amarillas …

Benno lehnte das ihm dargereichte Perspectiv ab …

Seine Hand zitterte … Sein Athem versagte ihm …

Bald richtete er sein Auge starr auf den Träger eines Namens, der – er wußte es jetzt – seiner Schwester Angiolina gehörte, bald auf die ihm noch im fernen Lampen- und Lichtdunst schwimmende Erscheinung – seiner Mutter – –

Das Spiel ging indessen weiter … Aber es wogte ein Rauschen und Flüstern durch den Saal …

Die eben eingetretenen fremden Herrschaften, die mit dem aus Rom gekommenen Cardinal Ceccone in Verbindung gebracht wurden, erregten das allgemeinste Aufsehen … Es kamen immer mehr …

Der Principe Rucca war ein junger Mann im rothen, gestickten Kleide …

Auch der Name Maldachini wurde genannt …

Alle Gläser richteten sich nach jener Logenreihe und Resi's Frage sogar: Ja, mein Gott, trägt denn der kleine Rothrock nicht gar ein schwarzes Pflaster überm Auge? mehrte Benno's Aufregung … Denn nach einem erst heute früh erlebten Vorfall sah er, daß er mit den Personen, die er mit heißester Sehnsucht suchte und – mit Entsetzen und Grauen floh, bereits zusammengetroffen war, ja mit ihnen schon in einer Verbindung stand …[17]

Zweimal erwiderte er, auf alles Erläutern und Zeigen seiner Umgebungen.

Wessen – Loge – ist das? …

Des Staatskanzlers! hieß es …

Doch auch die Logen neben jener hatten sich inzwischen gefüllt …

Benno kämpfte mit sich, ob er bis zu Ende bleiben sollte …

Hamlet's Lage war seine eigene … Auch mit ihm sprachen ja Geister, die außer ihm hier niemand sah … Auch ihm sträubten Enthüllungen das Haar zu Berge; auch ihn hätten sie wach rufen sollen zu Thaten der Sühne und Gerechtigkeit … Aber auch ihm lähmten hundert Erwägungen den Arm … Wahnwitz, das fühlte er jetzt, kann den ergreifen, der ein Ungeheueres machtlos im Busen bergen soll … Auflodern, allen zurufen hätte er mögen: Das ist ja meine Mutter! … Er hätte seinen Nachbar anrufen mögen: Wie trägst du, du nur den Namen meiner Schwester? … Ophelia, angeredet von Hamlet mit dem unendlich schön gesprochenen Abschiedswort: »Geh' in ein Kloster!« verwandelte sich ihm in die Trägerin seiner eigenen Leiden … Daß man dann sagte, die Gräfin Olympia Maldachini sähe so keck sich um, wie in einem Ballsaal, ließ ihn vollends erbeben … Auch sie kannte er ja … Sie schon ihn … Die Loge war zu entfernt für sein Auge ohne Bewaffnung durch ein geschärftes Glas … Dennoch bog er sich schwindelnd über, um zu sehen – um starren zu können …

Wieder war inzwischen der Vorhang gefallen … Wieder begann eine Zwischenmusik …

Der Professor, der inzwischen ebenfalls in große[18] Aufregung gerathen war, erklärte, nur eben dieser »Römer« wegen hätte er den Platz des Professors Dalschefski übernommen … Er zankte mit Theresen … Er war aufgestanden und sprach jetzt mit höchster Lebendigkeit seiner bisher so starr gewesenen Gesichtszüge die italienischen Worte:

Ja! Das sind sie! … Die Herzogin kenn' ich nicht … Aber sehen Sie nur den Grasaffen, den Rucca! … Und das, das ist die kleine Gräfin Olympia! … Corpo di Bacco! … Als zehnjähriges Kind schon hatte der Fratz sich in einen Apollino im Braccio nuovo verliebt, verlangte vom Cardinal Ceccone, ihrem – Onkel, ihm einen Kuß geben zu dürfen, springt selbst an den jungen marmornen Gott hinauf, umschlingt ihn und beide stürzen vom Postament herunter … Thorwaldsen hat ihn restauriren müssen … Und ein ander mal – ha, da hat – diese Olympia – –

Ich muß aber bitten! Schweigen Sie! unterbrach ihn Resi entrüstet … Die Dame hat auch bis dahin Ihre Verleumdungen gehört! Eben richtet sie das Lorgnon auf Sie! … Wahrhaftig … Herr von Pötzl, schauen's doch! … Das ist ja prächtig! Sie ruft den mit dem schwarzen Pflaster, auch die Herzogin und die sämmtlichen Cavalieri – geben Sie Acht, Professor, Sie müssen ihr Revanche geben, Sie unverbesserlicher Carbonaro! …

Herr von Pötzl bestätigte alles, staunte und lachte übermäßig …

Benno aber stand, als schwebte er, ein Fieberkranker, in den Lüften …

Nein, die ist ungenirt! … sprach alles ringsum durcheinander … Wie in Neapel! …[19]

Sie grüßt wirklich hier herauf! lachte Herr von Pötzl … In der That bestätigten alle, durch ihre Lorgnons blickend, daß die Kleine mit dem Diamantendiadem zu ihrer Loge hinauflache …

Sie ergriffe eben das Taschentuch und winke herüber, ergänzte Resi …

Wem gilt denn das? … sagte Herr von Pötzl hocherstaunt und schaute sich überall um und fixirte endlich den Fremden neben sich, seinen Protégé …

Dieser stand keiner Besinnung fähig … todtenbleich … Eben streckte Benno die Hand vor, um das ihm dargereichte Perspectiv zu ergreifen, da blieben ihm die Finger wie gelähmt hängen …

Er sank bewußtlos auf seinen Sessel zurück …

Sie sind unwohl! rief Herr von Pötzl erschrocken … Ein Glas Wasser! Bitte … oder kommen Sie … Frische Luft! …

Benno erhob sich allmählich, lehnte Hülfe ab … Das Spiel begann eben wieder … Er wandte sich zum Gehen …

Ja, gehen Sie lieber, mein bester Herr, sagte Herr von Pötzl ängstlich besorgt … Der Dunst der Lampen hier oben ist aber auch heute fürchterlich …

Benno wollte ablehnen … Herr von Pötzl führte ihn, während alles rings voll Theilnahme aufgestanden war, selbst durch die Sitzreihen der Galerie und hinaus auf den Corridor.

Es war der zweite Tag, den Benno in Wien verbrachte.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 7, Leipzig 1860, S. 3-20.
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