4.

[83] Mit gehobener Kraft verblieb Bonaventura noch einige Tage auf der Dechanei …

Sein Ringen nach einer idealen Lebenshöhe hatte einen neuen Anhalt, einen neuen Rundblick gewonnen …

Schmerzlich genug war er erkauft … Aber er hielt ihn fest mit dem leuchtenden Aufblick der innern Verklärung und des Gefühls, sich eins zu wissen mit dem unerforschlichen Verhängniß …

An die Wirkung seines Briefes in Westerhof mochte er nicht denken … Er stürzte sich in das Allleben der Natur, umfaßte nicht mehr zagend und bangend blos das Einzelne …

Beim Besteigen der grauen Berglehnen, die durch die noch wenig belaubten Weinstöcke noch kahler erschienen, umzog sich vor seinem Blick aus der eigenen Brust heraus alles wie schon mit den Früchten des Herbstes … Mit Gewalt wollte er sich helfen; er grüßte freundlicher, er stand denen Rede, die ihm im Felde begegneten, auch denen, die ihm nachschlichen, wie – Löb Seligmann, der seit einigen Wochen in seine Heimat zurückgekehrt war und sich hoffnungsvolle Ernten auf[84] Reps und Taback suchte, auf die er Vorschüsse gab … Das war die sicherste Anlage seiner um Witoborn verdienten Gelder …

Und wäre nun Bonaventura bei all seiner Menschenliebe doch darin weniger »Egoist« gewesen, daß er mehr aus andern heraus die Menschen und Dinge beurtheilt hätte, hätte er ein wenig mehr neugierige Vertiefung in das irrende Flimmern der kohlschwarzen Augen Löb's, ein wenig mehr Lesekunst geübt in den so eigentümlich fragwürdig stehen bleibenden Lachmienen desselben – er hätte ja selbst zu ihm sprechen müssen: Nicht wahr, Herr Seligmann, seitdem Sie zur Hälfte unser Viergespräch auf Schloß Neuhof belauschten, sagen Sie auch: »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt«? …

In der That, so kann kein Beichtvater (in verbotener Weise) lächelnd an denen vorübergehen, die ihm gestanden, daß sie keineswegs das sind, was sie vor der Welt erscheinen, als Löb Seligmann im wogenden Kornfeld, unter blauen Cyanen, im Wiederklang der von seinem innersten Herzen gesungenen Rossini'schen Tyrolienne: »Blütenkränze, Lust und Tänze« den hochgestellten jungen Geistlichen nicht blos grüßte, sondern endlich einmal auch wie mit dem Wort: Ich weiß alles! anredete …

Er näherte sich ihm auf Fußzehenweite …

Sein ganzes Herz war übervoll von dem Frevel des Dechanten, den man noch »leicht auf die Festung bringen« konnte, von den leider nur halb erfahrenen criminalistischen Thatsachen aus dem Leben Leo Perl's,[85] übervoll um so mehr, als er nur einer einzigen Seele auf Erden, Veilchen Igelsheimer, vollständige, der Hasen-Jette, seiner Schwester, und David Lippschütz nur leise Andeutungen über seine Geheimnisse gegeben hatte …

Dennoch brachte sein Mund zum tiefgezogenen Hute, als Bonaventura stehen blieb und fragte: Wünschen Sie etwas, Herr Seligmann? in äußerster Verlegenheit nichts hervor von dem geheimen Betrug einer italienischen Primadonna, nichts von der Herzogin von Amarillas, nichts von Leo Perl's erster geistlichen Handlung auf Veranlassung des »Alcibiades« drüben in der Dechanei, als das Wort:

Ich wollte – um Vergebung – Herr Domkapipitular – wollte nur fragen – Erlauben Sie – ist wol noch Bröder's lateinische Grammatik gut genug – zu gebrauchen zum Unterricht für einen hoffnungsvollen Knaben? …

Zu Gunsten des immer kräftiger auf die Beine gekommenen David Lippschütz, des kleinen Voltaire von Kocher, ließ Bonaventura sich auf alle Vorzüge eines wahrscheinlich durch Löb vom Antiquar erstandenen alten »Bröder« ein und nannte berühmte Gelehrte, die auch ohne den »Zumpt« ein classisches Latein geschrieben hätten …

Nach diesen lehrreichen Auseinandersetzungen, denen Löb nur zu zerstreut zuhörte, war ein Rückblick auf Witoborn und Umgegend nicht zu vermeiden … Löb erzählte, was er »nach dem Herrn Domkapipitular« noch erlebt hätte … Zart und discret deutete er alles nur in leisen Contouren an … Selbst die Gerüchte über Terschka, dessen plötzliche Abreise ihm manches schöne, bereits angeknüpfte Geschäft zerriß, tauchten in seinem[86] Munde wie nicht mehr sicher zu verbürgende Sagen der Vorzeit auf … Es gab auch dunkle Vermuthungen über einen gewissen Jesuitenorden und ein Uebergetretensein zur protestantischen Religion, die aber auch wie Verhältnisse aus der Zeit der Makkabäer aus Löb's discretem Munde hervorkamen … Löb genoß zunächst nur das stille Wandeln mit dem vornehmen Priester, das Grüßen der Vorübergehenden, die gleichsam auch ihn setzt grüßen mußten … Es war die Begebenheit an sich, die ihn erfüllte, ganz wie jenes schmeichelhafte Begossenwerden damals mit der westerhofer Spritze nach dem Schloßbrande … Dies wie jenes ein Zustand feinerer Beziehungen … Nur erst als von den beiden Flüchtlingen nach Rom, von den Eremiten, dem Düsternbrook die Rede kam, deutete er verschämt lächelnd seine Mitverdienste um die Rettung des verunglückten Dieners an … Bonaventura wünschte mehr zu hören; der Diener war so auffallend verschwunden; ja er fragte, ob es wahr wäre, daß der Bruder Hubertus, der ihn davongetragen und im Kloster Himmelpfort eine Zeit lang verborgen gehalten haben sollte, eine Beziehung zu dem Fräulein Schwarz gehabt hätte, das bei Frau von Sicking wohnte – man spräche davon – Löb, Zeugenaussagen vor Gericht und etwaiges Schwörenmüssen wie den Tod fürchtend, ging nur gerade bis an die äußerste Grenze seines Wissens, erzählte die Fahrt des Kranken bis an das Kloster und würde vielleicht allmählich ein wenig den Schrei in der Kirche, das furchtbare Krachen und das Licht im Todtengewölbe in Aphorismen leise angedeutet haben, wäre die fortgesetzte Wanderung[87] nicht durch die eben erreichte Stadt unterbrochen worden … So zur Seite eines Priesters durch Kocher zu gehen, würde sich für die beiderseitige Stellung nicht geziemt haben … Das gemüthliche Selbander wurde vom rauschenden Fall, von den Gerberwäschen und Metzgerklötzen unterbrochen …

Auch mit Beda Hunnius, mit Major Schulzendorf und Grützmacher knüpfte Bonaventura wieder in flüchtiger Begegnung an …

Jenem hatten die Zeitläufe bittere Erfahrungen bereitet … Ein seraphischer Briefwechsel mit Lucinden und Joseph Niggl war zu den Acten der über ihn verhängten Untersuchung gekommen … Der »Kirchenbote« erschien nicht mehr; um so größer war seine Ermuthigung durch die mächtige, mit brausendem Wogenschlag zurückgekehrte Flut der hierarchischen Bewegung nach kurzer Ebbe … Er rühmte das kirchliche Leben jener östlichen Gegenden, wo Bonaventura im Winter gewesen und ihm besonders die reformatorischen Bestrebungen eines Norbert Müllenhoff wie Bonifaciusthaten erschienen … Bonaventura lächelte … Doch auch Beda lächelte … Ueber den gegenwärtigen Urlaub des so schnell Gestiegenen … Um seine Schadenfreude zu verbergen sagte er: Procul a Jove, procul a fulmine … Er lobte seine Stadtpfarre … Aber grade über Paula's Visionen mußte Bonaventura ihm bis an die Pforte der Dechanei erzählen …

Schulzendorf war gekniffen und süßsäuerlich … Die Zeitverhältnisse verhinderten den zu häufigen Besuch der Soupers in der Dechanei … Seine Nase[88] hatte einen Charakter von Pfiffigkeit bekommen, die jetzt weniger zu verrathen schien, wo Trüffeln, als wo – Verschwörungen lagen …

Grützmacher gratulirte zu einem Avancement, das schneller gekommen wäre, »wie's bei's Militär« möglich gewesen … Er klagte über den Dechanten, der alt würde … Von seiner leider ohne »Prämie« gebliebenen großen Satisfaction »von wegen det ausgebuddelte olle Männeken«, sagte Grützmacher: Darüber sind wir »in's Reine« – Es war ein ehemaliger Galeerensträfling, der ein paar Jahre in Paris gelebt hat, dann hierher kam, Pferdehandel treiben wollte, gleich da schon die Leute anschmierte, dann auf ein paar Wochen Knecht im Weißen Roß war, hierauf den Coup auf Ihrem Kirchhof machte, der nichts einbrachte, nachher bei alten Kunden und Hehlern von Gaunern sich verkrochen hatte, vielleicht gar mit dem Hammaker, den Sie ja absolvirt haben, Herr Kapitular, bekannt war, und zuletzt soll er denn auch noch unter falschem Namen nach Witoborn gegangen »sind« … Da das Feuer, sagen sie, hätt' er angelegt auf Schloß Westerhof … Darüber hört man denn – hm! – freilich allerlei … Aber jetzt, wie gesagt, ist er chappirt und wird wol in Amerika »sind« … Und wenn Grützmacher hierauf, während Bonaventura aufmerksam zuhörte, zu seiner Frau sagte: »Ne, diese kathol'schen Pfaffen, doch nichts Aufrichtiges! Jetzt auch schon Der! Und ein ehemaliger Porteépéefähnrich das!« – so hatte er Recht. Jüterbogk und Rom reden allerdings seit drei Jahrhunderten verschiedene Sprachen und Bonaventura hörte ihm über die angeregten[89] Punkte, gebunden durch Furcht, Beichtgeheimnisse und äußerste Spannung, zu …

Dem Oheim gegenüber legte Bonaventura vor seiner Abreise eine übertriebene Scheu ab und theilte ihm nach kurzem Kampf mit, was er seither über den Inhalt des Sarges des alten Mevissen und über dessen Räuber erfahren hatte …

Gab der Onkel auch nicht zu, daß sein Bruder Friedrich noch lebte, so mußte der alte Diener desselben doch ein Geheimniß bewahrt und in seinen Sarg Dinge gelegt haben, die mit einem Verlangen in Verbindung standen, daß sie einst vom Tode auferstehen sollten – zu irgendwelchem noch verschleierten Zwecke …

Bonaventura erzählte dem Onkel, daß der Fund in Lucindens Händen wäre …

Dem darüber Hocherstaunenden nannte Bonaventura auch die Drohung, die Lucinde ausgestoßen, und hielt nur zurück, als er die außerordentliche Aufregung sah, in die er damit den Onkel versetzte …

Das ist ja erschreckend, sagte dieser … Und du hast von ihr noch immer nicht diese Papiere verlangt? … Mit Gewalt verlangt? … So fliehst und verachtest du sie? … Bona! So alt ich bin, durch meine Adern rollt Feuerstrom, so oft ich an die wenigen Tage denke, die dies Wesen bei uns zubrachte … Ich nehme sie morgen wieder, wenn sie will … Meine Macht im Hause hat zugenommen … Hm! Hm! … Was kann nur jene Schrift enthalten? … Und von wem ist sie ausgestellt? …

Auf die von Bonaventura zusammengefaßten nähern[90] Angaben, auf die Mittheilung, jene Schrift, deren Urheber er nicht kannte, sollte ebensowol mit seiner persönlichen Ehre wie mit dem ganzen Bau der Kirche zusammenhängen, und Lucinde könnte alle seine Handlungen, selbst wenn er die dreifache Krone trüge, damit entwerthen, ja ungeschehen machen – lachte endlich der Onkel und hielt die Meinung fest:

Da hör' ich die verschmähte Liebe! … Das sind jene Erfindungen, die die Frauen zu machen pflegen, wenn man mit ihnen »bricht« … Regelmäßig gibt es dann Papiere, von denen es heißt, ihre Veröffentlichung würde uns »vernichten« … Oder der Briefwechsel würde zwar ausgeliefert werden, aber »Abschriften würde man auf alle Fälle davon zurückbehalten« u.s.w. …

Der Onkel rieth ernstlich mit Lucinden Frieden zu schließen …

Das Leben ist so arm an Liebe, sagte er, daß man nie eine dargereichte Hand ablehnen soll …

Als Bonaventura eine Liebe bezweifelte, die fortwährend in Haß und Rache überzuschlagen drohte, entgegnete der Onkel:

So sind sie ja alle! … Meine eigene Petronella würde mich mit kaltem Blut an einer Pastete sterben sehen, wenn ich »mit ihr bräche«! … Selbst die Buschbeck, deren grausamem Charakter ich den Besitz ihrer Schwester verdanke – letztere war jünger; Benno's Vater trat sie mir ab – aus Geiz – ab, um nicht »zwei von dieser Bande« ernähren zu müssen – selbst Brigitte von Gülpen, die älteste Tochter der Bischofsköchin und fürstabtlichen Blutes nicht unverdächtig, wäre besser geworden durch[91] gewährte Liebe … Die Idee, für einen treulosen Geliebten, der ins Kloster ging, die Menschheit zu tyrannisiren, Kindern und Mägden das Leben zu vergiften, sich selbst das Brot abzuhungern, vergegenwärtigt dir jene tiefe Bedürftigkeit des Weibes, unter allen Umständen ein Wesen sein zu nennen und wär's zuletzt nichts als ein alter, mit einer Flanelljacke bekleideter Mops, der am Asthma in den Armen seiner weinenden Gebieterin stirbt … Deine Renate – wie alt ist sie? … Nahe den Siebzigen … Du wirst an einen Ersatz denken müssen … Und wehe dir auch da, wenn sie deine Absicht merkt … Schlage die Concilien nach … Sie ließen lange zweifelhaft, ob die Frauen überhaupt Menschen sind …

Bonaventura ließ, wenn auch zögernd, diese Auffassung der Drohungen Lucindens gelten …

In fernern Gesprächen zeigte sich auch noch zuletzt, warum der Onkel regelmäßig bei Erwähnung des Schlosses von Castellungo in Nachdenken verfiel … Das zufällige Aussprechen der Worte: Fiat lux in perpetuis! brachte zwischen beiden das Geheimniß des empfangenen lateinischen Briefes zur Sprache … Der Onkel öffnete kopfschüttelnd sein Schreibbureau und reichte dem Neffen die ihm gewordene anonyme Aufforderung … Sie war gleichlautend mit der, die auch Bonaventura empfangen hatte …

Ich werde die bedenklichen Ehren eines Huß und Savonarola nicht mehr gewinnen, sagte der Onkel, und hüte auch du dich vor ihnen … Welche Mystificationen das! …

Bonaventura versicherte, daß sein Glaube feststünde,[92] der Eremit von Castellungo wäre sein Vater … Er wäre in Italien Waldenser geworden und hätte, ein Opfer der römischen Scheidungsgesetze, den Gedanken einer Kirchenverbesserung gefaßt … Würde er auch an jenem 20. August der Versammlung, zu der er einlud, achtzig Jahre sein oder nicht mehr leben, so würde man doch seine Gemeinde finden … Nach allem, was ich höre, schloß er, ist dort eine Simultankirche auf den Grund der Bibel errichtet worden, die bis dahin an Macht und Ausdehnung gewonnen haben kann …

Wenn sie nicht die Jesuiten zerstören! unterbrach der Dechant … Lieber Sohn! Welche Träume! Sehen sie meinem Bruder Friedrich ähnlich? … Nein, nein – Mystifikationen! …

Doch die Eichen von Castellungo grünen! entgegnete Bonaventura … Castellungo gehört dem Grafen Hugo … Frâ Federigo, ein Deutscher, lebt unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe … Paula sah ihn deutlich und sagte in einer ihrer Visionen, er gliche mir …

Der Onkel staunte, lächelte dann aber …

Weil sie auch dich an einer Himmelsreligion betheiligt glaubt, die den Priestern erlaubt zu heirathen! … Nein, nein … Das alles ist nur Spuk und hängt mit den Umtrieben zusammen, die plötzlich jenen Terschka enthüllten … Coni oder Cuneo steht in der anonymen Aufforderung? … Fefelotti, Ceccone's Gegner im Conclave, ist soeben aus Rom verbannt und Erzbischof in Cuneo geworden … Ihr armen Waldenser jetzt! Eure Bibeln werden bald confiscirt sein! …

Den Anklagen, die der Onkel auf Ceccone, auf Fefelotti,[93] auf alle, die mit Roms Intriguen zusammenhingen, schleuderte, lieh Bonaventura um so bereitwilliger sein Ohr, als jetzt auch durch Benno's Lebensschicksale sich ein Netz um sie alle her zu spinnen schien, dessen Fäden immer enger und enger wurden und ganz auf Rom führten …

Zum Glück hab' ich euch beide – Ultramontanen bei Zeiten angehalten, italienisch zu lernen! scherzte der Onkel, ohne – darum doch den Beängstigungen, die in den betheiligten Gemüthern diese Dunkelheiten zurücklassen durften, sich ganz zu entziehen …

Inzwischen kamen aus der Residenz des Kirchenfürsten Briefe vom Generalvicariat, die bis auf weitere Entscheidung Roms über den Magnetismus jede Beeinträchtigung des Domkapitulars in seinen Würden niederschlugen … Rother's Anklage wurde als ungebührlich abgewiesen …

Die Genugthuung war demnach vollständig … Dennoch reiste Bonaventura voll Bangen … Er sah das Alter und den Kummer des Onkels … Er fürchtete sich vor einer Stadt, die er auch sonst schon gemieden … Sein Ehrgefühl war doch verletzt worden … Feinde wirkten gegen ihn und zu der Kraft sich zu erheben, die Haß oder Verachtung verleihen, vermochte sein Gemüth nicht … Auch wo Lucinde weilte, konnte ihm niemals Frieden kommen …

Er fand Briefe von Schloß Neuhof vor – auch vom Onkel Levinus …

In letztern fand sich jedoch kein Wort über die doch gewiß mächtig, nach allen Seiten hin aufregend gewesene Wirkung, die sein Brief aus Kocher am Fall hervorgebracht[94] haben mußte … Nur die Anzeichen eines Besuchs der Gräfin Erdmuthe auf Westerhof mehrten sich …

Bonaventura's Herkunft, seine würdige äußere Haltung, seine Kenntniß des Italienischen, alles das veranlaßte aufs neue die Bitten der Curie, er möchte eben sowol für die Befreiung des Kirchenfürsten wie für die Stockung aller kirchlichen Gerechtsame der Stellvertretung desselben die Reise nach Wien übernehmen … Der Staatskanzler galt für einen Gegner der Jesuiten; auch Ceccone hatte mit ihnen seit dem Sturz Fefelotti's Friede geschlossen; vielleicht war in Wien der gute Wille zu gewinnen, die römische Curie zur Nachgiebigkeit zu bewegen … Bonaventura sollte es sein, der den Unterhändler zum Frieden machte …

Er entzog sich diesen Vorschlägen, solange er konnte … Er wußte noch nicht, wie seine Reise in Westerhof würde aufgenommen werden … Auch hörte er nur, daß vorzugsweise Nück es war, der alle diese Rathschläge ertheilte … Konnte von solcher Seite Gutes kommen? … Nück kam wieder in seinen Beichtstuhl und gab ihm in der That vier Davidssteine an, die er gegen den Goliath der Leidenschaft in seiner Brust in Bereitschaft hielt: Ankauf eines Ritterguts, sagte er, landwirtschaftliche Studien, Rückkehr zu alten Dichtversuchen, die er in seiner Jugend gemacht, und die Erlernung der türkischen Sprache … Das Besuchen von Gräbern nütze ihm nichts, setzte er hinzu; ihm wär' es aus alter Liebe zum Tode, wie den Türken, die auf Gräbern Kaffee tränken …

Eine Ahnung konnte der so von Nück offenbar verhöhnte Geistliche nicht überwinden, die, als spräche alles[95] das nur die Eifersucht … In einer Zeitschrift gab Nück mit voller Namensunterschrift als einen Wurf mit seinem dritten Davidssteine in Versen die Klage, daß man das Höchste, was ein Weib geistig einem Manne sein könne, doch nie ohne die Vertraulichkeit der Sinne gewinnen könne … Die volle Unterschrift: »Dominicus Nück« beleidigte Stadt und Land … Seine Freunde sogar sprachen von einer plötzlichen Enthüllung des »Pferdefußes« … Goldfinger junior, inzwischen mit Johanna Kattendyk vermählt, rückte ihm aufs Zimmer und stellte ihn über diese muthwillige Zerstörung des Rufes der Familie zur Rede … »Kümmern Sie sich um Ihre heilige Botanik oder, wenn Sie wollen, um unsere Conto-Currentbücher!« war die Antwort … Es war nur Eine Stimme, der Oberprocurator hatte sich so nur in Lucinde Schwarz verlieben können und diese – widerstand …

Benno arbeitete zwar noch bei dem unheimlichen Mann, streifte aber inzwischen leise alle Fesseln ab, die ihn noch an seine gegenwärtige Stellung gebunden hielten … Auch seine Heimats-, seine Adoptions- und Unterthanenverpflichtungspapiere revidirte und ordnete er … Er wollte nach Italien … Seine Forschungen gingen mit Hülfe des Onkel Dechanten weit über Borkenhagen bis nach Kassel hinaus, wo die über die ersten Lebensjahre eines Julius Cäsar von Montalto gebreiteten Schleier nur noch von zwei Todten, dem Kronsyndikus und seinem Adoptivvater Max von Asselyn oder von seiner Mutter ganz gelüstet werden konnten … Benno hatte bei allen diesen Unternehmungen nur zu hüten, daß nicht Thiebold, der im August aus England zurückgekehrt[96] war, mit seiner gewohnten »Wißbegierde« hinter sein neues, zur Enthüllung noch nicht reifes, auch vor dem Tode des Dechanten wol völlig unmögliches Leben kam …

Thiebold hatte die Reise nach England im Interesse seiner canadischen Holzgeschäfte machen müssen und, wie sich erwarten ließ, er kam höchst elegisch gestimmt zurück … London ist nicht gemacht zum Romantischen! sagte er … In dem Gewühl der Weltstadt war er dem Obersten von Hülleshoven, seinem Lebensretter, nur ein einziges mal begegnet und – ohne Armgart … Letztere war auf dem Lande bei Lady Elliot … Und da er erfuhr, daß auch gerade Terschka dort zum Besuch war, hielt er es für »unter seiner Würde«, sich dort anmelden zu lassen … Nur die Gräfin Erdmuthe und Porzia Biancchi sah er in London und begleitete beide in ein Bibelgesellschaftsmeeting, zu dem sie vom Lande hereingekommen waren, und dann eine Strecke am Themseufer entlang auf der Rückreise nach dem Landsitz der Lady … Er hätte, erzählte er, nur aus allem, was er mit ihr verhandelt, das Eine herausgehört, wie Terschka wieder in höchsten Gnaden bei ihr stünde … Vom Obersten wußte schon Benno, daß seine kühle Gesinnung gegen den katholischen Glauben von den Erfahrungen herstammte, die er in Canada gemacht … Das Leben in den Klöstern von Monreal hätte Anlaß zu gerichtlichen Untersuchungen gegeben und Hedemann hätte dann mit einer angeborenen pietistischen Anlage den Obersten auf ihren Reisen vollends angesteckt …

Auch Bonaventura erfuhr diese Mittheilungen …

Da sein Auge, träumerisch und irrend, immer nach dem[97] Thal von Castellungo gerichtet war, so mußten die reformatorischen Bestrebungen auf dem Gebiet der katholischen Kirche mehr denn je Gegenstand auch der Unterhaltungen werden, zu denen er die Freunde öfters bei einem einfachen Mahl in seinen Zimmern einlud …

Benno's Gesichtspunkte waren ausschließlich politische … Er sah in der Kirchenspaltung den Untergang Deutschlands … Er haßte das Betonen kirchlicher Streitigkeiten und lehnte deshalb auch die Ansprüche ab, die der Protestantismus auf größere Vorzüglichkeit machte …

Wenn man den katholischen Glauben, sagte er, von dem Zwang, innerhalb kirchlicher Gemeinschaft leben zu müssen, befreien und die Verbindlichkeit der Autorität für die Freiheit des Gewissens aufheben könnte, so liegt eine freundlichere Lebensauffassung in all unsern Ceremonien, als im Pietismus … Haben Sie in Gegenwart der Gräfin je eine wahre Freude über die Schönheit des Meeres und den blitzenden Spiegel der Wellen äußern dürfen, als Sie mit ihr die Rückreise machten, oder haben Sie irgendeinen weltlichen Gegenstand unbefangen nennen können? Hedemann hat uns wenigstens in Witoborn auf jede natürliche Aeußerung unserer Empfindungen einen scheinbar frommen, im Grund aber rechthaberischen Dämpfer zu legen gewußt …

Bonaventura nannte indessen seinerseits die Erscheinung des Protestantismus nur deshalb unvollkommen, weil er nur durch das Bedürfniß, einen polemischen Gegensatz aufzustellen, hervorgerufen wäre … Der Pietismus, sagte er, das ist ein Versuch, aus dem Protestantismus wieder zur Religion zurückzukommen; denn[98] Protestant sein, heißt nicht: Christ sein, sondern nur: Nicht-Katholik sein …

Und man müsse sich allerdings, fuhr er fort, eine Zeit denken können, wo auch der Katholicismus in seiner jetzigen Gestalt aufhörte … Die Verbreitung der Philosophie würde dann bis in die kleinsten Hirtenthäler Spaniens und Siciliens gedrungen sein … Ich verstehe, sagte er, unter Philosophie eine Aufklärung, die ihre Resultate mit verständlichen Allgemeinbegriffen in die Welt hinausgehen lassen kann … Dann wird die Frage nur noch lauten: Was ist rein christlich? … Dann werden sich Protestanten und Katholiken begegnen müssen im apostolischen Gemeindeleben … Auf welchem andern Grunde soll man sich zuletzt wieder die Hände reichen, als auf dem der Bibel? …

Mit Thiebold's schüchterner, aber fast mit latentem Fanatismus hingeworfener Bemerkung zu Benno: »Vorausgesetzt daß man überhaupt kein Heide ist, wie denn doch wol mehr oder weniger Ihr Fall, mein bester Freund!« schloß die Debatte im Scherz …

Ohne zu auffallende Erlebnisse, ohne ein Lebenszeichen von Westerhof, ohne die Ankunft der Gräfin Erdmuthe, nahte sich schon der Spätsommer … Benno wurde indeß erkoren, der Ueberbringer der Pacten zu sein, die bereits die Agnaten der Familie Paula's, die Landschaft und die Curie von Witoborn dem Grafen Hugo zur Unterschrift vorlegen wollten … Der Präsident von Wittekind, Bonaventura selbst waren an diesen Pacten betheiligt und jener erschien dann auch plötzlich in der Residenz des Kirchenfürsten …[99]

Benno und Bonaventura wurden durch seinen Besuch in jeder Beziehung überrascht …

Kein stürmischer, aber auch kein kalter Gruß war es, mit dem er Benno in der That seinen – Bruder nannte … In der darauf folgenden kurzen Umarmung lag ein ganzes Leben …

Die Sehnsucht Benno's, Mutter und Schwester kennen zu lernen, fand der sonst dem Abenteuerlichen wenig geneigte Mann natürlich … Die Mittel, eine Reise nach Wien und Italien zu unternehmen, wurden reichlich von ihm dargeboten …

Das Band des Blutes zwischen beiden Männern war so eigenthümlich bedingt, daß sie sich anfangs ohne Wallung des Erröthens nicht ansehen konnten … Die in solchen Lagen so oft vom Gemüth vorausgesetzte Gegenwart eines unsichtbaren Geistes, der vom Land der Seligen herüber die Hände zweier so widerstrebender Interessen ineinander legt mit dem Friedenswort: Seid einig! konnte hier nicht vorausgesetzt werden … Was sie umrauschte war der mitternächtige Flügelschlag der Eule …

Der Hinblick auf Wien – auf die gemeinsame – Schwester mehrte den unheimlichen, erschütternden Eindruck …

Der Präsident kam als Vertreter der Agnatenansprüche und als nächster Verwandter Paula's, er dachte über die Nothwendigkeit dieser Ehe ganz wie Monika … Eine Schonung Bonaventura's, wenn sie ihm auch vielleicht als zu üben bewußt war, forderte nicht die Stellung eines Priesters und überhaupt eines solchen, wie sein Sohn … Eher war die Erwähnung des Grafen Hugo[100] um Benno's willen mislich … Er erzählte von Angiolina, von der Herzogin von Amarillas, was er mit Vorbedacht erkundschaftet hatte. Sie werden vorziehen, den Namen der Asselyns für immer zu behalten und fortzupflanzen, da er ohne Sie aussterben würde! sagte er zum Bruder, den er – nicht Du nannte … Die Gültigkeit der betrügerisch geschlossenen Ehe des Kronsyndikus mußte wiederholt zur Sprache kommen … Geld würde es auf alle Fälle reichlich kosten, sagte er, bis die Sacra-Dataria in Rom, natürlich erst nach dem Tod des Dechanten, zu Ihren und Angiolinens Gunsten Ihre Deutungen des kanonischen Rechts geltend machte … Auch in unserm Land würde dann die Anerkennung nur ein Gnadenact der Krone sein können, der sich kaum verbürgen ließe, da die Herzogin von Amarillas nicht einmal die Klägerin ist … Sie wird sich hüten, das Verbrechen der Bigamie auf sich zu laden … Sie wird immer sagen, daß sie zuletzt den Betrug durchschaut hätte … Ich bin begierig auf Ihre Begegnung mit ihr …

Die Auffassungen des Präsidenten widerstrebten zwar einer Verbindlichkeit derjenigen Ergebnisse nicht, die etwa Benno von einer Begegnung mit seiner Mutter heimbringen würde, nannten aber die katholische Lehre von der Ehe gefahrvoll und den bekannten Ehen des Schmieds von Gretna-Green nicht im mindesten unähnlich … Julius Cäsar von Montalto war ein von der Mutter hergenommener Name, die sich Maldachini nur als Sängerin nannte …

Bonaventura vertheidigte die Einfachheit der katholischen Ehe …[101]

Sie ist ein letzter Rest der apostolischen Zeit … sagte er … Die bürgerliche Gemeinde war damals die Kirche und die Kirche war die bürgerliche Gemeinde … Zwei Liebende sagten vor dem gemeinschaftlichen Genuß des Abendmahls: Wir sind Eins! und keine Macht der Erde konnte sie trennen …

Leider auch die Kirche nicht mehr! … setzte der Präsident seufzend hinzu … Gewiß sollte dann auch hier der eigene Wille höher stehen als ein Mysterium, das ein Mysterium zu sein aufhört, wenn sein Duft verflogen ist, die Liebe …

Die eignen Familienbeziehungen wurden für die Fortsetzung des Gesprächs zu schmerzlich …

Den heftigen Anklagen des Präsidenten gegen Terschka, Rom, die Jesuiten, Nück konnten die Freunde nicht widersprechen … Auch hier hatte Friedrich von Wittekind Zusammenhänge, deren Kenntniß ihm nur aus amtlichen Quellen gekommen sein konnte … Dennoch rieth er Benno, Nück nicht ganz aufzugeben und jedenfalls die Reise nach Wien im Auftrag der Dorste'schen Agnaten zum äußern Anlaß seiner weitern südlichen »Entdeckungsfahrt« zu machen … Nur lassen Sie sich kein rothes Kreuz aufheften, um in päpstliche Dienste zu treten! fügte er hinzu … Wenn Sie indeß von Nück an den Staatskanzler empfohlen werden, das nehmen Sie als interessante Reiseerinnerung! …

Ich würde wie Posa reden! … scherzte Benno …

Thun Sie das ja nicht! Dann gibt er Ihnen eine Anstellung! entgegnete der Präsident …

Man stritt über diesen Scherz … Der Präsident sagte: Glauben Sie mir, der Staatskanzler stellt jeden noch so[102] freisinnigen Posa an, der von guter Familie und katholisch ist … Es hat aber gute Wege damit … Sprächen Sie ihn, Sie würden den klugen Mann so liebenswürdig finden, daß Sie nicht ein einziges freisinniges Wort gegen ihn aufbrächten … Er wird sogar liberaler sein als Sie – wenigstens fürchtet er mehr als wir die Jesuiten … Wenn er jetzt den Schein annimmt, Rom beizustehen, so ist es nur, um unsern Staat zu schwächen … Aber auch das wird er in Abrede stellen und dem jugendlichen Sinn jede Zustimmung abschmicheln …

Bonaventura und Benno blieben Welfen – nicht im hierarchischen Sinn, sondern so wie Bonaventura einst zu Klingsohr hatte sagen können: »Nichts will im Grunde die Freiheit der Völker und des Menschen mehr, als die katholische Kirche!« …

Der Präsident besuchte, zur Beruhigung des Dechanten, noch Kocher am Fall … Er hatte sich als Beamter zur Disposition stellen lassen, weil seine Erbschaft ihn zu sehr in Anspruch nahm …

Einige Wochen später war Benno zur Abreise bereit … Bonaventura hatte kein Wort von Paula gehört … Ihre ekstatischen Zustände dauerten fort, aber ihn selbst schien sie aus ihrem Leben gestrichen zu haben … Es lag eine seltsame Strenge, eine Strafe in diesem Schweigen … Er litt unsäglich …

Benno erhielt von Nück die Papiere, die dem Grafen Hugo vorzulegen waren. So sehr er sich dagegen sträubte, mußte er dennoch Depeschen an Ceccone und den Staatskanzler mitnehmen … Er konnte dies in der Fülle der ihm übergebenen Aufträge nicht ablehnen …[103] Der Dechant empfahl ihn an alle seine alten wiener Freunde und besonders Einen, bei dem er wohnen sollte … Benno nahm dies an, obgleich er einsah, daß es ihn sofort nach Rom ziehen würde … An die Möglichkeit, daß und in welcher Form Ceccone wagen könnte, die Herzogin von Amarillas sich nachkommen zu lassen, konnte niemand von den enger Verbundenen glauben …

Thiebold blieb außerhalb aller dieser Geheimnisse und litt unter der Trennung von Benno wie ein Liebender unter der Trennung von seiner Geliebten … Sein »Halt«, seine »Führung« war dahin … Doch zerfloß er nur in jene bekannte Sentimentalität, die sich vor dem Uebermaß der Selbstrührung durch Poltern zu bewahren sucht … Er packte Benno's Koffer, revidirte seine Garderobe und zerstörte ihm seine alten Brieftaschen, Haar- und Nagelbürsten, um ihm nur ein prachtvolles englisches Reisenecessaire zum Andenken mitgeben zu dürfen …

Nicht ebenso »unausstehlich« aufmerksam, aber theilnehmend waren auch alle andern Bekannte Benno's … Nur Piter hatte sich seit einiger Zeit zurückgezogen …

Noch am Abend vor Benno's Reise kam Thiebold zu Bonaventura ins Domkapitel, wo er hoffen konnte Benno zu finden, und erzählte athemlos einen »schönen Skandal« … Piter hatte Treudchen Ley gewaltsam aus dem Kloster entführt …

Denken Sie sich, erzählte er, Piter soll bereits schon einmal im Kloster gewesen sein und zwar auf welchem hoffentlich »nicht mehr ungewöhnlichen« Wege? … In einem Waschkorb! … Ich versichere Sie auf Ehre![104] Eingepackt als Leinzeug, das von einer im Kloster gehaltenen Nähschule gesäumt, gesteppt, gezeichnet, gewaschen und gebügelt werden sollte …

Bonaventura schlug die Augen nieder …

Dieser Ueberfall, fuhr Thiebold fort, misglückte damals … Aber – Sie wissen ohne Zweifel, Herr Domkapitular, die kleine allerliebste Blondine, die bei seiner verstorbenen Schwester diente – diese für ihn unbegreiflicherweise – nein, um es aufrichtig zu gestehen, ich kann mir diese Verirrung seines Geschmacks, »wenn Sie wollen« erklären … Nicht nur nicht, daß die Kleine wirklich ein Bild von Schönheit, von Sanftmuth, von Anmuth – ohne Spaß – sondern auch – daß sie –

»Mehr Inhalt, weniger Kunst!« unterbrach Benno …

Thiebold, gewohnt, von Benno'schen Dialog-Hindernissen gereizt zu werden, hörte nicht auf die Mahnung, sondern wandte sich an Bonaventura, der sein Studirzimmer den Freunden bereitwillig zum Rauchen hergab, und fuhr fort:

Sagen Sie selbst, Herr Domkapitular, finden Sie es nicht auch begreiflich? …

»Nicht nur nicht –« schaltete Benno ungeduldig ein …

Wer – sich – nur – irgend – auf Piter's – Standpunkt – zu – versetzen weiß – sagte Thiebold, jede Sylbe betonend …

Ich kenne das junge Mädchen und wünsche jedem Glück, der dessen Liebe gewinnt – schaltete Bonaventura zur Beruhigung ein …

Vollkommen meine Ueberzeugung! äußerte Thiebold[105] mit einem Mitleidsblick auf Benno … Nur eine »dergleichen Acquisition« konnte »Piter's Naturell Befriedigung gewähren« … Eine Liebe darf manche Charaktere nicht »geniren« …

Kurz, Thiebold erzählte von einer Verkleidung, in der sich Piter ins Kloster geschlichen hätte … Früher wäre er im Waschkorb gekommen, diesmal aber als Mitglied der weiblichen Nähschule selbst … Er hätte nicht einen einzigen seiner Sherrypunschfreunde zum »engern Complicen« gehabt. Der Gedanke wäre ganz original aus »seiner Seele allein« entsprungen. Vielleicht höchstens mit Hinzuziehung des Fräuleins Lucinde, die dem Treudchen diese Partie gönnte – »vermuthete« Thiebold … Piter hätte sich in den einfachen Anzug einer Näherin geworfen, hätte seine interessante Erscheinung durch einen Strohhut mit Schleier unkenntlich gemacht und wäre so ins Kloster gekommen … Das Glück hätte ihn begünstigt und vor einem zu langen Umherirren bewahrt … Treudchen Ley wäre bald aufgefunden gewesen, er hätte sie in ihrer Zelle überrascht und ihr solange – Thiebold bediente sich des auf Piter anwendbaren Ausdrucks – »zugesetzt«, bis das schwache, willenlose Mädchen eingewilligt und mit ihm durch die Gänge, die ins Waisenhaus führten, das Kloster verlassen hätte … Dort hätte sie noch erst ihre Geschwister unter Thränen geküßt und wäre dann spurlos verschwunden … Piter hätte ohne Zweifel den Weg nach einer Gegend genommen, die derjenigen völlig au contraire gewesen wäre, aus der er jetzt »mit seinem Hause« correspondire … Sein Schwager, der Professor außer Diensten, hätte im Sturm der Indignation sofort Procura bekommen, während die Commerzienräthin[106] die »gewöhnliche Farbe ihrer Scheitel aus Anstandsrücksichten ins Kummergraue melirt« hätte … Ohne Zweifel würde Piter nach einigen Monaten an der Hand seines jungen Weibchens »am Platz« zurückkehren und höchstens nur noch mit den Curatoren des von ihm entweihten Klosters, namentlich mit dem wiederhergestellten Pfarrer vom Berge Karmel, »einen schönen Tanz kriegen« …

Bonaventura hörte alledem zu, wie ein Arzt seinen Kranken reden läßt und durch kein Lächeln verräth, daß die ihm mitgetheilten Symptome ihm in nichts überraschend, wenn auch auf völlig andere Ursachen hinzuleiten erscheinen, als sie der Kranke ausspricht …

Die Belustigung seiner Freunde über »Piter als Nähmamsell« konnte Thiebold, trotz des Verdachts der Blasphemie, »nicht umhin« zu theilen und versprach sich davon für den stadt- und landersehnten nächsten Carneval ein »anregendes Motiv« …

Benno reiste am folgenden Morgen ab und Thiebold gab ihm das Geleite bis auf eine Tagereise, Bonaventura nur bis zur Abfahrt des Dampfboots … In seinem letzten Blick und Handdruck lag ein tiefes Bangen vor den Erfahrungen, denen Benno entgegenreiste … Die Rührung des Abschieds konnte nicht zum vollen Ausbruch kommen – Thiebold's wegen, der theils mit den Kofferträgern zankte, theils dem Abschied der Freunde und den etwa dabei fallenden »letzten Wünschen« ein aufmerksames Ohr lieh …

Nach einem jener abwechselungsreichen Tage, wie man sie auch nur auf einem menschenüberfüllten Dampfboot und dann nur mit Thiebold de Jonge, der Seele einer[107] solchen Fahrt, verbringen konnte, nahm Benno auch von diesem Abschied … Sie hatten noch eine Nacht in einem der schönen Hotels zugebracht, deren sich in der Nähe des Grabes der heiligen Hildegard mehrere erheben … Wieder brach ein milder, sonniger Herbsttag an, als Thiebold frühmorgens thalwärts, Benno bergauf weiter fuhren … Ihr Abschied war, wie Thiebold versicherte, nur auf kurze Zeit … Der Landtag, der seinen Vater beschäftigte, trat zwar zusammen, würde aber der von der Ritterschaft und den Städten beabsichtigten Anträge zu Gunsten des Kirchenfürsten wegen sogleich aufgelöst werden … Er würde dann nicht verfehlen, ihn eines Morgens in »Oesterreich und Umgegend« zu überraschen …

Im Fremdenbuch ihres Hotels hatten sie den Namen Schnuphase gefunden … »Stadtrath« Schnuphase … Der von der Commune wegen seiner kirchlich-oppositionellen Richtung durch diesen Titel ausgezeichnete Mann reiste, wie zu lesen stand, gleichfalls nach Wien … Prächtige »Unterhöltung« das! sagte Thiebold. Ein »Ersötz« für meine »unfreiwillige Kömik« …

Dieser letzte »Stich« vertrieb die Rührung nicht, mit der sich beide Freunde umarmten … Auch von Thiebold nahm Benno Abschied in dem seltsam ihn beschleichenden Gefühl, ihn nie wiederzusehen … Er mußte sich abwenden, um das flatternde Taschentuch nicht mehr zu bemerken, mit dem ihm Thiebold so lange seine Grüße zuwehte, bis der Dampfer, der ihn trug, hinter dem grünen Vorgebirge des Niederwalds verschwunden war …

Benno's Schiff ging später und legte in Rüdesheim an, um Güter und Passagiere aufzunehmen …[108]

In der That wurde ihm hier Stadtrath Schnuphase als Mitpassagier zu Theil …

Herr Maria mit der röthesten Nase, sonst wie zu einer Audienz, in weißer Weste, im Frack, weißer Halsbinde, erschien auf der Landungsbrücke und ließ eine Menge Koffer, eine Equipage von wenigstens zehn Centnern Uebergewicht aufladen, darunter eine Kiste, der er eine Aufmerksamkeit widmete, als wäre sie ganz mit Monstranzen, Meßgewändern oder consecrirten Kerzen gefüllt …

Anfangs bemerkte er Benno nicht …

Herr Maria war in einem zärtlichen Abschied begriffen von einer hohen Gestalt, die ihm kräftiglich die Hand schüttelte …

Benno erkannte den Moppes'schen Küfer, den Richter von der Eiche am Düsternbrook, den Richter seines eigenen Vaters, Stephan Lengenich …

Wohl war ihm diese Begegnung eine unheimliche … Er wich Schnuphasen aus, ergriffen wie von einem Omen …

Doch allmählich, als das Schiff weiter fuhr und Benno, gegen den noch kühlen Morgenwind in einen Mantel sich verhüllend, vom Verdeck aus den Küfer lange auf der Brücke harren und mit abgezogenem Hut dann und wann noch den Stadtrath zum Scheiden grüßen sahe, löste sich der Druck der Erinnerung, der mit eisigen Krallen sein Herz erfaßt hatte …

Auch der Stadtrath hatte ihn jetzt entdeckt, erkannt und mit Bewillkommnungen überhäuft …

Wo reisen Sie hin, Herr Stadtrath? … Auch nach Wien? … fragte Benno gelassen …[109]

Herr Maria hätte Benno vor Freude über eine solche Reisebegleitung fast umarmt …

Eben fuhren sie am Johannisberg vorüber …

Er schilderte geheimnißvoll, was er oben gestern und heute gesehen auf dem in der Sonne leuchtenden Schlosse …

Er schilderte die »Öpörtements«, den berühmten Schreibtisch, der ganz mit »S-piegeln« umgeben wäre, sodaß der hohe »S-tötsmönn«, indem er die Feder führte, immer sehen könnte, ob hinter ihm die »demögögischen Umtriebe« … –

St! … unterbrach Benno … Die Kellerei! … Erzählen Sie von der! …

Der vor Begeisterung auch über diese Keller, wie er sagte, »sich noch in einem ungefrühs-tückten Zus-tande befindliche« Stadtrath machte eine bedeutungsvolle Miene, sah nach Rüdesheim zurück, dann auf sein Gepäck und brach von dieser Frage mit eigenthümlicher Pfiffigkeit ab …

Ich glaube gar, Sie haben geheime Aufträge an den Staatskanzler? fragte Benno …

Wieder folgte eine mysteriöse und diplomatische Abschwenkung …

Die Nase glühte in der Sonne … Das weiße lockige Haar stand dem kleinen Haupte ganz staatsmännisch und bedeutungsvoll …

Benno gab sich der Hoffnung hin, daß ihm seine Reise wenigstens von dieser Seite her Unterhaltung bieten würde.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 7, Leipzig 1860, S. 83-110.
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