12.

[330] Einmal, eh' sie scheiden,

Färben sich die Blätter roth,

Einmal noch in Freuden

Singt der Schwan vor seinem Tod –

Und an edeln Bäumen,

Wenn der Winter vor dem Thor,

Bricht in irrem Träumen

Wol ein Frühlingsreis hervor –

Stirbt der Lampe Schimmer

In des Dochts verkohltem Lauf,

Zuckt mit hellem Flimmer

Einmal noch die Flamme auf –

Einmal wird gelingen,

Eh' mein Stundensand verrollt,

Mir von guten Dingen

Eines noch, was ich gewollt –

Eins wird sich erfüllen,

Eine Freude wird, wie Wein,

Schäumen – überquillen –!

Mag es dann geschieden sein.


So fühlte Bonaventura in einem Winter, wo die Novembertage noch fast sommerliche Sonnenstrahlen entsendeten[331] und die Mandelbäume zum zweiten male zu blühen, die Hecken neue Sprossen zu treiben begannen …

Die Vorlagen waren fertig, die Bonaventura, überdrüssig der wieder aufs neue begonnenen Anfeindungen – jetzt infolge seiner Predigt – sich in der That erboten hatte, dem Cardinal-Legaten in Wien zu überbringen … Benno hatte überraschend schon aus Rom geschrieben und welchen Inhalt barg sein der Sicherheit wegen durch reisende Geistliche überbrachter Brief! … Wie erschütternd, wie befruchtend für ein ganzes Leben! … »Komm' auch Du herüber«, hieß es nach der Erzählung alles dessen, was Benno in so wenigen Tagen erlebt hatte; »ich weiß einen Bischofssitz in Italien, der nur allein Dir gebührt und der Dir angetragen wird, sobald Du in Wien angekommen bist und an einem gewissen Altar zu ›Maria Schnee‹ dreimal celebrirt hast« … Er hatte den Sitz, um Aufregung wegen Paula zu vermeiden, nicht genannt … Und vom Onkel Levinus war in der That die feierliche Aufforderung gekommen, seine Ermunterung zu Paula's Ehe zu wiederholen, aber nur erst dann, wenn er den Grafen Hugo persönlich gesehen, gesprochen und seine Würdigkeit geprüft hätte …

Im ersten Schmerz nach dem Empfang dieses Briefes sagte Bonaventura: Das ist das erste strafende und herbe Wort, das ich aus Paula's Munde vernommen! … Eine auferlegte Buße! Eine Strafe! … Sie will, daß ich den Kelch, den ich ihr so kalt reichte, selbst leeren helfe! …

Jedes Glöcklein in der Mette, jeder Orgelton sprach ihm jetzt: Sustine et tolle! Halte aus und trage …[332]

So wollte er denn reisen und länger fortbleiben … Er wollte nach Italien, nach Rom … Er nahm Urlaub auf ein Jahr …


O du Kreuz, du Holz der Sühne,

Wahres Heil der Welt, o grüne,

Grüne, blühe, sprosse fort –!


war der Text seiner Abschiedspredigt …


O crux, lignum triumphale,

Mundi vera salus, vale,

Fronde, flore, germine –


Worte des Hugo von Aurelia, die ihm Gelegenheit gaben, auch von der »Schönheit der Leiden« zu sprechen …

Bonaventura stand wieder unter doppelter Anfeindung … Ebensowol von der Regierungs- wie von der kirchlichen Seite … Zwar hatte er die Genugthuung erhalten, daß gegen Cajetan Rother eine Untersuchung eingeleitet wurde, die der junge Enckefuß mit Erbitterung führte … Bonaventura hatte in Betreff der jetzigen Madame Piter Kattendyk richtig geahnt, daß der ungetreue Hirt den religiösen Hang und Treudchens Trauer ebenso gemisbraucht hatte wie ihre geringen Geisteskräfte … Er hatte sie zur Heiligen – methodisch erziehen wollen …

Der Kampf der Curie, um eine solche Offenbarung bestialischer Verwilderung nur innerhalb der geistlichen Gerichtsbarkeit zu bestrafen, ging aufs äußerste … Die Kirche ist gegen die Verbrechen ihrer Kleriker strenger, als irgend ein weltliches Gesetz; nur will sie dann allein strafen und dem Staat den Einblick versagen … Bonaventura mußte Zeugenaussagen vor Gericht geben –[333] Auch das mehrte sein Unbehagen. Er sehnte sich für immer fort … Er hatte die Ahnung, nicht wiederzukommen …

Je vollständiger die Rüstung Bonaventura's zu seiner Reise sich abschloß, je mehr sie den Charakter annahm, den nur allein Renate nicht bemerkte, daß er vielleicht in ein ganz nur der Gelehrsamkeit gewidmetes Benedictinerkloster an der Donau oder in der Schweiz trat, desto banger wurde ihm die Erinnerung – – an Lucinde …

Wird sie, sie dich so ziehen lassen? sagte er …

Er erfuhr von Thiebold, daß sie zwar aus dem Kattendyk'schen Hause zur Frau Oberprocurator Nück gekommen wäre, aber nur auf acht Tage, und daß sie plötzlich dort verschwunden war …

Thiebold erröthete, als er gestand, daß Nück in seiner Verzweiflung auch zu ihm gekommen war und ihn gebeten hatte, beim Domkapitular anzufragen, ob dieser keine Auskunft über sie wisse … Bonaventura nahm acht Tage vor seiner Reise keine Beichte mehr ab … Er erschrak theils über die Voraussetzung seiner nähern Bekanntschaft mit Lucindens Verhältnissen, theils in Vorahnung, daß mit dieser Nachricht vielleicht wieder seine Reise in Zusammenhang gebracht werden mußte … Die Abschiedsscene vor seiner Reise nach Witoborn, die Erinnerung an die damals gegen ihn ausgestoßenen Drohungen stand schreckhaft vor seiner Phantasie …

Noch vor acht Tagen begegnete ich ihr in der Kathedrale, sagte er … Sonst seh' ich sie ja schon lange nicht mehr, da sie meinen Beichtstuhl nicht – besucht …[334]

»Besuchen darf!« – hallte es in Thiebold wieder … Es wußte dies die halbe Stadt …

Nachdem Thiebold mit tausend Segenswünschen, mit guten Rathschlägen, mit Grüßen an Benno, mit Verwünschungen der großen Demosthenes-Rolle seines Vaters bei den Landständen gegangen war, fiel erst recht der Schrecken der Mittheilung über Lucindens spurloses Verschwinden auf Bonaventura's Brust …

Es war am Abend vor der Abreise … Sieben Uhr … Draußen schon lange alles finster – Sein Gepäck geordnet … Dann und wann blickte er auf die matterhellten öden Gänge des Kapitelhauses … Es war ihm, als müßte es plötzlich pochen und als würde ihm wieder eine äußerste Erregung kommen …

Konnte er sich verbergen, daß er Tag und Nacht an Lucinde dachte! … Furcht vor ihren Drohungen zwang ihn dazu … Jeder irgendwie bedeutendere Vorfall in seinem Leben weckte die Erinnerung an die ihn betreffenden Verhältnisse, die sie in ihrer ewigen Obhut zu haben erklärt hatte … Diese Drohung, daß sie jeden Segen, den er zu verbreiten hoffte, in Fluch verwandeln könnte, vergaß er nicht und nahm sie, immer und immer wieder gedenkend, nicht so leicht, wie der Onkel ihm gerathen hatte …

An diesem Abend vor seiner Abreise kam ihm wieder die trübe Vorstellung mit ganzer Macht … In sich steigernder Angst hatte er seine Thür verriegelt … Er hatte sich allen Abschieden entzogen … Die Briefschaften an den Cardinal Ceccone, in denen die Curie um die Nachgiebigkeit Roms flehte, lagen in einem geheimen[335] Fach eines seiner mehrern Koffer … Er rechnete an seiner Baarschaft, siegelte die Briefe nach Witoborn und Kocher am Fall und wollte zeitig zur Ruhe … Das Dampfschiff brach schon in erster Frühe auf …

Er hatte die Karte vor sich ausgebreitet … Sein Auge schweifte bald auf die nächsten, bald die entferntesten Gegenden … Auf Kocher am Fall, wo ihn ein Bangen ergriff: Den theuern Onkel siehst du nicht wieder –! … Auf Westerhof und Witoborn, wo so viele Herzen gerade jetzt mit gleichen Empfindungen an ihn denken mochten … Paula! … Ein verklungener Glockenhall … Jene »letzte Freude« seines Liedes vielleicht – »aufschäumend« vor dem Tode … Die eigene Mutter – die ihre Theorie vom Nichtwissen, das dem Menschen bei mislichen Dingen besser wäre, als Wissen, auch auf die Verhältnisse mit Benno übertrug und dem Sohn noch vor kurzem geschrieben hatte: »Wittekind ist so gewissenhaft; rege ihn nicht auf mit Benno's Mittheilungen aus Wien! Allein schon die Nachricht über den Tod Angiolinens raubte ihm die Ruhe der Nächte« … Auf die Donau sah er dann, auf Wien und seine Umgebungen, wo er den Grafen Hugo prüfen sollte –! Prüfen, glaubte er, ohne daß es Graf Hugo wußte – Ach, es war wieder jene Welt der Beichtgeheimnisse, in denen er lebte, jene Welt, wo der Sohn vom Vater, die Tochter von der Mutter, der Schüler vom Lehrer, Gesinde von der Herrschaft spricht … Schon hatte er jene katholischen Priesteraugen, die so irrend umgehen … Wird es dir in Rom, auf das er blickte, gehen wie[336] dem Augustinermönch Luther? … Wirst du Castellungo berühren dürfen und deine Mutter – wirklich als in Bigamie lebend erkennen? … Wirst du dich nur bei Nacht zu Frâ Federigo stehlen dürfen, wie Nikodemus zum Herrn? … Wirst du so fortleben in deinem Beruf? Halb in Haß, halb in unerklärter Liebe zu ihm? … Wo ist Versöhnung? … Und siehst du Benno und die beiden flüchtigen Alcantariner? … Siehst du das Schreckbild unsers Glaubens Klingsohr? … Siehst du den »Abtödter«, der – vielleicht am Brand in Westerhof betheiligt ist? … Sinnend fiel sein Blick auf die Karte dahin und dorthin … Mit den Alpen brach sie ab … Da lag noch der St.-Bernhard … Da lag St.-Remy, wo sein Vater begraben sein sollte … Da Aosta … Dann dachte er wieder, grade diese Gegend müsse er meiden, eben des Vaters selbst wegen, der todt sein wollte … Zuletzt ging es auf der Karte bergab gen Süden mit hundert kleinen Gebirgswässern, die wie Fäden eines Nervengeflechts dahinschossen, durchschnitten vom Längenmaß der Karte … Castellungo, Cuneo und Robillante lagen tiefer abwärts, am Fuß der Meeralpen, jenseit Turins …

So in das geheimniß- und verhängnißvoll Leere blickend, erschrak er vor einem plötzlichen Pochen …

Er glaubte sich geirrt zu haben … Das Pochen war leise und wiederholte sich nicht …

Das große Gebäude war in seinem Haupteingang verschlossen … Eines Ueberfalls verdächtiger Personen konnte er nicht gewärtig sein …

Das Pochen erfolgte nach einer Weile zum zweiten[337] mal und Bonaventura glaubte nun schon nicht anders, als Lucinde stünde draußen …

Der erste Strom, der sich von seinem erregten Gemüth über alle seine Nerven ergoß, war Todschrecken …

Seine Hand langte nach dem Klingelzug und klingelte …

Es währte lange, bis seine trauernde Renate kam und die verweinten Augen barg …

Sehen Sie doch, wer draußen ist! sagte er bebend … Ist es – die Ihnen – bekannte – Person, so bin ich nicht zu sprechen …

Mit diesen Worten ging er in das Nebenzimmer und horchte an der Thür, wer sich meldete …

Renate hatte geöffnet …

Die Stimme mußte nur leise sprechen … Bonaventura konnte nichts vernehmen …

Renate kam zurück und berichtete:

Es ist eine kleine gebrechliche Person … Eine Jüdin, wie sie sagte … Den Namen hab' ich nicht behalten …

Eine Jüdin konnte zu Bonaventura nur kommen, um über die Taufe zu sprechen … Der Fall war ihm neu … Lucinde war es jedenfalls nicht … Diesem Besuch konnte er sich nicht entziehen …

Ich esse nur wenig zu Nacht, sagte er milder zu Renaten, und gehe dann zeitig zur Ruhe …

Renate seufzte und ließ ihren »Sohn« allein …

Er betrat sein Zimmer … Die bescheidene Jüdin war auf dem Corridor geblieben …[338]

Treten Sie doch näher! sagte er und leuchtete mit der Studirlampe an die wieder von ihm geöffnete Thür …

Eine kleine Person, in einen schön glänzenden schwarzen Atlasmantel gehüllt, der beim Verbeugen aufschlug und die rechte Schulter etwas höher zeigte, als die linke, in einem warm gefütterten großen Hut, aus dem zwei lange schwarze Locken und im Grund nur eine Nase heraussahen, trat einen Schritt näher und bat für die späte Störung um Entschuldigung …

Womit kann ich dienen? fragte Bonaventura und stellte die kleine grünlackirte Studirlampe auf den Tisch, dem befangenen Besuch einen Sessel darbietend …

Ich würde nicht gewagt haben – begann die kleine Gestalt – Herr Priester – Hochwürden – in so später Stunde – aber da ich – Verwandte – die von Ihrer Güte, lieber Herr – ich meine Herrn Seligmann in Kocher am Fall – …

Herr Löb Seligmann! unterbrach Bonaventura die nur hustend, athemlos und räuspernd hervorgebrachten Worte mit der ihm eigenen Herzlichkeit … Ist der Treffliche ein Verwandter von Ihnen? …

Nicht zu nah und nicht zu fern! Gerade wie bei Verwandtschaften am besten … lautete die schon dreistere Antwort Veilchen's, die jetzt ihren Namen Igelsheimer wiederholte und sich setzte, indem sie, als Bonaventura ihren Namen fragend nachsprach, sogleich fortplauderte:

Für unsere Namen können wir Juden nicht … Die hat uns die Polizei gegeben … Wenn auf die Aemter zu viel Moses und Isaaks und Abrahams kamen und[339] die Schreiber nicht wußten, welches der Abraham Moses und welches der Moses Abraham war, so nahmen die Herren Actuare voll Zorn ganze Gemeinden her und sagten: Dem wollen wir bald ein Ende machen! … Und da die Juden ohnehin die Vorstellung von Thieren auf der Jagd wecken, so kamen die schönen Namen Bär, Hirsch, Löwe, Wolf, Adler, auch Hausthiere: Ochs, Kuh, Rindskopf, Rindsmaul – Nur den Esel gaben sie keinem, weil Dummheit auf keinen von unsern Leuten passen wollte! Andere Namen sind nach den Orten gewählt, wo die Leute her sind, Fuld, Worms, Oppenheim – Ich weiß nicht, wo auf Ihrer Landkarte da mein Stammsitz Igelsheim liegen mag …

Durch diese überraschend dreiste, aber anspruchslos vorgetragene Rede war Bonaventura gewonnen … Er stützte den Arm auf seine Landkarte und rückte die Lampe näher, um, wie er sagte, vielleicht einen Familienzug mit der braven Frau Lippschütz zu entdecken, die in Kocher am Fall zu seinen speciellen Gönnerinnen gehört hätte …

Ich bin aus der Art geschlagen! sagte Veilchen. Die Seligmanns sind sich untereinander nicht ähnlich. Der, bei dem ich wohne, Nathan ist er geheißen, in der Rumpelgasse, gleicht zu seinem Bruder, wie ein Holzapfel einem Paradiesapfel …

Bonaventura hörte kaum den Namen der »Rumpelgasse«, als er sich auf Lucindens letzte Beichte, auf Klingsohr's Beziehung zu dem Trödler Seligmann und die dabei erwähnte Hülfe einer Jüdin besinnen mußte …[340]

Schon betroffen fragte er nochmals, womit er dienen könnte …

Veilchen machte eine Pause und sprach, ihre zurückkehrende Verlegenheit durch das Lüften ihres Mantels verbergend:

Herr Priester! Ich möchte mir die Frage erlauben: Was halten Sie – von – der menschlichen Consequenz? …

Bonaventura glaubte nun doch, daß von einem Religionsübertritt die Rede sein sollte und antwortete:

Sie kann eine große Untugend sein, wenn sie mehr ist, als Treue gegen uns und andere …

Mit Erlaubniß … Treue gegen andere kann nicht Consequenz sein, entgegnete Veilchen … Was die andern Liebe und Treue nennen, die man ihnen gewähren soll, führt den Menschen immer im Kreise rundum … Die Liebe ist ja das eigensinnigste Ding von der Welt und Gegenliebe kann nicht consequent sein …

Bonaventura fand in diesen Worten keinen Uebergang zum Bedürfniß der Taufe …

Ich sagte schon, sprach er, daß ich die gerade Linie in unsern Handlungen nicht liebe, wenn sie zum todten Gesetz wird … Aber keine wahre Liebe wird Untreue gegen uns selbst verlangen …

Herr Priester, die Liebe will den Löwen zum Hasen, den König zum Bettler, den Philosophen zum Narren machen – Können Sie bleiben, was Sie sind, so hört die Liebe auf … Frauenliebe gewiß … Eine Frau verlangt, daß der Mann um ihretwillen seinen Glauben abschwört … Sie verlangt's nicht immer und nicht[341] im ganzen Jahr und nicht bei feierlicher Gelegenheit; aber wenn sie gerade schlecht geschlafen hat, sagt sie: Das hilft gegen Kopfweh! und es muß dann sein …

Wohl jedem, der von einer solchen Liebe verschont wird! entgegnete Bonaventura lächelnd …

Aber alle Liebe ist so! meinte Veilchen … Die Liebe will im andern untergehen, um in sich selbst – – desto schöner wieder aufzustehen … So lieben wir einen Mann, so die Natur, so Gott … Was ist Religion, Herr Priester? … Gefühl von Kraft oder Schwäche? … Bei den meisten wol nur von Schwäche … Gott soll uns lieben, weil wir ihn lieben … Er soll uns das ewige Leben dafür auswechseln … So sind wir auch meist uns selbst getreu, d.h. »consequent«, weil uns Inconsequenz ein heroisches Opfer kosten würde …

Wo sollen diese Sophismen hinaus? dachte sich Bonaventura …

Sie werden ungeduldig! sprach Veilchen, blickte nieder, schwieg eine Weile und begann ihren Hut etwas aufzubinden … Die Verlegenheit machte ihr heiß …

Bonaventura nahm ihr ganz den Hut ab und legte ihn auf den Tisch …

Danke! sagte sie, indem sie sich die langen Locken strich … Ich bin eitel … Sie könnten glauben, mein Gesicht wäre blos Nase … Sie ist freilich mein stärkstes Organ geworden … Alle Menschen haben in ihrem Alter einen Theil des Körpers, der die Oberhand gewinnt … Beim einen ist's der Magen, beim andern die Galle, beim dritten die Leber – bei mir die Nase! … Ein feines Organ! … Der Sitz der Phantasie! …[342] Die Phantasie hab' ich in meiner dunkeln Rumpelgasse nöthig! … Ich gehe des Jahrs nicht zehnmal an die Luft … Ich will nicht! … Was sag' ich – »will nicht!« … Mein Wille stellt sich an den Kleiderschrank und wird verdrießlich, wenn er kein Kleid findet, das ihm zum Ausgehen paßt … Consequenz! Wille! … Ich kenne z.B. ein schönes junges Mädchen – …

Veilchen hielt inne … Ihr Auge blitzte forschend auf …

Bonaventura athmete hörbar …

Dem schönen Mädchen hab' ich oft gesagt: Deine Liebe, Kind, ist ein Irrthum; ist blos eine Lüge gegen dich selbst! Dich verzehren Eifersucht, Stolz! Deine Liebe gegen den gewissen Mann ist sogar blos Rache! Willst ihn nur quälen, immer an dich erinnern – sagst darum: Ohne ihn sterb' ich! … Das Mädchen gibt's zu. Gibt zu, daß ich ihr sage: Du bedarfst dieser Einbildung, um Kraft zu haben, nicht gegen andere schwach zu sein! Möchtest sündigen – wenn die Natur sündigt – aber aus Berechnung klammerst du dich an deinen Wahn – nennst den Treue! … Schüttelt sie den Kopf! … Wahr ist's, das Mädchen ist geflohen vor einem schlechten Mann und wohnt versteckt in meinem Schlafstübchen und ist krank – aus »Liebe!« …

Bonaventura hatte sich bei diesen Worten, die mit einem prüfenden, fast listigen Forschen der von unten her zu ihm aufblickenden Augen vorgetragen wurden, schon erhoben …

Zwei Empfindungen kämpften in seiner Brust … Ein Gefühl der Entrüstung über die dreiste Absicht dieses[343] Besuchs und die Verzweiflung um Lucindens nicht endendes Wühlen … Daß er eine Botin Lucindens vor sich hatte, sah er jetzt …

Veilchen erschrak vor seinem Aufstehen und sagte einlenkend:

Bitte, mein Herr! Was ein römischer Priester gelobt hat, ich weiß es sehr gut und hab' es einst selbst er fahren … Sie haben gewiß, setzte sie mit sich ermuthigendem, schärfern Ton hinzu, von jenem Leo Perl gehört – den Ihr Herr Oheim einst verführte – zu – einem gewissen Betruge …

Dies Wort kam ganz muthvoll …

Bonaventura starrte die kühne Sprecherin an, die über einen so mächtigen Blick dann doch den ihrigen wieder niederschlug …

Bitte, Herr Priester! flüsterte sie … Vergebung … Aber wahr ist's doch … Herr Leo Perl hatte mir die Ehe gelobt … Ich weiß nicht, ob ich zum Lachen bin, wenn ich mit dieser Gestalt sage, daß ich nach Witoborn reiste mit unserer Base, Henriette Lippschütz, und mit ihrem Mann – und daß wir ein Fenster mietheten dem geistlichen Seminar gegenüber … Ich war nicht schön, aber ich hatte noch Wangen um diese große Nase … Ich hatte einen Mund noch mit Lippen … Kein Bild war ich, aber weiße – unechte Perlen standen mir gut im schwarzen Haar … Der arme Narr, der ein Heiliger werden wollte, weil er Jesum von Nazareth glaubte bei der falschen Hochzeit beleidigt zu haben – …[344]

Bonaventura konnte keine Worte für sein Erstaunen finden …

Vom Kronsyndikus von Wittekind mein' ich die Hochzeit mit der Italienerin! …

Veilchen, die einzige Vertraute Löb Seligmann's, sprach fest und bestimmt …

Während Bonaventura vor Entsetzen sprachlos starrte, kehrte Veilchen auf die Erscheinung, die sie am Fenster abgegeben haben mochte, zurück und sagte:

Jedes Auge ist schön, wenn Thränen darin stehen … So erregte auch mein bittender Gruß, mein verzweifelnder Blick in das geistliche Seminar hinüber, wo ich den gelehrten Mann hinter Eisenstäben erblickte, seine Verzweiflung … Er wollte umkehren … Ich erfuhr es … Aber es war zu spät … Um der Thränen willen, die ich Ihrem Oheim verdanke, Herr Priester, verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen in so später Nacht aufs Zimmer komme und Sie bitte: Hören Sie dem Fräulein Lucinde, ehe Sie reisen, und wenn in diesem Augenblick, noch einmal – einmal – die Beichte …

Bonaventura war über die Bekanntschaft einer dritten Person mit diesen tiefsten Geheimnissen seiner Familie außer sich …

Er stand nur, unbekümmert um Lucindens jetzt vorauszusetzende unmittelbare Nähe, unbekümmert um die durch einen solchen Nachtbesuch ihm drohende Beschädigung seines Rufes, und starrte die Sprecherin mit vor Schreck geöffneten Augen an …

Fürchten Sie aber nichts, Herr Priester! sagte Veilchen …[345] Das schönste Wissen einer Frau ist das, das sie in ihr Herz einschließt … Und was ich Ihnen sage, weiß ich auch nur von einem, der, wie unsere ganze Familie, vor dem Dechanten in Sanct-Zeno viel zu viel Verehrung und Liebe hat, um je davon einen Misbrauch zu machen … Der Mann wird Sie sehen, Sie mögen ihn fragen, woher er diese Dinge in Kenntniß genommen hat und er wird Ihnen ausweichen und Sie blos fragen – nach Bröder's lateinischer Grammatik …

Löb – Seligmann?! … sagte Bonaventura mit tonloser Stimme …

Von ihm weiß ich, fuhr Veilchen fort, daß Leo Perl mich nicht aus Untreue verließ, sondern gezwungen durch Umstände, die ihren Grund auch in seinem ungläubigen Aberglauben, seiner geistreichen Narrheit gehabt haben mögen … Ich weiß aus hundert Briefen, daß er den menschlichen Willen bestritt und nichts gelten ließ, als den Zufall … Er liebte Ihren Oheim so, daß ich darauf eifersüchtig wurde … Er nannte überhaupt die Leichtsinnigen erst die wahren Menschen …

Bonaventura hatte nun die äußerste Furcht um Benno's Geheimniß, um Lucindens neue Mitwissenschaft so gefahrvoller Verwickelungen … Diese Furcht äußerte er zunächst …

Werd' ich, sagte die Jüdin, da ich schon die Liebe des Mädchens zu Ihnen eine Rache genannt habe, noch neue Kohlen darauf schütten! …

Dann bat sie, daß im Gegentheil der Herr Domapitular den gezwungenen Lauscher auf Schloß Neuhof[346] schonen möchte … Sie erzählte dessen Abenteuer … Sie fügte hinzu, daß er zwar die Charaden gehört hätte, aber nicht ihre Auflösung … Sie verlor sich in die Erinnerung an Leo Perl und schloß: Er fand den Hochmuth der Sängerin Maldachini gewiß nur lächerlich, weil er sagte: Was ist denn Eure Tugend? … Die Bequemlichkeit der Umstände! … Und seinem Freund, dem damaligen Kaplan von Asselyn, konnte er nichts abschlagen … Seine Angst und die Scham kam erst, als er die Priesterkleider schon anhatte und die betrogene Frau vor ihm stand … Da weiß ich, daß er gern hinausgestürzt wäre in den hellen Mondscheinwald und hätte, schon um zu büßen – denn büßen, das ist grade unser Jüdisches – die Kleider nicht wieder abziehen mögen … Auch daß er zur Sühne an dem Betrug einen andern schönen Park, den in Kocher am Fall, aufgab, den Park, wo ich von ihm Spinoza und Liebe – ohne Leidenschaft kennen lernte, auch das ist diese Kasteiung, die die Christen blos uns Juden verdanken … Das Christenthum ist die größte Schmeichelei an uns Juden …

Ein Lächeln begleitete diesen Scherz … Doch es erstarb schnell, da sie Bonaventura's Erregung sah … Sie fuhr fort:

Vor seinem Tode gab Perl einem Mönch Namens Hubertus, er ist jetzt in Rom, eine lateinische Schrift, die dieser einem hohen Geistlichen in Witoborn übergeben sollte, aber erst dann, wenn er ohne ein Aergerniß begraben worden wäre … Seltsam, daß ich diese Schrift gesehen habe … Ich sah sie in der Hand des[347] Fräulein Lucinde … Es war in diesem Jänner … Kurz vor Ihrer Abreise nach Witoborn … Das Fräulein brachte die Schrift von einer gefährlichen Unternehmung mit, von der Sie ja wissen – als sie den Pater Sebastus aus dem Profeßhause befreien wollte …

Bonaventura stand voll bebender Combinationen: Leo Perl – Seine Reue über den Uebertritt – der Zwang des Kronsyndikus – Seine Pfarre in Borkenhagen – Seine eigne Taufe durch Perl – die Schrift – Lucindens Drohung – …

Veilchen fuhr fort:

Es war ein Brief, den ich nicht lesen konnte – in Latein – Aber vielleicht war es derselbe an den Bischof von Witoborn, von dem Löb Seligmann gehört hat, daß er leicht in die Hände Ihres seligen Herrn Vaters hätte kommen können, da dieser gleich nach dem Tode des Bischofs Konrad, der unmittelbar nach dem Tod des Leo Perl erfolgte – die geistlichen Archive – ordnete …

Bonaventura hörte nur – … Aber er hörte, wie der Verbrecher in Vorahnung eines über ihn gefällten Todesurtheils den Anfang seiner Sentenz lesen hört … Er wollte nicht verrathen, was in ihm vorging … Er wollte seinem Antlitz den Ausdruck der Ruhe und Fassung geben … Umsonst … Ein eisiger Frost durchschüttelte seine Glieder … Seine Zähne fingen an zu zittern … Er ahnte einen tiefen, tiefen, ewigen Verdruß seines Lebens … Er that einige Schritte vorwärts und sank auf einen Sessel …

Mein Gott im Himmel –! rief die Jüdin, erschreckend[348] ebensowol über Bonaventura's Anblick, wie über ihr Unvermögen, einem ohnmächtig werdenden Manne helfen zu sollen … Was ist Ihnen? …

Bonaventura's Gedanken konnten nicht anders lauten, als:

Lucinde sagte, mit dem Inhalt jenes Briefes könnte sie dich ewig in ihren Händen halten? Deinen Segen könnte sie in Fluch verwandeln? Selbst wenn du die dreifache Krone trügest, könnte sie alle deine Handlungen ungeschehen machen? … Was gibt ihr diese Kraft? … Was gibt dir – diese Unkraft? … Bist du – kein Christ –? … Bist du nicht getauft –? … Bist du nicht – richtig getauft –? …

Nun schossen seine fiebernden Gedanken weiter:

Du bist von Leo Perl in den Tagen getauft, wo sein Gemüth von Reue über seinen Schritt, von Wuth über den Kronsyndikus, der ihn zwang, Priester zu bleiben, ergriffen war … Diese Stimmung behielt er vielleicht lebenslang … Seine ganze Stellung war die der Zerfallenheit mit sich, die der Reue über sein übereiltes Christwerden, der Rache für den Zwang, der ihm zuletzt auferlegt wurde, der jahrelangen Verstellung … In dieser Schrift bekannte er sich schuldig, alle seine kirchlichen Functionen ohne Absicht und Direction des Willens vollzogen, dich und andere »ohne Intention« getauft zu haben … Der Bischof starb schnell hinter Leo Perl … Sein Vater nahm die Urkunde an sich und unterdrückte sie … Leo Perl war todt, das Verbrechen war geschehen, nicht anders rückgängig zu machen, als durch neue Taufe … Dein Vater, das Aufsehen[349] einer solchen Handlung fürchtend, längst schon – ihrer Ehescheidungsverweigerung wegen – zerfallen mit der Kirche, behielt diese Urkunde, zerstörte sie jedoch nicht, sondern legte sie für künftige Enthüllungen zurück, band sie ohne Zweifel dem alten Mevissen auf die Seele … Dieser nahm sie mit in sein Grab, wo sie lange Zeit unzerstört bleiben konnte, bis sie gefunden werden sollte, dann vielleicht – wenn es Frâ Federigo, vielleicht einst am Tag der Versammlung unter den Eichen von Castellungo, begehrte … Picard fand dies Papier im Sarge und gab es Lucinden zur Uebergabe an mich … Lucinde las es … Sie, sie, die die ganze folgenschwere Wucht unserer Lehre von der Intention bei priesterlichen Handlungen kennt, die Lehre von der wirklichen Absicht, auch den äußern Ritus so zu meinen, wie man ihn vollzieht, sie, die schon höhnisch sagen konnte, Ulrich von Hülleshoven und Monika, die gleichfalls in jener Zeit von Leo Perl getraut worden, könnten in Rom bei der Behörde der Gnadenertheilung, der Sacra Dataria, ihre Ehe getrennt erhalten – Sie weiß es, daß du nach unsrer Lehre der von Rom ganz in die Priestermacht gegebenen Seele ein Ungetaufter bist, ein Nichttheilnehmer, noch weniger ein Förderer am Gottesreich … Sie konnte dir drohen, daß alle deine Handlungen als Priester zurückgehen müßten, wenn sie, sie es wollte – Denn nach Roms Gesetzen bist du, ob auch getauft, ein Heide –! …

Die Hände schlug Bonaventura vor die Augen … Zwei Convertiten, Leo Perl und Lucinde, hielten das katholische Christentum an seinen Consequenzen fest[350]  … Was Jedem Thorheit erschienen wäre, für die Welt, in der Bonaventura eingesponnen lebte, lag hier ein unermeßliches Aergerniß vor …

Er besann sich und that, als wollte er nur einen plötzlichen Anfall von Unwohlsein verbergen …

Es wird vorübergehen! sprach er und hielt die Jüdin zurück, die, thatunkräftig wie sie war, zwar nach Wasser sich umblickte, nicht aber darnach gehen konnte … Obgleich Glas und Flasche hinter eben demselben Epheu standen, den damals Lucinde zerpflückt hatte …

Das sah er, die Jüdin besaß nicht Lucindens ganzes Vertrauen …

Ihre Flucht vor Nück, ihre Liebe hatte sie ihm gestanden …

Die Jüdin hatte es vielleicht aus eignem Antrieb übernommen, den tugendstolzen Priester in seiner Abweisung menschlicher Schwäche wankend zu machen …

Das aber sah er: Sie wußte nichts vom Inhalt der Leo Perl'schen Schrift, nichts von der Bedeutung der Intention in der katholischen Kirche … Sagte sich Leo Perl bei der Taufe Bonaventura's: Ich habe nicht die Absicht, daß das, was ich eben thue, das ist, was die Kirche damit will! so war und blieb Bonaventura – ein Heide …

Der Gefolterte, dem das Schicksal alle Prüfungen der Seele verhängt zu haben schien, hatte vom Stuhl, von dem er sich erhob, mühsam das Kanapee erreicht …

Da sank die lange schlanke Gestalt allmählich und langsam nieder …[351]

Das blasse Haupt aufstützend rang er nach Fassung … Seine Gedanken rollten ihm um wie die wirbelnden Kreise des Philosophen von Eschede … Sie traten ihm wie ein buntes Flimmern vor die Augen … Er wußte keine Vorstellung mehr festzuhalten … Vorwürfe, Anklagen, mit denen sich das bedrängte menschliche Herz in solchen Lagen zu helfen pflegt, kamen ihm nicht natürlich und freiwillig … Nur ein Chaos der schmerzlichsten Vorstellungen über die Thatsache und ihre Folgen war es … Es rief ihm alles: Also auch das ist möglich! Möglich unter Menschen, die sich auf diese Art glauben unter die Herrschaft des Geistes gestellt zu haben! … Das geschieht dir, dir mit deinem redlichen Willen, der dir befiehlt, nicht zu murren gegen dein halb schon bereutes Priesterjoch! … Das geschieht dir in dem Augenblick, wo du dein größtes Opfer bringen wolltest, dein eigenes Grab zu graben, das Grab deiner Liebe! … Nun noch dies! Noch dies! … Und Lucinde die Zauberin dieses Spukes, der dich ein Leben lang wie Hexengruß im falben Mondlicht äffen wird! … Sollst du deine Würde niederlegen? … Sollst du dem Generalvicar dich anvertrauen und bekennen: Du bist kein Christ?! … Sollen alle deine kirchlichen Handlungen, die deine ungetaufte Hand verrichtete, erst nachträglich von einem Spruch Roms die Kraft des Sakramentes erhalten! … Nein! Nein! Nein! Ich trotze dem Geschick und lüge! Ich muß, ich muß lügen! …

Die Jüdin sah diese Seelenkämpfe, zitterte, fragte, bat und – hoffte …

Sie konnte seinem Gedankengang über den Inhalt[352] des von Lucinden gefundenen Briefes nicht folgen … Sie würde selbst aus dem Judenthum heraus, aus der Religion des Gesetzes, kaum begriffen haben, wie ein Gemüth, lebte es auch noch so sehr im steten Gewissenszwang, so doch über Sonnenstrahlen fallen, so über Spinnenfäden straucheln konnte … Sie würde mit Christus gesagt haben: Ihr verschluckt Kameele und seigt Mücken! …

»Das Christenthum ist die größte Schmeichelei an uns Juden« – und Bonaventura stand wie ein Verbrecher … Dämonische Stimmen raunten ihm zu: Offenbare dich doch Lucinden! Was trennst du diesen Schatten deines Daseins von dir selbst? Lucindens Liebe, Verschwiegenheit, Frevelmuth? … Mit ihr vereint ist ja alles still – Mit ihr vereint erstirbt ja der Hohn, der um dich her aus tausend Larven rufen wird: Auch du wandelst den Weg der Lüge! …

Schieben Sie Ihre Reise einen halben Tag auf! sagte Veilchen … Hören Sie die Beichte des armen Mädchens … Sie will nichts, als Ihnen ein Bild ihres gegenwärtigen Innern geben, vieler Geheimnisse, die sie drücken, auch der Ursachen, warum sie so plötzlich das Haus des Oberprocurators verlassen hat … Ich versichere Sie, es muß eine große Begebenheit gewesen sein, die sie zu mir getrieben – Zu mir, in die dunkle schmutzige Rumpelgasse, zu meinem unausstehlichen Nathan, den ich nun schon dreißig Jahre nehmen muß, wie er ist … Ich möchte schwören, daß in Holland, wo sie den ganzen Tag putzen und scheuern, keine Stube so sauber und rein ist, wie meine Schlafstube im[353] dritten Stock unseres Hauses, das wir glücklicherweise allein bewohnen, und doch thut mir das stolze Kind leid – im reinsten Glase Wasser sieht sie Judenthum … Aber sie hat keinen Ort gewußt, wo sie sich verbergen sollte … Ich dürfte nicht an Ihrer Stelle sein, Herr Priester … Schon aus Neugier, was sie von der Marcebillenstraße verjagt hat … Acht Tage ist sie bei mir … Der Nathan sieht die Polizei jede Stunde kommen … Ich hab' ihm versprochen, die Strafe aus meiner Gage zu zahlen – 30 Thaler jährlich, Herr von Asselyn! Ich bin der wohlfeilste Buchhalter an der deutschen Börse … So hockt sie verzweifelnd auf meinem Kanapee, schreibt Briefe, zerreißt sie, hat nichts bei sich, als ein Bündel, mit dem sie aus dem Nück'schen Hause entflohen ist … Hat der Mann Ihre Ehre verletzt? rief ich sie an … Sie antwortete mir darauf nichts, sah aber aus, als käme sie vom Richtplatz und erst seit drei Tagen hör' ich sie weinen – weinen wie im Brustkrampf! … Sie sagt: Mein Unglück ist, ich falle über mich selbst! Ich bin nur für die Schlechten da! Ich habe etwas in meiner Art, das selbst die, die mich lieben wollen, an einem einzigen Tage zu meinen Feinden macht! … Könnt' ich ihm nur einmal noch alles sagen und beichten! sprach sie dann … Ich gestehe, Herr Priester! Von dem Wort »Beichten« hab' ich keinen Begriff … Je mehr ich bei mir selbst behalte, desto fester und besser werden meine Gedanken … Ja die mauern sich dann erst recht aus wie ein Schwalbennest, das ganz sauber werden kann aus lauter kleinem Schmutz … Müßt' ich alles, was ich denke und eben erlebte,[354] so frisch und weich wieder von mir geben, würde ich wie ein leckes Faß … Ich bin katholisch! sagte sie mir darauf … Mein Gott, da stritt ich nicht mehr und weil ich die Neigung ihres Herzens schon durch die Bekanntschaft mit dem Herrn Pater Sebastus wußte und wie die Gefahr, nicht an Ihr Ohr zu gelangen, zu groß wurde durch Ihre Abreise, da sagt' ich: Wissen Sie – Ich will für Sie gehen, Fräulein, wie Eliezer ging auf die Werbung für Jakob … Sie umarmte mich, begleitete mich bis hieher – Unten in der dunkeln Gasse da – sehen Sie, da steht sie und wartet … Geben Sie der Armen den Trost, daß sie Ihnen noch einmal, nur als einem Priester versteht sich, ihr Herz ausschütten kann …

Bonaventura's Gedanken sammelten sich in der Vorstellung, was Lucinde so plötzlich aus dem Hause Nück's entfernt haben mochte … Auch an den Brand und an die Urkunde dachte er … Er stand sinnend und zögernd …

Die Jüdin blickte aus ihren klugen Augen mit jener List hervor, die auch das gutmüthigste Kind im Spiele hat, wenn es Freude an einem Sieg seiner Klugheit verräth, ohne damit Böses zu wollen …

Bonaventura hatte sich erhoben … Er hielt sich vom Fenster fern …

Er überlegte und sah die Scene, die ihm mit Lucinden drohte … Sie konnte jetzt nicht anders enden, als mit ganzer Vertraulichkeit über alles, was ihn drückte … Ein gemeinschaftliches Geheimniß zu bewahren bindet die Seelen wider Willen … Er hätte Lucinden nicht[355] anblicken können ohne zu sagen: Den Brief des Geistlichen Leo Perl – gib mir zurück oder zerreißen wir ihn und laß' ihn zwischen uns ein ewiges Geheimniß bleiben! … Sich einem Weib verpflichtet fühlen, raubt dem Mann seine Selbständigkeit und Dank ist schon an sich eine Pflicht, die eine edle Seele nie karg abträgt …

Bonaventura ging eine Weile auf und nieder … Er kämpfte … Endlich hatte er entschieden … Er wollte, er konnte nicht nachgeben … Er sah in die Zukunft – ahnte, daß sie ihn immer und immer in Lucindens Bahnen führen würde … Jetzt aber, jetzt in dem letzten Opferdienst seiner Seele für Paula, wollte er sich rein erhalten … Er schüttelte sein Haupt und sprach: Ein andermal! … Und für sich: Komme was komme! …

Die Jüdin stand in der Nähe der Thür, schon ihren Hut in der Hand …

Es schlug neun …

Ich kann meine Reise nicht aufschieben, fuhr Benno fort … Erklären Sie – Lucinden, ich käme – ja zurück – und dann – dann vielleicht …

Veilchen schüttelte ungläubig den Kopf …

Das bestreitet sie – sagte sie … Sie behauptet, Sie kämen nie zurück …

Bonaventura ließ, wie ein Ueberwundener, nur die Arme sinken und schüttelte ablehnend sein leidendes Haupt …

Woraus schließt sie das? fragte er, vor Ueberanstrengung seiner Seele völlig kraftlos – …

Veilchen erwiderte:

Man würde Sie in Wien fesseln, sagte sie … Schon[356] wäre ein Verwandter von Ihnen gefesselt worden … Man würde Sie nicht sehen können, ohne die nicht zu beneiden, denen Sie immer angehörten … Ich wiederhole ihre Worte … Sie nennt schon einen Bischofssitz, der für Sie bestimmt ist, Herr Priester … Robillante in Italien oder einen ähnlichen Namen … Im Thal von – Castellungo – Das ist der Name … Ich habe ihn behalten …

Bonaventura faltete nur die zitternden Hände …

Die beiden Mönche, fuhr Veilchen fort, die dieses Frühjahr von Witoborn entflohen, haben aus Rom geschrieben, daß in ihrem Kloster ein Mönch lebt, der ein Bisthum ausgeschlagen hätte, das ein mächtiger Cardinal gelobt hätte, dem heiligsten Priester in der Christenheit zu geben … Und in Wien sind – Sie, Sie, Herr Domkapitular, schon dafür genannt worden … Das wurde hereingeschrieben … Lucinde weiß alles … Sie werden in Wien mit diesem Anerbieten empfangen werden …

Bonaventura hörte nur …

Eine Besinnung, eine Fassung lag nicht mehr in seiner Kraft …

So hörten Sie selbst das noch nicht? fragte die Jüdin, immer hoffend, den Zweck ihres Besuchs zuletzt noch erreichen zu können …

Bonaventura hauchte:

Sie – berichten – mir – Wunderdinge …

Er ließ sich die Namen noch einmal nennen …

Es waren und blieben die Namen Robillante und Castellungo … Die Orte, wo Paula leben sollte –[357] wo Frâ Federigo lebte … Er sah Benno, Olympia, Ceccone betheiligt … Das war das von Benno erwähnte Bisthum … Gaben es ihm wol gar – die Jesuiten? dachte er einen Moment …

Verlassen Sie sich! fügte Veilchen hinzu … Sie kommen nicht zurück … Sie werden in Italien ein Bischof …

Ohne noch zu widerreden, faltete Bonaventura, überwunden von den Fügungen seines Geschicks, aufs neue die Hände … Er sah, wie mit übergeistigtem Auge, Paula auf dem Schlosse, auf dem sie einst in ihrer Vision die Fahne mit den Dorste'schen Farben erblickt hatte … Seinen Vater sah er unter den Eichen von Castellungo … Ein Glanz umfloß ihn wie die himmlische Morgenröthe …

Dennoch schüttelte er den Kopf auf die wiederholten Bitten der Jüdin …

Herr Priester! … Das ist grausam, wallte diese auf …

Solchen Worten zürnte er nicht mehr …

Gute Nacht, Liebe! sprach er … Dank für Ihre Verschwiegenheit – wegen dessen, was Herr Seligmann hörte, eine Verschwiegenheit, auf die ich bei unserm gemeinsamen Gott fest und heilig baue … Sagen Sie aber Lucinden: Wer allwissend ist, ist auch allmächtig! … Was kommt sie zu mir –! …

Herr Priester –! bat Veilchen noch einmal inständigst …

Komm' ich in der That nicht wieder, so wünsch' ich ihr alles Glück und jeden Frieden des Gemüths … Ich danke Ihnen, daß Sie ihr Bote wurden … Sie[358] sind treu, was Sie auch gegen die Treue sagen … Doch gehen Sie, ohne mich noch wankend machen zu wollen … Es gelingt nicht … Drohungen, die Lucindens Charakter entsprechen, schrecken mich nicht; ich kann, sagen Sie ihr's, alles ertragen … Noch eins! Ist sie hülflos, so schreibe sie offen und getrost – an meinen Oheim in der Dechanei … Das ist nicht wahr, daß alle vor ihr fliehen … Der Onkel verehrt sie wahrhaft; er wird alles für sie thun … Sagen Sie ihr das! Mein Oheim ist ganz der Freund, den sie sucht … Sagen Sie ihr auch – daß ich glücklich bin über ihre Trennung von Nück und daß ich nie in dem Verhältniß ein Arg gefunden … Nicht aber mehr … Ich kann nicht anders … Die Kraft fehlt mir, all die Bürden zu tragen, die mir ihre Beichte noch auferlegen würde … In Zukunft! … Ich reise morgen in erster Frühe … Nun bleibt es dabei …

Damit half Bonaventura Veilchen schon den Mantel auf die Schultern legen …

Sie schüttelte den Kopf wie über die Thorheit der ganzen Welt … Still befestigte sie ihren Mantel …

Bonaventura leuchtete ihr hinaus und begleitete sie über den Corridor bis an die nächste Treppe … Diese war erleuchtet … Veilchen wandte sich noch einmal, sah den Priester mit ihren geöffneten Augen wie einen bemitleidenswerthen Wahnbefangenen an und schlich die Treppenstufen nieder … Bonaventura wartete, bis er hörte, daß sie das Hausthor gefunden …

Dir sind wol schon hundert wie mit unsichtbaren Ketten gebunden, die dir beichteten, sagte er sich, zurückkehrend[359] in sein Zimmer, mit dem ganzen ausbrechenden Schmerz seiner Seele; aber wie du gebunden, du umstrickt bist von deinen eigenen Lebensräthseln, das ist ein Verhängniß wie im Haus – der alten Labdakiden! …

Und des so wohlthuenden Eindrucks der Jüdin gedenkend, rief er laut:

Gott der Christen – Gott der Juden – Allah –! … Zeus! … Ja auch der Olymp herrscht noch … Nicht alle Götter der Alten sind in nichts zerflossen … Die Nemesis – die Tyche – die Keren haben ihr Amt behalten …

Der Gedanke, daß ein Bisthum neben dem Schlosse, wo Paula wohnen sollte, für ihn eine Unmöglichkeit wäre, stritt mit der Ungewißheit über den Eindruck, den ihm Graf Hugo machen würde und nach dem er doch der Wahrheit gemäß entscheiden sollte …

Sein Lager suchte er, um nur allein die müden Muskeln zu strecken … Schlaf, wußte er, würde ihn fliehen … Träumte er, so würde der Ungetaufte – vom Jordan träumen …

In der That erhob er sich vor Sonnenaufgang ohne Stärkung …

Es war ein nebeliger Morgen … Er kleidete sich an … Renate credenzte ihm den gewohnten Labetrunk … Sie weinte … Der gute und ernste Mann war ihr wie ein Sohn geworden und seit Monaten sah er krank und zerfallen aus und auf wie lange verreiste er …

Auch in Bonaventura's Auge standen Thränen … Er ahnte, daß er die alte Frau nicht wiedersehen würde …[360]

Rings blickte er auf seine Bücher, seine Bilder … Es war ein Abschied auf ewige Zeit …

Die Huldigungen, die seiner ersten Abreise gebracht wurden, fehlten auch dieser zweiten nicht …

Für die von ihm etwa abgefallenen Seelen waren andere eingetreten und die Feierlichkeit der Begrüßung im Kapitelhofe war sogar noch größer, als früher durch Schnuphase's Rede … Sie war geordneter … Die Curie hatte an dem Erfolg dieser Reise das höchste Interesse … Viele der alten Herren traten selbst an seinen Wagen … Dies war ein ganz eleganter, den Bonaventura gar nicht bestellt hatte …

Den von Glückwünschen fast Erdrückten hob Thiebold, der gestern nur zum Schein Abschied genommen hatte, in seinen eigenen Wagen … Er hatte alles so arrangirt … Der gestrige Abschiedsbesuch maskirte die Absicht, den Hochverehrten nicht blos bis an das Dampfboot zu begleiten, sondern auch noch eine Strecke weiter hinaus …

Die Blumen wurden einem Altar der Kathedrale übersandt, an dem Bonaventura oft celebrirte …

Thiebold ließ sich nicht nehmen, bis zum Hüneneck mitzufahren … Zwei Stunden lang »zerstreute« er die stille, der Sammlung bedürftige Seele des unglücklichen Priesters … Erst am Hüneneck verzogen sich die Nebel … Die Gegend, selbst im Winteranfang lieblich wie immer, entschleierte sich … Thiebold konnte nicht allen Empfindungen Ausdruck geben, die ihm der Anblick Lindenwerths, der Blick nach Drusenheim und dem Geierfels hinüber machte, wenigstens nicht in Bonaventura's[361] Gegenwart … Am Gasthaus zum Roland landete der Dampfer … Thiebold stieg hier aus und erneuerte den Abschied …

Als Bonaventura allein war und tiefbewegt Rundgänge, die denen in seinem eigenen Geisteslabyrinth glichen, auf dem Verdeck machte, das erst jetzt von seiner Reinigung und der Nebelnässe zu trocknen anfing, bemerkte er, gerade beim Hinblick auf die Maximinuskapelle und den Sanct-Wolfgangsberg, hinter dem sein altes stilles Glück lag, einen jungen Mann, der, mit dem Rücken an den Radkasten der Maschine gelehnt, ihn mit großen durchbohrenden Augen ansah …

Die Gestalt war nicht zu groß, zierlich und behend … Die Kleidung elegant … Ein Mantel von dunkelbraunem Tuch mit offenen Aermeln, am Kragen besetzt mit schwarzem Sammet, das Futter von einem langflockigen Zeuge und Schnurtroddeln geschmackvoll zum Zusammenhalten des Mantels – Darunter ein schwarzer enganliegender Oberrock … Die Cravatte schwarz; ebenso die Handschuhe … Ein feiner ganz neuer Hut auf dem Kopf … Die Haare kurzgeschnitten …

Ueber den starren Ausdruck des bräunlichen zierlichen Antlitzes flog ein Erröthen und ein verlegenes Lächeln, als Bonaventura's Blick länger auf dem jungen Mann verweilte …

Doch zerstreute ihn bald die theure, geliebte Gegend …

Es ging vorüber an der Maximinuskapelle, am »Weißen Roß« …

Bonaventura bemerkte den jungen Passagier nicht[362] mehr … Auch später bei gemeinsamer Tafel fehlte die Gestalt, die ihm den unheimlichen Eindruck einer Aehnlichkeit mit Lucinden machte …

Hafenruhe konnte erst spät gegen Abend um zehn Uhr geboten werden …

Der junge Passagier war verschwunden …

Die Fahrt ging zuletzt im Dunkeln und bedurfte der Vorsicht … Aber so kalt es wurde, die Passagiere verbrachten die längste Zeit lieber auf dem Verdeck …

Bonaventura ging auf und nieder … Ein Berg mit einem hochthronenden Schlosse führte ihm die Scene vor, die Benno mit dem Staatskanzler erlebt und geschildert hatte … Es war schon bald bei Ankunft in der großen alten »goldenen« Stadt, wo die Rast für die Nacht stattfinden sollte, als Bonaventura wieder den jungen Mann erblickte, eingeschlagen in seinen weiten Mantel und nicht weit vom Steuerruder sitzend …

Er rückte und rührte sich nicht …

Ging aber Bonaventura an ihm vorüber, so war es ein einziger unter dem etwas breitrandigen schwarzen Hut und aus der Umhüllung des emporgezogenen Sammetkragens hervorzuckender Blitz der Augen – ein Funkeln, wie ein Käfer in der Nacht aufglüht, ein Funkeln, wie ein lauerndes Raubthier sich durch nichts, als seine Augen verräth … Kein Laut, keine Bewegung, als ein Zurückziehen des lackirten zierlichen Stiefels, um dem Vorübergehenden Platz zu machen … Die Situation, die Zeitdauer, alles bot dem Priester Muße, sich an die entsetzliche und doch fast beruhigende Vorstellung zu gewöhnen: Wenn das Lucinde wäre! …[363]

Beim Landen, beim Wohnen in einem »Rheinischen Hof« war die Spur des jungen Mannes verschwunden …

Nach zwei Tagen und einem Aufenthalt in Frankfurt befand sich Bonaventura in der Stadt, wo er im Seminar gewesen …

Es war dasselbe Seminar, von dem Serlo erzählte …

Er besuchte alle ihm denkwürdigen Plätze der Erinnerung … Die Altarstelle, wo er zum Priester geweiht worden … Das Zimmer, wo Paula in der orthopädischen Anstalt lag … Den Bischof, bei dem Lucinde convertirte … Den Mitgeweihten Niggl, einen noch immer zwischen dem Naiven und Excentrischen unpraktisch, brausend und schnaubend hin- und herfahrenden, gutmüthigen Phantasten …

Bonaventura sah und begrüßte alles wie zum letzten mal …

Auch das berühmte Hospital des alten Bischofs Julius sah er … In dem botanisch gepflegten Garten schien die Jahreszeit noch nicht der November … Die Genesenden saßen zwar nicht im wärmenden Sonnenstrahl, aber die Irren rannten hin und wieder, gesticulirten und sprachen aufs zufriedenste mit sich selbst …

Da wieder der Anblick des jungen Mannes vom Dampfboot …

Kaum schoß er an ihm und an Niggl, der ihn begleitete, vorüber, so sagte dieser:

Wer war nur das? Das Gesicht ist mir so bekannt …[364]

Nach wenigen Augenblicken, wo der junge Mann verschwunden war, begann Niggl, von unbewußter Ideenassociation geleitet, von Lucinden als von einer Hocherleuchteten, von einer durch Nück und Hunnius und viele andere in alle Vorkommnisse des innern Kirchenlebens Eingeweihten … Er scherzte über die ihm wohlbekannte Neigung derselben zu seinem Besuch … Beda Hunnius hatte ihm darüber Mittheilungen gemacht … Er wußte schon, daß sie von Nück sich entfernt hatte, und vermuthete, sie wäre nach Belgien, um Jesuitesse zu werden – »Redemptoristin« – nach dem äußern Ausdruck …

Das Gespräch kam von dem verfänglichen Gegenstand ab …

Bonaventura sah den jungen Mann nicht wieder, aber sein Herz bebte von den trübsten Ahnungen …

Die Donau kam … Bonaventura bewunderte den regensburger Dom und bestieg die Höhe, auf der König Ludwig die Walhalla erbaut hat … Ein Aufenthalt dort oben wie Athemzüge im Aetherreich … Unten die Erde mit ihren Mühen, hier oben die Himmlischen … Ausgerungen haben Kampf und Leidenschaft … Hier sind die Pforten der Welt des Plato, die Eichen im Haine Odin's … Walkyren stehen zwar noch, die unerbittlichen Parzen, in marmornen Gebilden an der Schwelle des Tempels; aber sie scheinen Versöhnerinnen, nicht mehr Rächerinnen …

Bonaventura stieg die Riesentreppe nieder – tieferfüllt von dem empfangenen Eindruck … Da blickt er auf neue Ankömmlinge … Eine Gesellschaft, die eben[365] mit einem Boot aus Regensburg angekommen sein mochte, steigt ihm von unten her entgegen … In ihrer Mitte – sein Reiseschatten, der junge Mann im braunen Mantel … Dicht streift er, tief niederblickend, an ihm vorüber … Zwei Schiffe kreuzen sich so auf dem Meere …

Bonaventura konnte nicht stehen bleiben, nicht der spukhaften Erscheinung nachsehen … Sie war schon wie seine Furcht, wie sein Gewissen geworden … Beim jedesmaligen Begegnen fuhr ein schriller Ton durch die Luft: Du Ungetaufter! … Und ebenso sagte das Lächeln des jungen Mannes: Bleibe ruhig, ich bin dein Schutzgeist! …

Die regensburger Geistlichen, von denen Bonaventura begleitet war, führten den Erblassenden, Schwankenden noch in einem Wagen nach einem Oertchen, Straubing gegenüber … An der Stelle, wo Agnes Bernauer ihren Tod in den Wellen gefunden, bestieg er das Dampfboot … Er glaubte annehmen zu dürfen, daß er nicht allein fuhr – daß der junge Mann – Lucinde – schon auf dem Dampfer war …

Er sah sie aber nicht … Nicht die ganze Reise entlang, die zwei Tage dauerte … Er glaubte nun doch an eine Täuschung in der Person …

So kam er nach Wien … Er sah zum ersten mal eine so rauschende, volkreiche Stadt, wohnte bei dem Chorherrn, der ihn ganz erst so zuwartend und prüfend wie Benno empfing, theilte die Aufgaben, die seiner im Gewühl dieser großen Stadt harrten, gewissenhaft ein, überlegte: Wie näherst du dich dem Grafen! …[366]

Darüber vergingen einige Tage …

Die Gräfin Erdmuthe war zum Grafen Hugo auf Schloß Salem hinaus, um den grollenden Sohn hereinzuschmeicheln …

Bonaventura hatte beim Cardinal Ceccone seine Briefe persönlich abgegeben, war in der That von dem liebenswürdigsten und zuvorkommendsten Benehmen eines Priesters, der die Grazie als Milderung der List über sein ganzes Wesen ausgegossen trug, mit dem Anerbieten des Bischofssitzes von Robillante begrüßt worden … Olympia, die Herzogin von Amarillas, Benno wurden als seine Protectoren genannt …

Alle seine Pulse flogen, als er, nach der von ihm um Bedenkzeit ausgesprochenen Bitte die Stufen des kleinen Palastes niederstieg …

Er wußte nicht, wie er auf die Straße kam …

Kaum blickte er auf, da rollte ein Fiaker vom Hause, der nur auf ihn gewartet zu haben schien …

Aus dem Schlag blickte ein Kopf – der junge Mann im braunen Mantel …

Pfeilgeschwind schoß der Wagen vorüber …

Er verlor die Besinnung und verirrte sich in den Straßen …

Wer Bonaventura sah, wer ihn nach einer Vorstellung anredete, wen er besuchte – jeder wußte, daß er Bischof werden sollte im Piemontesischen … Jeder fragte nach seiner italienischen Predigt in »Maria Schnee«, die zugleich mit drei Messen bedungen war …

Man fand diese Erhebung so natürlich … Man sagte, der Domkapitular wäre ein Gesinnungsgenosse des[367] Kirchenfürsten und in seiner Heimat »unmöglich« geworden … Dort schied er aus … Auch seine Gesundheit rathe ihm den Aufenthalt im Süden …

Sofort in den Palatinus zu gehen vermochte er nicht … Er zitterte, sich dort zu verrathen … Aber es suchte ihn schon Fürst Rucca auf … Olympia überhäufte ihn mit Geschenken und Zuvorkommenheiten, wie sie eben nur Priester anzunehmen gewohnt sind … Er rüstete sich, noch unentschlossen, gedrängt vom Chorherrn – italienisch zu predigen … An sich war es ihm ein Leichtes, da er die Sprache so gewandt, wie Benno, sprach …

Noch immer sah er die Herzogin nicht … Der Boden unter ihm wurde heiß wie Feuer … Glühende Lava rann neben ihm … Was soll aus Alledem werden! stöhnte er vor Schmerz über seine Lage … Nun auch noch die fremden Leiden zu den eigenen! …

Schon wußten auch die Zickeles, wohin ihn seine Creditbriefe führten, von seiner Ernennung und wünschten der Gräfin Erdmuthe Glück, ihn als einen Deutschen so in der Nähe zu haben … Er mußte sich sagen: Das zerstört ja jede Möglichkeit der Ehe ihres Sohnes, wenn Graf Hugo die Absicht meiner Reise erfährt und – Paula's Empfindungen für mich kennt –!

In der That, die Gräfin empfing ihn mit der Kälte, die er erwartet hatte … Haßte sie schon das römische Priesterthum an sich, war sie wie ihr Sohn tiefverletzt von der Bedingung, daß erst eines Beichtvaters Ja! oder Nein! über Paula's Willen entscheiden sollte, so war die Nachricht, dieser Beichtvater käme nun auch sogleich dicht in die Nähe Castellungo's, wo der Graf[368] so gern ganz sich niedergelassen hätte, und folgte demnach seinem Beichtkinde, für sie ein wahrer Hohn, den die »Kirche« dem Stolz dieser Familie sprach … Sie sah hier nichts als die Veranstaltung der Jesuiten … Sie sah das fortgesetzte Wirken des Ordens, dem Terschka sich entzogen hatte … Sie sah die Feindseligkeit des Erzbischofs von Cuneo, des Cardinals Fefelotti, der bereits gewaltsam in die Rechte der Waldenser eingegriffen hatte …

Als Bonaventura von seiner ersten Begegnung mit der Gräfin mit dem Entschluß, lieber doch dieser Lockung des Ehrgeizes, dieser Lockung seiner Liebe zur Geliebten und zum Vater mit äußerster Kraft zu widerstreben, nach Hause kam, regnete es in Strömen …

Schon war es spät … Er konnte nicht sogleich auf der Freyung die Pforte finden, die die seinige war …

Eine Weile dauerte es, bis er sich zurecht fand …

Wie er geklingelt hatte, schlug unter den vielen Regenschirmen, die um ihn her sich fast den Platz benahmen, einer, ein dunkelblauseidener, auf …

Indem er in sein Wohnhaus trat, erkannte er die langsam an ihm vorübergehende Gestalt im braunen Mantel und mit den schwarzen Handschuhen …

Das Blau des Schirmes, das Gaslicht der Laterne, die gerade neben der Hauptpforte befestigt war, der mit Schnee untermischte Regen gaben dem Antlitz des jungen Mannes den Ausdruck des Todes …

Kein Wort, nicht einmal ein zweiter Blick, nur ein Lächeln, wie: Siehst du nun? – und das Bild war vorüber …

Bonaventura suchte wie vor einem Gespenst sein einsames[369] Zimmer … Er floh, als wenn Lucinde hinter ihm her huschte und höhnte: Heide! Heide! und dann doch sagte: Aber sei ohne Furcht! Ich sag' es nur dir! … Sie ist es, rief er … Sie ist es … Was kann sie noch wollen? …

Am folgenden Tage sah er endlich die Herzogin von Amarillas …

Olympia ruhte nicht eher …

Principe Rucca suchte ihn fast gewaltsam in den Palatinus zu führen …

Ceccone war zugegen … Es war äußerlich ein heiterer Abend … Unter den Scherzen zitterte das tiefste Leid … Angiolina wurde nicht erwähnt …

Benno's Mutter fand er, wie sie dieser geschildert … Unter dem Schein äußerster, ja abstoßender Kälte eine leidenschaftliche und dann doch wieder plötzlich kalt verständige Seele …

Er und sie benahmen sich so, als wüßten sie nichts vom Tiefverborgenen …

Olympia überhäufte ihn mit Schmeicheleien und Liebkosungen – um Benno's willen, den sie für seine Flucht einen Maledetto nannte, den sie nun bald in Rom strafen würde …

Principe Rucca nannte den Baron von Asselyn schon den allerbesten Freund, den er in dieser Welt besäße …

In einigen Wochen hofften alle in Rom zu sein … Es schienen Menschen, hergekommen aus jener alten Welt der Imperatoren, wo die Frauen in ihren Ohrgehängen den Werth eines Königreichs trugen … Sie fanden ganz in der Ordnung, daß der Bischof von Robillante sein Bisthum vom Kapitel verwalten ließ[370] und den Carneval in Rom verbrachte … Wie bewunderten sie Bonaventura's italienische Aussprache …

Die Herzogin war bei all diesen wilden und leichtsinnigen Exclamationen – – die Duenna Olympia's – jene Arme, die sich von Kirche zu Kirche fortbetete, weil sie keine Kutsche bezahlen konnte … Sie stand tief befangen und mit Zittern lauschend … Die noch zum Leben verurtheilte – Niobe, wie sie Bonaventura's von ihr seltsam gefesseltem Auge erschien …

Die Schwierigkeit der von Paula gestellten Aufgabe lähmte Bonaventura's Entschließungen …

Wie sollte er dem Grafen sich nähern? Wie ihn nur annähernd ergründen? …

Selbst Erkundigungen nur über seinen Ruf einzuziehen, widerstrebte ihm …

Auch kannte jedermann und niemand mehr, als Bonaventura, sein Verhältniß zu Angiolinen … Er wußte durch Benno, daß der Graf ehrenwerth war, ja edel von Paula sprach … Er konnte nur nach Westerhof schreiben: Er ist vollkommen würdig! … Dennoch – ihn sehen, eine Weile mit ihm leben, war unerläßlich …

Die Mutter des Grafen betrachtete ihn indessen mit prüfenderen Augen, als er auf ihren Sohn gerichtet haben würde …

Als der Graf hörte, Bonaventura sollte Bischof von Robillante werden, kam er noch weniger von Schloß Salem herein, von dessen Versteigerung man schon sprach …

Bonaventura erfuhr letzteres von Angelika Müller …

Diese, endlich einmal wieder in katholischen Berührungen recht sich ausschwelgend, sagte:[371]

Gräfin Erdmuthe fährt hin und her, schickt Boten über Boten an die Zickeles … Die Katastrophe ist reif … An die Stelle des Adels tritt in dieser Welt die Börse …

In diesen Zustand der Unentschlossenheit, die durch Lucindens verlorene Spur gemehrt wurde, hinein drängten sich die Vorbereitungen zur wirklichen Vollziehung seiner Bischofswahl, noch ehe er ganz entschieden zugesagt hatte …

Das Kapitel von Robillante hatte seiner eigenen Wahl sich begeben und der römischen Curie die Besetzung mit einer ihr genehmen Persönlichkeit überlassen … Bonaventura stand der Gräfin und dem Grafen gegenüber in einem Licht, das das ungünstigste von der Welt sein mußte … Was sollte Paula denken! Was ganz Westerhof! …

Da, zur Mehrung des falschen Scheins, mußte es geschehen, daß der unwiderstehliche Zug des Herzens, der Bonaventura nach den Eichen von Castellungo zog, eine Entscheidung erhielt, die ihn bestimmte, in der That die Mitra und den Krummstab anzunehmen, es mochte kommen, was da wollte – – …

Er war bei Gräfin Erdmuthe gewesen, hoffte wieder vergebens, bei ihr den Grafen Hugo zu begrüßen …

Die Gräfin empfing ihn mit äußerster Kälte, heute mit einer Aufregung des Zorns …

Ihre Augen glühten, ihre Hände zitterten …

Ha, brach sie nach den ersten Begrüßungen aus, da seh' ich die neuen Kämpfe, die mir beschieden sind! … »Haltet Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand!« spricht der Prophet …[372] Ich muß nach Italien … Fefelotti zertritt die Früchte meiner Anstrengungen … Hab' ich darum mit soviel Kronen und Cabinetten unterhandelt! …

Bonaventura erfuhr eine Schreckenskunde – auch für ihn …

Die nach Witoborn zu Hedemann's Hochzeit reisende Mutter Porzia Biancchi's, die bei den Seidenwürmern zurückgebliebene Giuseppina Biancchi, Gattin des frankfurter Napoleone, Schwägerin des Professors Biancchi, der – ein echter Italiener – vor seiner Verwandtin plötzlich »verreist« war, hatte diese Nachricht eben mitgebracht …

Der Eremit von Castellungo, Frâ Federigo, war spurlos verschwunden …

Im Mund des Volkes ging nur Eine Stimme … Der neue Erzbischof von Cuneo hatte ihn in die Kerker der Inquisition geworfen …

Als Bonaventura diese Mittheilung hörte – als er den Strom von Anklagen und Verwünschungen, in denen sich die Greisin erging, auch nicht mit einem einzigen Wort unterbrach, sondern nur, wie die Wand so weiß geworden, den Bericht vernahm und sich ihn von der hereingerufenen alten Italienerin bestätigen ließ – wie er selbst dem kleinsten Zug der Mittheilung eine fieberhafte Aufmerksamkeit schenkte, hätte eine mit geringerem Selbstvertrauen begabte und nicht ganz nur in sich selbst lebende Persönlichkeit, wie die der Gräfin, wohl erkennen müssen, welche Umwälzungen im Innern Bonaventura's vor sich gingen …[373]

Sie sah in dem Zucken seiner Nerven, in seinen auf den Lippen ersterbenden Fragen und Antworten nur die Beschämung eines römischen Priesters …

Jetzt bricht es aus, was die »Rotte Korah«, die Väter der Gesellschaft Jesu, über unser Haus verhängt haben! rief sie leidenschaftlich aus … Dieser redlichste Freund der Armen, dieser wahre Priester Gottes, dieser Rathgeber, Tröster, Lehrer der Unglücklichen und Unwissenden, ein heimatloser Pilger, den ich seit Jahren schützte, ein Deutscher nach allem, was ich von ihm entdecken konnte, so oft ich seine einsame Hütte besuchte und eine Vergangenheit zu ergründen strebte, die er vielleicht notgedrungen verhüllt – schmachtet jetzt in den unterirdischen Kerkern des Kapitels von St.-Ignazio – ist vielleicht schon den Ketzerrichtern, den Dominicanern der Trinitâ zu San-Onofrio übergeben! …

Und kein Beistand von der Regierung, fuhr sie fort … Diese Regierung ganz in den Händen der Jesuiten … Kein Beistand bei den benachbarten Geistlichen …

Nicht bei mir?! rief Bonaventura mit mächtig hallender Stimme …

Seine Augen leuchteten …

Er stand aufrecht, erhoben, wie mit einem Blitzstrahl in seinen krampfhaft ausgestreckten Händen …

Die Gräfin betrachtete die seltsame Bewegung, hörte das Wort des Beistands mit Theilnahme – aber, da nächst dem Glauben ihr der Sohn ihr Alles war, so sah sie jetzt nur die wirkliche Bestätigung des Gerüchts über Bonaventura's Bischofssitz – in der Nähe der lutherischen[374] Salem-Camphausens – in der Nähe Paula's, ihrer – allenfallsigen Schwiegertochter …

Die Entfremdung blieb die alte …

Eine Annäherung an den Grafen war aufs neue gestört … Eine bloße Formalität, die Bonaventura zur Beruhigung Paula's und der Verwandten schnell zu beenden glaubte, wurde immer unmöglicher …

Er rannte dahin – wie von Rossen gezogen … Er hatte sich noch von der Gräfin und von der alten Italienerin über seinen vermeintlichen Vater erzählen lassen …

Jeder Zug bestätigte seine Ahnung … Sein Vater lag nicht in dem Schnee der Alpen begraben, nicht in Sanct-Remy – er lebte – war seiner Freiheit beraubt … Beraubt durch Fefelotti, dem er berechtigt sein konnte, gegenüberzutreten …

Es gab jetzt keine Wahl mehr für ihn … Er mußte Bischof von Robillante werden … Paula gegenüber das zu bleiben, was er bisher war, ein Entsagender – diese Kraft für ein ganzes Leben sich zuzutrauen, entmuthigte ihn ja nichts …

Wie aber jetzt die Vereinigung aller Interessen! … Er hätte dem Grafen sich so gern ganz vertrauen, ihn in seine Seele blicken lassen mögen … Die Heirath Paula's mußte stattfinden … Aber auch von seinem Bischofsstabe konnte er nicht lassen … Sollte er sich dem Chorherrn anvertrauen? … Dem Cardinal Ceccone selbst? Sollte er dem Grafen an die Brust sinken? Gerade da sich ausweinen? … Wäre Benno's Vermittelung möglich gewesen! … Fast war es ihm ein Trost,[375] den Doppelgänger Lucindens oder sie selbst zu sehen … Er konnte annehmen, daß sie noch nicht alles, alles kannte, was seine Seele belastete …

Daheim erwartete ihn Leo Zickeles, der älteste der Söhne des großen Handlungshauses, und beklagte aufs bitterste, daß der Gang der Geschäfte mit dem Grafen eine so üble Wendung zu nehmen drohte … Alle Hoffnungen schienen zerstört, die Aussichten auf die Heirath schienen gescheitert … Die Gräfin, hörte er, hätte neue Verbindungen mit Geldleuten eingeleitet … Sogar an Herrn von Pötzl wäre eine Annäherung erfolgt … Zweideutige Agenten riefe sie in ihr Palais … Der »ungerechte Mammon« brachte die liebende Mutter um alle Haltung …

Leo Zickeles sah in dem seufzenden Schweigen des jungen vornehmen Geistlichen nur – die Verstocktheit der Kirche gegen eine gemischte Ehe, äußerte sich aber darüber mit der seiner Stellung geziemenden Zurückhaltung …

Am Abend durfte Bonaventura nicht beim Cardinal Ceccone fehlen … Er ließ sich getrost als »Bischof von Robillante« begrüßen, komme was da wolle – und doch sagte er sich: Treulos handelst du an den Verwandten Paula's – an dem Grafen Hugo! … Er war mit seinem ganzen Dasein zerfallen …

Den folgenden Morgen hatte er verzweifelnde Briefe an den Onkel, an Benno geschrieben … Aber er war willens, in die Kirche »Maria Schnee« zu gehen, die alle geistlichen Functionen, Messe, Beichtstuhl, Predigt ihm schon gestattete …[376]

Dann wollte er nach Schloß Salem fahren und den Grafen dort begrüßen – oder nicht eher weichen, bis er ihn gesprochen, ihm – er hoffte es – Vertrauen abgewonnen hätte …

Um halb zehn Uhr erhielt er einen Brief vom Grafen selbst …

Er war datirt aus der Stadt und vom frühesten Morgen … Man hatte den Brief zurückbehalten, bis Bonaventura sein Zimmer öffnete …

»Hochwürdigster Herr Domkapitular!« lautete er. »Noch immer ist es mir nicht möglich gewesen, in der Stadt Ihren Besuch zu empfangen und zu erwidern, da ich durch vielfache Geschäfte an meinen Landaufenthalt gebunden bin. Gestern Abend bin ich von Schloß Salem hereingekommen und zwar auf Grund eines Briefes, den ich von Herrn von Terschka aus London erhielt. Er wiederholt die Behauptung, daß die Urkunde, die unsere Linie um Hoffnungen betrog, die Jahrhunderte alt sind, eine gefälschte ist. Er verwies mich ausdrücklich auf eine gewisse Lucinde Schwarz, mit der ich mich über diese Angelegenheit verständigen sollte. Sie wäre, wie er gehört hätte, jetzt in Wien und stünde zum Herrn Oberprocurator Dr. Nück in Beziehungen der größten Intimität. Die Ehre und der Bestand meines Hauses stehen auf dem Spiele. Ich erkundigte mich noch gestern Abend nach dieser Dame und fand sie in der That hier anwesend. Ich sprach sie. Ich will jedes Aufsehen meiden, aber ich muß die Dame durch meine Mittheilungen für sichtlich in Verlegenheit gesetzt erklären. Wenn ich nicht sofort gegen sie einschreite, so ist es, weil mich eine außerordentliche Aehnlichkeit derselben mit einem Wesen[377] rührt, das mir unendlich theuer war. Auf mein wiederholtes Androhen, daß ich nichts unterlassen würde, um eine Frevelthat aufzudecken, an der, wie ich weiß, meine Verwandte unbetheiligt sind, erklärte sie mir, sie würde nur eine Antwort zukommen lassen durch Eure Hochwürden – nach einer in der Beichte genommenen Rücksprache – – Somit ersuche ich Sie in aller Ergebenheit, haben Sie die Güte, von ihr in der Kirche der Italiener, wo Ihnen Kanzel und Beichtstuhl eingeräumt wurden, die Beichte entgegenzunehmen – und zwar heute in der Frühe, zehn Uhr. Ist diese mit Ihnen genommene Rücksprache vorüber, so bitt' ich mir die Stunde bestimmen zu wollen, wo ich die Ehre haben kann, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Um meine gute Mutter nicht aufzuregen, bitt' ich dringend um die Adresse: Professor Dalschefski, beim St.-Stanislaushause auf der Currentgasse. Mit aller Hochachtung Hugo, Graf von Salem-Camphausen.« …

Bonaventura's Athem stockte …

Er sah auf die Uhr …

Es war schon dreiviertel auf zehn …

Nach einigen Minuten Besinnung begab er sich, geführt vom Chorherrn, in die Kirche »Maria zum Schnee« ...

Bald standen sie auf einem kleinen Platz, wo ihn der freundliche Führer weiter wies …

Die Sakristei liegt ein wenig abseits von der uralt ehrwürdigen Kirche …

Wie er sich zitternd in geistliche Kleidung warf, starrten ihm durchs Fenster von einem Kreuzgang[378] her alte Grabmäler und Statuen wie der Tod entgegen …

Er betrat das Innere des gothischen, hellen, nur zu sehr modernisirten Gottestempels …

Es war ihm, als träte er ein – in die Welt des Südens … Doch auch wie ein heißer Sirocco wehte es zugleich ihn an …

An einem der hohen Pfeiler ragte die Kanzel, wo er am nächsten Sonntag predigen sollte …

Er verbeugte sich dem Hochaltar und schritt an dem Standbild Metastasio's vorüber – …

Der Meßner führte ihn in einen Beichtstuhl, dicht an einem kleinen Nebenaltar mit brennender Lampe …

Ein Bild des Gekreuzigten, zu dessen Füßen zwei Frauengestalten, alte Holzschnittwerke, beteten, zur Rechten – zur Linken das hohe Eingangsportal …

In dem engen braunen Häuschen sank er zusammen, wie das Vorbild all seines Duldens – als diesem auf seinem Todesgang Simon von Cyrene zu Hülfe kam …

Es schlug zehn Uhr …

Wenig Secunden – und eine Gestalt – in weiblicher Kleidung – kniete neben ihm …

Es war Lucinde.


Ende des sechsten Buchs.[379]

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 8, Leipzig 1860.
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