10.

[295] Im siebzehnten Jahrhundert war es, wo sich der Jesuitismus zu jener Alleinherrschaft innerhalb der katholischen Kirche erhob, durch die sein Sturz mehr herbeigeführt wurde, als durch die Philosophie der Aufklärung. Die übrige Geistlichkeit, die der weltlichen sowol wie der Ordenssphäre, lieferte im stillen die Materialien zu jener Verfolgung, die sich zum Sturz der auch von ihnen gehaßten mächtigen Staatenlenker und Gewissensräthe verschworen hatte.

In jener Zeit des höchsten und übermüthigsten Triumphes entstanden die großen Kirchen und Collegien, die auf den Namen der Jesuiten gehen und nach dem entarteten italienischen Geschmack, der damals herrschte, gebaut worden sind. Es war die Eleganz der gewundenen Bandschleife eines Zopfes, die glatte Dressur des über den Kamm gestrichenen Haares, die Form der gebogenen Schnalle an den Schuhen, die auf die Windungen, Rundungen, Cannelirungen, Fenstersimse und Portale der Architektur übertragen wurde. Das Innere der Kirchen wurde mit Marmor und Gold überkleidet. An[296] den Altären erhoben sich gewundene Säulen, umgeben von schwebenden Engeln, die die gemüthlichen Wirkungen, die sonst die Malerei hervorgebracht hatte, jetzt auch durch die Plastik versuchten. Alles sollte sinnlich, erfaßbar, wie wirklich und leibhaftig in die Augen fallend erscheinen. Blumen wurden in halb erhobener Arbeit bunt an die Decken und Wände geheftet, plastische Heiligenbilder schmückten sich mit Farben und mit wirklichen Kleidern. Man wollte das Wohlgefallen aller Sinne gewinnen. Sogar die Glocken auf den nicht mehr zu hohen, nicht mehr zum Himmel anstrebenden Thürmen erhielten einen eigenen Rhythmus. Die Jesuitenglocken schlagen in kurzathmiger, schnellaufender Hast eine zwei- oder dreitönige musikalische Figur an, deren endlose Wiederholung, wie eine jener alten Litaneien, die man in Abendmetten vom Chor anstimmt, die Seele zuletzt so verwirren und betäuben kann, wie die Begleitung mit Trommel oder Pfeife asiatische Tänzer und Schamanen.

Aber in den ersten Anfängen der Verbreitung des von Loyola gestifteten neuen geistlichen Ritterordens war das Auftreten desselben bescheidener …

In der Residenz des Kirchenfürsten gab es eine stattliche Jesuitenkirche mit marmornen Portalen. Ihr gegenüber lag das Collegium der Väter in jenem Styl, in dem unter Ludwig XIV. gebaut wurde. Beide Sitze der alten, von Ganganelli gestürzten Herrlichkeit gehören nicht mehr den Jesuiten, auch seitdem das Jahr 1848 ihnen fast allein – Erfolge der Freiheit gegeben hat.

Ihr früheres ältestes Profeßhaus liegt in einem entlegenern[297] Theile der Stadt und hat das Ansehen eines mäßigen Klosters …

Ein Hofraum ist von drei Seiten mit einem zweistöckigen Gebäude umgeben, von der vierten Seite mit einer hohen Mauer, in der sich das Eingangsthor befindet. Eine kleine düstere Kapelle unter hohen breitastigen Bäumen liegt an der Pforte von außen; von innen, ehe man den grasbewachsenen Hof betritt, muß man erst an der Wohnung des Pförtners vorüber. Ein kleiner Thurm mit durchbrochenem Glockenstuhl und einer alten heisern, schon lange geborstenen Glocke bezeichnet die Stelle, wo sich noch jetzt eine damals nur für die Väter bestimmte Kirche befindet. Das Dach des dreigeschenkelten Hauses ist von Schiefer; die Fenster sind winzig klein; ein neuer weißer Kalkanstrich steht in grellem Contrast zur Verfallenheit des ganzen Gebäudes, das sowol durch die vorliegende vergitterte kleine unzugängliche Kapelle, in welcher der mit Immortellen und gemachten Blumen und bunter Madonna verzierte Altar etwas von dem Gespenstischen eines Wachsfigurencabinets darbietet, wie durch die ringsumher stehenden uralten Bäume auf seinem etwas hoch gelegenen einsamen Platze einen unheimlichen und düstern Eindruck gewährt.

Dies alte Profeßhaus dient jetzt noch zu allerlei geistlichen Zwecken. Es ist nicht in allen seinen Zellen bewohnt. Hier in dem einen Flügel scheint es eine Art Krankenhaus zu sein; denn ein hüstelnder langer, hagerer Greis, den nicht mehr die Tonsur unter dem Sammetkäppchen als Geistlichen erkennen lassen würde, öffnet ein Fenster und hält die Hand in die rauhe Abendluft hinaus. Seit Jahren ist[298] er heiser, kann nicht mehr die Messe singen und fand, da er seine Pfarre aufgeben mußte, hier im alten Jesuiter-Profeßhause seine Versorgung. Dort jener gegenüberliegende Flügel deutet auf eine Strafanstalt. Einige Fenster sind vergittert und wiederum ist es ein Geistlicher, der einen Moment eine lange Pfeife durch die Eisengitter steckt und sich den mit Schnee gemischten, in Glatteis übergehenden Regen nicht verdrießen läßt. Ein Irrsinniger ist es nicht, aber die ganz klaren Gedanken kommen ihm selten. Seine Stelle mußte er verlieren, weil er in die Messe zuweilen deutsche Zwischenreden mischte, den Wein beim Namen des Gewächses nannte, bei Austheilung des heiligen Brotes ein: Wohl bekomm's! mit einfallen ließ, auf der Kanzel Wirthshausanekdoten erzählte und in den Beichtstuhl mit der Pfeife im Munde ging. Nicht so schlimm ist er, wie sein Nachbar links, den man ganz absperren mußte, weil er kein weibliches Wesen erblicken kann, ohne mit ihm Gespräche anzuknüpfen, die selbst einem Laien nicht gestattet sind. Sein Nachbar rechts wieder ist ein so heilloser Flucher, Schwörer, Händelsucher und Wirthshausmatador, wie nur ein geborener Bauernsohn sein kann, der, wenn er wieder in ein Amt kommen sollte und auf seiner Pfarre dem Oberförster, dem Amtmann, dem Schulmeister begegnet und nicht den Gruß so geboten bekommt, wie er ihn verlangt, den Leuten den Hut vom Kopf schlägt. Noch jetzt geht er im Zorn aus Rand und Band und kann schon lange nur durch Hunger gezähmt werden … Strafklöster und Strafanstalten gehören dieser Kirche ausschließlich an und sind in solchem Grade eine stillempfundene Demüthigung ihres Priesterstandes,[299] daß man sie gern eingehen ließe. Man bedient sich dazu des Vorwandes, daß unter den Geistlichen neuen Stils keine Vergehen so arger Art mehr vorkämen …

Der mittlere Bau, an welchem sich im Sommer vom Grase des Hofes empor hier und da einige Weinranken auf der weißgetünchten Wand hinziehen, hat einige freundlichere Zimmer, ein Refectorium und nach der entgegengesetzten Seite zu sogar ein schmales Gärtchen, das indessen schon lange von einer alten hohen Mauer, der Brandmauer anderer Gebäude, begrenzt wird. Hier finden oft arme durchreisende Geistliche ihr Unterkommen. Mancher von ihnen wird auch zu irgendeiner Verantwortung berufen; andere kommen in eigenen Geschäften und scheuen die Ausgabe in einem Gasthofe …

Die Ordnung in einem solchen Hause aufrecht zu erhalten, ist keine geringe Aufgabe. Nicht nur gehören dazu Fleiß und Umsicht, auch Unbestechlichkeit, Pflichtgefühl jeder Art und physische Kraft. Für die Reinlichkeit sorgt eine alte Frau, die durch ihre Kleidung sich als zum Geschlecht der Grazien gehörig ausweist; sonst würde man sie den Männern und solchen zugerechnet haben, die ohne Gefahr für ihre Gesundheit bei Schleusenarbeiten in Morast leben können. Dies zarte Wesen ist die Hanne Sterz. Nur ein Auge hat sie, ist lahm, kocht aber leidlich. Die Elasticität ihres rechten Fußes hat sie von einem unglücklichen Eingeklemmtwerden in einer der Zellenthüren auf der Strafseite des Profeßhauses, da, wo Entbehrung selbst über Macbeth-Hexen hergefallen wäre. Frau Hanne Sterz zählt schon siebzig[300] Jahre und verdient den Beistand, der ihr seit einigen Monaten durch einen ihrer Anverwandten wird, einen groben, rothhaarigen Knecht, den man den Joseph nennt. Ueber Hanne Sterz aber und dem Joseph steht der eigentliche Verwalter des Hauses, ein ehemaliger Soldat, den die Regierung installirt, ohne ihn vom Gehorsam auch gegen die geistlichen Behörden zu entbinden, die eine Art Jurisdiction und Disciplinargewalt in diesen Mauern ausüben können. Aber Herr Kratzer muß der Regierung von jedem Misbrauch dieser Befugnisse der Curie Anzeige machen und die Rapporte über die im Profeßhause befindlichen Einwohner und deren Befinden allwöchentlich abliefern. Denn Fälle wie die, daß man in die unterirdischen Gefängnisse geistliche Strafgefangene wirft, sollen nach dem Willen der Regierung nicht mehr vorkommen. Kratzer führt die Schlüssel zu den unterirdischen Gängen der Stadt. Er hat dafür zu sorgen, daß sie nicht misbraucht werden. Längst ist es der Plan der Regierung, sie zu verschütten. Bis dahin muß Kratzer sie so reinlich halten, als es die Ratten und sich einmündenden Kloaken erlauben. In diesem Amte unterstützen den »Castellan« die herculischen Schultern irgendeines vom Staat besoldeten Knechtes. Joseph ist einer der vielen, die Kratzer schon in diesem Amte als Beistand hatte. Er selbst scheint einer jener alten ergrimmten und ewig verstimmten Invaliden ohne Weib und Kind. In dem kleinen Hause an der Pforte, die er wie ein Cerberus hütet, wohnt er. Grützmacher ist andern Glaubens als Kratzer; hätte er den Kameraden im Sommer[301] so am offenen Fenster, im Lehnstuhl sitzend und rauchend und mit unveränderlich mürrischer Miene in dem weißbebarteten Antlitz immer auf dieselbe Stelle im Hofe, immer auf dieselbe kleine bunte Winde oder Kresse in dem sechs Fuß breiten Gärtchen, das er um sein Häuschen herum angelegt hat, blickend gefunden, er würde ihn entschuldigt und gesagt haben: Die Menschen verstehen gar nicht diese furchtbare Müdigkeit eines alten ausgedienten Militärs!

In zwei der kleinen Zellen des Mittelbaues wohnt seit einiger Zeit Pater Sebastus. Anfangs war er nur hier in Herberge. Seit einigen Monaten ist er ein Gefangener. Täglich erwartet er eine Entscheidung, wann und unter welchen Umständen er zum Kloster Himmelpfort bei Witoborn zurückkehren darf. Er ist krank, will keinen Arzt, liest und schreibt nur und grübelt. Seine Petitionen an die Curie und die Regierung enthalten schon lange nur noch die Bitte, rauchen zu dürfen. Diese verwies dafür auf jene, jene auf diese, und so bettelte der Mönch noch vor Weihnachten den Castellan nur um Cigarren an … Jetzt entsagt er auch diesen … Die Censurstriche können ihn zuweilen noch lebendig machen und die Druckfehler. Kratzer, der oft den Burschen mit den »Stufenbriefen« begleitet, ahnt nicht, daß sie mehr enthalten, als Betrachtungen über die Buße, die Sünde, die Erlösung.

Bei alledem ist Sebastus beim Eintritt in sein dreißigstes Lebensjahr der Alte geblieben … Ja! und: Nein! hatte er drei Tage lang zu Bonaventura gesprochen. Als er aufs neue die Rumpelgasse besuchte, erhielt er[302] Gefangenschaft; dennoch geißelt er sich wirklich, wenn sein Guardian im Kloster Himmelpfort: Miserere! ruft. Er gibt Sokrates, Plato, Aristoteles, Firdusi, Shakspeare, Milton, Spinoza, Goethe, Harry Heine noch immer hin, wenn nur Gregor und Innocenz bleiben; besonders seit der Gefangennehmung des Kirchenfürsten, der ihm die Springprocession nach Echternach mitzumachen hätte anbefehlen können; er würde, abgekühlt vom ersten Schrecken, den Mann doch eine »Natur« genannt haben. Raubte man ihm alles, doch blieb – das volltönende Latein des Breviers, der majestätische Klang des »Dies irae« und »O salutaris hostia«!

Ueber Lucinde und Bonaventura weiß er durch Veilchen Igelsheimer schon seit den Tagen, als er noch der Außenwelt angehören durfte, daß jene schon seit lange diesen Priester kennt, durch ihn – immer entstellt das Gerücht – bekehrt wurde, für ihn nur lebt … So beichtet er denn auch diesem nicht, einem Priester, der ihn in seiner tiefsten Erniedrigung kennen gelernt hat … Zur vollen hingegebenen Freundschaft fehlte ihm wahre Demuth; ohne eine gewisse Unterwerfung gibt es keine Freundschaft.

Und dann! Wer freilich mag auch sehen, wie ein Herz, das wir selbst einst besaßen, einem andern gehört! …

Von Tag zu Tag wächst das physische und Seelenleid des Gefangenen, dessen Einsamkeit nur der Besuch der Kirche im Kloster, einigemal die Besuche des Untersuchungsrichters (man vermuthete in Klingsohrn den Verfasser einiger in Augsburg und Würzburg erschienenen Broschüren), der Arzt unterbrechen … Weihnacht ist vorüber …[303] Die Hinrichtung Hammaker's kann Sebastus in keine Verbindung mit seinem eigenen Leben bringen … Es kehren die alten geistesschwachen und geisteszagen Stimmungen wieder … die Hände zittern … mager und dürr liegt er in der braunen Kutte und barfuß auf einem alten Sopha … Alte Lieder summt er, dichtet neue, findet die Reime nicht mehr und bedarf dringend den Mechanismus des Klosters, bedarf der Hand des Bruders Hubertus, der ihn z.B. um jede Mitternacht aus seinem Schlafe emporhob und ins Chor der Kirche zum Singen trug – dies schwere Amt, das der heilige Franciscus erfunden hat, um im Kloster nichts in der Welt nächst Gott mehr lieben zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr ersehnen zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr erstreben zu lassen, als den Schlaf.

Eine traurige Winterszeit … Es regnet, es stürmt … Nur die dumpfen Schläge der Thurmuhren unterbrechen die bange Oede eines Aufenthalts, den des Mönches schroffer Sinn noch einsamer macht durch Ablehnung alles Umgangs mit den übrigen Bewohnern des Hauses. Wenn die Dunkelheit schon früh sich niedergesenkt hat auf den trüben Tag, wenn zwei mächtige Hunde in ihren Hütten sich bäumen und gegen die gewaltige rings von einem kleinen Eisenverschlag umgitterte Thorglocke bellen, die draußen von einem Einlaßbegehrenden gezogen wird; wenn die großen Holzpantoffeln der hochaufgeschürzten Hanne Sterz im Hofe klappern oder Joseph beim Schein einer Laterne das Holz spaltet, das in den Oefen der Bewohner dieses traurigen Ortes flackern soll; oder wenn Kratzer selbst eine große eisenbeschlagene Thür aufgehoben hat, die in[304] einem Winkel des Hofes platt auf der Erde liegt und in jene Gänge führt, zu deren Reinigung ein Kampf mit einem Heer von Ratten gehört, das die Stufen heraufspringt und sich blitzschnell in alle Löcher des Hofes vertheilt, während hinter den Eisengittern die gefangenen oder geisteskranken Leviten: Hatz! Hatz! rufen und die Hunde zur Verfolgung reizen, daß die sich heulend an ihren Ketten aufbäumen und den zottigen Hals blutig reißen … dann überrieseln Klingsohrn düstere Schauer – Erinnerungen an die Tage von Neuhof, Hoffnungen auf Witoborn – Wonnen – o du Thor – eines Wiedersehens mit Lucinden … Daß er zu den Todten gehört, weiß er und besingt es. Hat er sich auch unter dem Leichenstein der ewigen Gelübde ein scheinbares Leben zu erträumen verstanden, Lucinde sollte zu diesen Träumen nicht mehr gehören. Sie kann mit ihrem, »wenn sie will«, so verführerischen Lächeln keinen seiner Wünsche mehr bestricken; sie kann mit ihren gaukelnden Phantasieen keine Bilder von Freiheit und Liebesglück mehr wecken. Das ist vorüber schon lange – schon vor seinem – Begräbniß. Doch – es reizte ihn doch stündlich – auch sie hat sich in den Schoos einer Kirche geflüchtet, die einen erstorbenen Willen mächtig wiederbeleben, klaffende Wunden heilen, schmerzlichste Lücken wenigstens mit »Poesie« erfüllen kann … Das hätte er gern einmal sehen und hören mögen, wie Lucinde zu dem goldenen Kreuz auf ihrer Brust gekommen, das er in der Kathedrale gesehen, wie sie den Rosenkranz beten, was sie sagen würde von der Welt und wie sie zurückdächte auf alte Zeit und wie sie sich ausnehmen würde[305] in der Messe, im Beichtstuhl, selbst mit der Liebe zu einem Priester im Herzen, der sie ja, das sagte er sich von Bonaventura, nie erhören kann –! Dann winkte ihm Loreley von kahlem Felsgestein, verlockte ihn und andere Knaben, bettete den Bethörten in der kühlen Tiefe … Mit fieberschwangern Glühwinden der Wüste überhauchte es ihn dann und krank wurde er an jenem orientalischen Ragl, der den in der Sahara verschmachtenden Pilgern Städte mit blinkenden Minarets und Bäume voll goldener Früchte zaubert, in deren Schatten, in deren erträumtem Genusse sie sterben.

Wieder auf seinem Sopha liegt Klingsohr mit nackten Füßen ausgestreckt … Wieder wird es Abend … Schon brennt eine ärmliche Blechlampe auf einem mit Papieren bedeckten Tische matt und düster … Das Bellen der Hunde hört er, den Lärm, den zuweilen die wilden Bewohner des Hauses machen; oft huscht es im Gange an seinen beiden Thüren vorüber – in einer Nebenkammer schläft er –; traurig zieht ein alter Klosterspruch durch sein tief hülfsbedürftig an Hubertus gerichtetes Sehnen, der Spruch, den ihm dieser einst wie ein memento mori gesprochen: »Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht! Wir Mönche leben zusammen und lieben uns nicht! Wir Mönche sterben zusammen und beweinen uns nicht!«

Fünf Uhr schlägt's …

Da und dort blitzt das Licht der jenseit der hohen Mauer angesteckten Laternen auf. Ein kalter Regennebel umhüllt die nächsten Umgebungen, die kleine Kapelle vor dem Eingang und die halb verwitterten Bäume. Die Hunde beginnen ein Wimmern, das ihnen mit eintretender[306] Dunkelheit eigen ist und vielleicht der Erwartung des Mahles gilt, das ihnen Joseph bereits in irdenen Schüsseln bringt. Kratzer studirt an einem Dreierlicht mit der einem alten Militär eigenen Gründlichkeit die frisch angekommene Abendzeitung, die über den gestrigen »Krawall« neue Einzelheiten, neue Warnungen und Verordnungen der Regierung enthält …

Da wird heftig die Glocke gezogen …

Joseph unten erhebt sich nicht von den Hundehütten, ruft die Hanne …

Diese will eben in das Haus des Castellans mit einem Trunk Weins aus dem Keller hinken – denn zu Krieg und Frieden, zu neuen Avancements und neuen Orden trinkt Kratzer gern seinen Vesper-Schoppen …

Hanne Sterz öffnet …

Ein junger Mensch in einer blauen Blouse und mit schwarzer Sammetmütze, bedeckt von einem alten Regenschirm, kommt mit einer Druckermappe unterm Arm und begehrt den Pater Sebastus zu sprechen …

Censurstriche! sagt die fast rauhe Stimme rasch und entschieden …

Joseph blickt etwas von den Hunden auf, deren Bellen er beruhigen muß …

Hanne Sterz bringt von Herrn Kratzer ein: Passirt! … Herr Kratzer will sich die gemüthlichste Stunde des Tages, die Stunde des Schoppens und der Welthändel und der neuen Versetzungen in der noch immer heißgeliebten Armee nicht stören lassen …

Der junge Mensch wagt sich im Finstern an die Treppe, die er schon kennen muß, schlägt den Regenschirm[307] ein, reißt die Thür der Treppe auf, drückt sie wieder an sich und schöpft auf der ersten Stufe Muth und Fassung aus hochklopfender Brust …

Im ersten Gange rechts die zweite oder dritte Thür, Nr. 16 und 17 gleichviel! … So hatte es in der Anweisung auf der Rumpelgasse geheißen … Die Begleitung Veilchen's hatte sie abgelehnt …

Die Treppe ist erstiegen, die Thür gefunden … Die Zahl in der Dunkelheit nicht zu lesen …

Ein Moment der Besinnung … Angeklopft … Kein Herein!? … Was thut's? … Lucinde tritt ein und entdeckt an der trüben Lampe, daß auf dem Sopha jemand zusammengekauert liegt, der sich nicht erhebt, völlig antheillos bleibt, bis er die Mappe von dem Ankömmling entgegengereicht erhält …

Nun greift danach eine knöcherne Hand, einer Kutte sich entwickelnd …

Lucinde sieht das verfallene Antlitz Klingsohr's, sieht die rothen Narben auf den blassen Wangen, das kurzgelockte röthliche Haar, die fast endlose Stirn, die Tonsur …

Sie hat ihre Sammetmütze in der einen, den Regenschirm in der andern Hand … Auf dem von der Luft und der Eile gerötheten Antlitz liegen die dunkeln Flechten ihrer Haare dicht zusammengebunden. Ihr Hals ist von einem rothen Tuch umschlungen. Unter der hellblauen Blouse ist sie mit einem groben, aber neuen Tuchkittel bekleidet; ihre Beinkleider sind trotz der Jahreszeit neuleinene; darunter hat sie sich sorglich vor Erkältung gesichert. Die Füße sind mit Halbstiefeln bekleidet. Ihr Wuchs entspricht dem eines sechzehnjährigen Jünglings,[308] ihre Züge sind in der That männlich. Wäre nicht die Beweglichkeit, die Unruhe und Aufregung der Haltung gewesen, man hätte an den äußern Eindruck glauben dürfen.

Die Censurstriche des Assessors von Enckefuß erkannte sonst Klingsohr sogleich an der rothen Dinte. Heute entdeckte er nichts und entzifferte nur eine etwaige Botschaft Veilchen's …

Sie schrieb ihm in der That:

Ueberbringer ist – Fräulein – Lucinde Schwarz –

Das Blatt entsank seinen Händen … Er sprang auf und starrte wie vor einem Geiste … Er ergriff die Lampe und leuchtete Lucinden entgegen und diese erleichterte die Erkennung, indem sie kurzweg sprach:

Klingsohr! Sie sehen, welches Opfer ich Ihnen bringe! Ich habe von Ihrer Gefangenschaft, Ihrem Seelenschmerz, Ihrem Körperleiden gehört, von Ihrer Sehnsucht nach dem Kloster zurück! Können Sie es möglich machen, daß Sie diesen Ort verlassen, so soll von morgen in der Frühe an unausgesetzt bis Abends ein Wagen dort drüben in der Allee halten, um Sie aufzunehmen, Mittags ausgenommen, wo die Pferde zu wechseln haben!

Es waren dies Ergebnisse eines Briefes an Nück und eines Besuches des Herrn Maria bei ihr … Sie sprach diese Worte wie eine soldatische Meldung.

Klingsohr stand nur und hielt sich am Tische, hörte nur, betrachtete nur den schönen Knaben … Das, was er allein begriff, war die Anrede nicht mehr mit dem alten »Du« …

Auf einen Sessel, Lucinden dicht zur Seite, mußte[309] er sich niederlassen … seine Schwäche übermannte ihn … eine schmerzliche Lebenslage ohnehin, wenn sich Menschen, die in so naher Beziehung standen, wiedersehen, das Band, das sie einst vereinte, gelockert finden, das Wort, das einst so warm gesprochen, kalt, die Vergangenheit ausgelöscht von einer neuen, inhaltreichern, und – berechtigtern Gegenwart! Wenn dann auch Klingsohr die alte Zärtlichkeit der Empfindung nur im Zittern seiner Stimme verrathen wollte – er war ein Mönch …

Lucinde empfand mehr Abneigung als Rührung.

Glücklicherweise hatte sie Eile und konnte damit ihre Grausamkeit verdecken …

Klingsohr! fuhr sie fort. Man muß mit Ihnen Mitleid haben! Einflußreiche Leute gibt es, die Ihnen wohlwollen, Ihren Geist schätzen! Wie konnten Sie gerade diesen Orden wählen, der Ihnen eine völlige Entsagung vorschreibt, Ihnen nichts mehr zu sein oder zu werden erlaubt?

Klingsohr überlegte von dem Gesagten nichts. Er horchte nur der so wohlgeordneten Rede und dachte: Bist du denn das Mädchen vom Düsternbrook, von den beiden Apfelblütenzweigen, vom Fest der Dämonen in jener Nacht, du, die Mondscheinwandlerin am Alsterufer, die Reiterin am Busen der Baltischen See?

Eine schreckliche Last, die auf Ihnen liegen muß! fuhr sie fort. Ich verstehe Ihren ganzen Lebensüberdruß –

Seit unserm Abschied in Lüneburg! hauchte er endlich tonlos …

Auch Lucinde horchte seinem jetzigen Redeton …

Noch immer, weißt du, hab' ich die Hand der Serlo'-schen[310] Kinder in der meinen! sagte er leise. Vor einigen Monaten sah ich sie hier wie Marionetten springen!

Lucinde wollte den Uebergang in elegische Töne, die Klingsohrn, wie sie hörte, noch immer zu Gebote standen, hindern …

Dennoch begann sie vom Vergangenen, wenn auch im kühlsten Tone:

Ich habe mich oft gefragt, Klingsohr, was Sie damals wol bewegen konnte, so den Kronsyndikus zu schonen!

Schenkte er mir nicht Lucinden? …

Klingsohr sprach dies in der zarten Dämpfung, die ihm eigen war, wenn er Stellen aus eigenen oder fremden Dichtungen sprach …

Das ist es nicht allein! sagte sie. Steht Ihnen Ihre Mutter immer noch so rein und unbefleckt, wie damals vor Augen?

Derselbe Engel! …

Das Gespräch schien nun so in der Erörterung der Vergangenheit fortgehen zu können, aber plötzlich trat Lucinde ans Fenster …

Es hatte geklingelt … Draußen fuhr schneidend der Wind, rissen die Hunde an der Kette …

Ich muß eilen! brach sie mit einem ängstlichen Blick auf das feuchtbeschlagene Fenster ab … Also, was sag' ich Ihren Freunden? Wohin wollen Sie fliehen?

Drei Worte nur und dann – in den Tod! rief Klingsohr, faltete die Hände und hielt sie empor, wie für sich betend …

Lucinde entsetzte sich über diese Geberde …

Die Hauspforte hatte einen heimkehrenden Bewohner[311] eingelassen … Sie ließ sich beruhigter auf einen harten Sessel nieder …

Lucinde! rief Klingsohr voll Feuer …

Vom Kronsyndikus sprechen Sie! lenkte sie auf Mäßigung zurück …

Warum ich den Kronsyndikus schonte? sprach Klingsohr sich sammelnd. Sieh, Lucinde, hier in meinen »Stufenbriefen vom Kalvarienberge des Lebens« steht: »Gerechtigkeitübt sich nur im Kampfe gegen sein eigenes Ich! Wer zu dem erhabenen Bau der Pyramiden voll Bewunderung emporblicken will, muß der blutigen Geißel nicht achten, die einst die im Sonnenbrand verschmachtenden Völker zwang sie zu bauen! Wie erstirbt in den Gemüthern immermehr jener Geschichtssinn, der das Erbe der Vorvordern nur mit der Absicht antritt, es ebenso den Enkeln zu hinterlassen! Voll Andacht betrittst du die Stelle, wo einst ein großer Mann athmete; bewunderst den Federzug, den eine Hand führte, die wir mit schauerndem Entsetzen so gleichsam lebendig sehen, die Hand, die Reiche stürzte, Schlachtenpläne schrieb! Um wie viel denkwürdiger ist der Griffel Klio's, sind die Runen, in denen Saturn schreibt –« … Doch, lies das selbst, unterbrach er seine Feierlichkeit, sank auf seinen Sessel und hauchte leise: Ich werde nicht allem Worte geben können, was damals mein Inneres durchschnitt! Auf der einen Seite die Leiche eines Vaters, auf der andern ein Mörder, von Angst und Reue gefoltert! Haargesträubt saß der Freiherr mir gegenüber, bekannte die Uebereilung. Im Wortwechsel am Düsternbrook war ihm die Hand an den Hirschfänger gerathen; der Vater wandte sich zum Suchen eines Steins[312] oder Holzes als Gegenwehr; die Waffe fuhr aus, fuhr in die unbeschützteste Stelle am Nackenwirbel, dahin, wo jede Verwundung tödlich ist. Der Zorn des Feindes war mit dem strömenden Blute verraucht; die Erinnerung der Freundschaft sogar stieg in dem zum Tod entsetzten Freiherrn wieder auf. Die Wildheit seines Wesens – was ist sie denn? Ein Uebermaß der Selbstwerthschätzung dieser Naturen. Sie kennen ihr menschliches Maß so gut wie andere. Soll ich's sagen? Ich empfand Mitleid mit ihm. Mehr noch! Ich nahm Partei. Ruchlos mag es erscheinen – Meine erste wissenschaftliche Arbeit war eine Betrachtung über die Politik der Bienen. Wir sollen dem Geiste leben, auch dem Geiste in der Natur; aber schon die Natur hat nicht alles gleichgestellt. Ich liebe die alte Regelung der Geschichte, liebe die Stände, liebe die Unterschiede, die die Modephilosophie ausgleichen will. Spinoza, ihr erster Tonangeber, löste, was bunt und farbig im Leben blüht, in aschgraue Einerleiheit auf, die er die Substanz oder Gott nennt. Schon Kant aber lehrte uns, auf unser Ich und das innere Gebot zu lauschen. Wie viel mehr ein Glaube, wie der – unsere! Die Persönlichkeit, die sich in der Geschichte austrägt, ist mein Gesetz! Verblendet von deinem Bilde, bestochen vom Glanz der Versprechungen des Kronsyndikus, befangen durch seltsame Märchen, die von meiner Mutter gehen, dazu der Gedanke: Das ein Enkel Wittekind's? Der Gedanke: Wollte Gott, es ginge groß noch und hochherrlich und in jedem Sinn hochfreiherrlich her im bureaukratisch geknechteten Vaterland! Ich beweinte meinen Vater, beweinte mich; was konnte es helfen, daß ihm der Kronsyndikus[313] Ehre und Freiheit zur Sühne brachte! Des Freiherrn Schuld wuchs mir zur tragischen. Wenn ich auch zagte, wenn ich auch das Herrscherwort des Gewissens hörte – nenne so diesen dürren Kantischen königsberger Imperativ – wenn ich auch im kleinen Schacher und Handel mit dem Schicksal, im Versteckspiel mit der Entlastung der Brust mir den Streifen Tuch, der von des Freiherrn Jagdrock abgerissen, zu bewahren vorbehielt, ich mochte die weltliche Justiz nicht zur Siegerin machen über Poesie … Lucinde, das ist aber mein Leiden! Ich will den Göttern ein gigantisches Schicksal abtrotzen und dennoch – mußt' ich Jérôme tödten, dennoch mußt' ich dich verlieren, dennoch mußt' ich –

Lucinde unterbrach seine gesteigerte Aufregung. Aufs neue erschreckt sprang sie ans Fenster … Der Wind jagte durch die Bäume und ließ den schrillen Ton der Laternen pfeifen, die an ihren eisernen Haltern hin- und herschwankten … Auf dem Gange rauschte es dahin daher mit schwerem Fußtritt … Auch Klingsohr horchte auf … Denn deutlich wurde die Stimme Kratzer's vernehmbar, der dem rumorenden Knechte zurief:

Ist denn der Bursch noch immer oben?

Klingsohr! sprudelte Lucinde in mächtigster Erregung auf und ihr Ton nahm vor Angst eine größere Wärme an … Ein Wort! Ich, ich verstehe gewiß Ihren Uebertritt! Jagte mich denn nicht selbst das Schicksal und hetzte mich so lange, so furchtbar, bis ich –

Lucinde! jauchzte Klingsohr auf und hob die beiden halbnackten Arme aus seiner braunen Kutte ihr entgegen …[314]

Beide Convertiten hatten vielleicht nie so die Kraft ihres neuen Bekenntnisses gefühlt, so im Vergessen ihrer Gewissensbisse wieder sich riesig erstarkt gefühlt …

Aber Lucinde gewann eher die Besinnung und die kalte Erwägung, als Klingsohr …

Doch warum dieser Orden? fuhr sie fort. Warum dieses Gewand der Buße und Entsagung? Das ist ja deine unglückliche Natur, daß du jedem Ding, das dein eigen geworden, sogleich die andere Seite abgewinnst! Erkennst du die schönste Lage, in der du dich befindest, zu tief, so quälen dich schon ihre Mängel! Immer gefiel dir die Sache, die du selber triebst, aber sie misfiel dir, wenn du sie auch unter den Händen anderer sahst! … Ist der Beruf eines Bettelmönchs deiner würdig? Kannst du so deine That eines Vatermordes – denn Hehler wie Stehler! – vergessen? So diese That sühnen? … Lehne den Vorwurf nicht ab! Auch mich beschuldigen oft desselben Verbrechens die gespenstischen Schatten von Vater und Geschwistern. Trotze jedoch unserm Menschenloose! Bleibe groß! Ringe dich höher und höher! Flieh nach Belgien! Nach Lüttich! Deine Gönner bieten dir die Hand! Kannst du dies Haus verlassen, der Wagen führt dich, wohin du willst! Werde Jesuit …

Klingsohr hatte sich erhoben, ging mit seinen Sandalen zwar unhörbar auf und nieder – aber die schöne, muthige, beredsame Sprecherin hatte ihn in Flammen versetzt … Im Begriff war er, sie an sich zu reißen und mit seinen Küssen zu bedecken … Zu ihren Füßen mochte er sich werfen, die schlanke Gestalt umschlingen …

Lucinde ahnte diesen sich mehrenden Sturm seines[315] Innern, deutete, um ihn durch Vorsicht zu beschwichtigen, auf einen anrollenden Wagen und fuhr fort:

Ich finde dich ganz so, wie Serlo dich beurtheilte! Du glaubtest, sagte dieser seltene Mensch, andere zu beherrschen und wärst der Sklave nur derer, die dich bewundern! Ohne den Wind, den du selber um dich her machtest, wärst du sogleich auf dem Sande! Stürme glaubtest du zu beschwören, die die Welt erschüttern, und du wärst doch nur der Mann des Sturms im Glase Wasser! Kleine Huldigungen könnten dir zur Abschlagzahlung für die größten Erwartungen dienen, in denen du dich täuschen ließest! Wahre Erfolge wärst du so wenig gewohnt, daß man dich mit Kupfer statt mit Gold befriedigen könnte!

Nein! rief Klingsohr wild und ergriff einen Riegel des Fensters, als könnte er diesen vom Holze reißen vor beleidigtem Ehrgefühl …

Nimm von mir die Lehre, fuhr Lucinde lächelnd fort, die sich auf die bitterste Erfahrung auch meines Lebens begründet, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir uns kein Ziel mehr stecken! Im Kloster könntest du zwei Ziele haben: Priester zu werden, du bist es nicht, dann ein Heiliger! Beides aber wird deiner Natur mislingen. Tritt aus diesem Cirkel, in dem du lebst, heraus! Geh nach Belgien! Unterwirf dich den Strafen und Bußen, die man anfangs über dich verhängen wird! Bei der Beurtheilung des Dranges, der dich trieb, deinen Ueberzeugungen mehr zu nützen, als du im Kloster Himmelpfort vermöchtest, wird man etwas deinem Geiste Natürliches in dieser Flucht finden und dir in Rom Verzeihung erwirken!

Für Klingsohr war schon Melodie, sich so von Lucinden[316] nur das alles gesprochen zu vergegenwärtigen. Dann aber auch regte sich sein Ehrgeiz. Längst schon zwang man ihn, sich aufzugeben. Und nun sollte er von ihr, von ihr wieder neu aus den Trümmern seines Lebens zu einem »Titanengebilde« zusammengestellt werden, von ihr, deren Hand einst dies Bild zuerst zerschlagen hatte? Gönnte sie denn der Kirche wirklich, forschte sein trunkener Blick, einen Streiter wie ihn? Hatte sie noch so viel Theilnahme, daß sie ihm in seinem Jammer beistand und die Verwerthung seiner Fähigkeiten erleichterte? Klingsohr glaubte in der That nur aus ihrem Munde die Sprache eines Philosophen zu hören, der alles in der Welt an seinem rechten Platze wünschte, keine Fähigkeit unbenutzt, jede Bestimmung der Natur von den Umständen eingeholt. Bei der fernern Besprechung des von ihr vorgeschlagenen Planes bewunderte er die gereifte Einsicht eines Mädchens, dessen Entwickelung er selbst gefördert, zu solcher Höhe des Charakters bildsam sich nimmermehr vorgestellt hatte. Schon war er gefangen von ihren Vorschlägen, überredet von den Erleichterungen ihrer Ausführung, geblendet von den Mitteln, die ihr in unbegrenzter Anzahl zu Gebote zu stehen schienen … Er versprach es, sich aufzuraffen … Morgen in erster Frühe sollte ihm der Druckerbursche Kleider bringen … In der Abenddämmerung wie jetzt wollte er entschlossen auf das Hofthor zugehen, den Schlüssel, der von innen steckte, umwenden, und noch ehe man ihm nachsah, versicherte er, daß der Wagen ihn schon aufgenommen und entführt haben könnte … Diese Verständigung war, als wenn ein in Schutt begrabener Brand durch den Hinzutritt von[317] Luft sich aufs neue entzündet. Die Flammen der Jugend schlugen empor, alle Wahngebilde der Selbsttäuschung wirbelten in flockigen Feuerzungen … Ich dich lassen! rief er wie einst. Ich dich nicht wiedersehen, Lucinde! Mein Geschick ist und bleibt, zu sterben am gebrochenen Herzen durch deine Untreue, deine Falschheit, deine Lüge – Himmelsbote, vergib, daß ist dich lästere! Lucinde! Lucinde! Liebst du wirklich jetzt –

Sie entwand sich seiner Frage, seiner Berührung …

Nur den Saum deines Kleides laß mir! Ganymed! Götterknabe! Bist ja nur – mein Bruder! … Ach Lucinde! Zu wissen, daß dein Herz, deine Liebe einem andern, einem Mann gehört, der die Himmel deines Besitzes nicht ahnt – verschmäht wol gar –?

Plötzlich unterbrach Lucinde seine ihr tief schmerzliche und theilnehmende Rede …

Es war ihr eben gewesen, wie wenn mit einem Eisenstab an die Thorpforte geklopft wurde … Dann klingelte es heftig …

Sie sprang auf und sah in den Hof hinunter …

Jemand leuchtete mit einer Laterne im Hofe Ankommenden entgegen … Statt eines traten zwei Männer herein. Die Thorpforte blieb offen …

Wer kommt da? fragte Lucinde, schon erstarrt, den gleichfalls völlig Besinnungslosen …

Ihre Worte erstickten im Schrecken vor dem Zurückspringen eines scheuen Pferdes und dem Hören eines metallenen Klanges, der von einer Waffe zu kommen schien …

Auch eine geschlossene Chaise ließ sich aus der spärlich erhellten Dunkelheit als draußen vorgefahren erkennen …[318]

Wem gilt das? fragte Lucinde …

Klingsohr wollte das Fenster öffnen … Sich langsam sammelnd sprach er vom andern Flügel des Hauses, in den man vielleicht einen wahnwitzigen Priester brächte oder aus dem man den, der das Haus schon lange beunruhigte, abholte …

Dem Joseph war unten die Laterne ausgegangen und hellauf gellten die ihm von Kratzern über seine Ungeschicklichkeit gemachten Vorwürfe. Frau Hanne wurde gerufen und im selben Augenblick, wo gerade einer der Bewohner des Hauses heimkehrend durch die offene Pforte eintreten wollte, sprengte der Reiter ihm in den Weg und fragte nach seiner Befugniß, hier einzutreten …

Es war ein Gensdarm …

Was wird?! fragte Lucinde verzweifelnd und die Worte: Wenn ich entdeckt würde! erstarben schon auf ihren Lippen … trotzdem, daß sie auf mögliche Entdeckung vorbereitet und auf alles gefaßt gekommen war …

Klingsohr beruhigte sie und horchte … Die beiden Civilisten hatten mit Kratzer schon den Mittelbau betreten. Schon hörte man sie auf der Stiege reden, ohne daß durch die langen Corridore der Inhalt ihrer Worte verständlich werden konnte …

Mich hier treffen – mich erkennen! Nimmermehr! rief Lucinde. Auf ewig wär' ich verloren!

Alle ihre Fassung war hin … Schon hatte sie die Thür ergriffen und sogar ihren Regenschirm wie zum Schutz in der Hand …

Man geht drüben hinüber! beruhigte Klingsohr, der sich in die Störung nicht finden konnte … Oder geh',[319] geh'! sprach er ihr nach, da sie schon ging. Man wird dich durchlassen. Hier nimm die Papiere! Muth! Muth! Morgen geh' ich nach Belgien! Wir sehen uns wieder!

Lucinde stand plötzlich, einer Ohnmacht nahe …

Lucinde! Hast du mich nicht neu belebt? Und du willst zagen? Höre ruhig! Was du mir räthst, ist nichts Kleines. Ich werde ein Verräther an meinem Orden! Ich büße drei neue furchtbare Jahre meines Lebens! Man wird mich in Kerker und Peinen der entsetzlichsten Art werfen! Ich kenne, was ein Flüchtling aus einem Orden in einen andern zu bestehen hat! …

Lucinde hörte nicht mehr …

Nummer Sechzehn? sprach sie nach außen das Ohr spitzend einem Worte nach, das sie gehört zu haben schien …

Mechanisch sprang sie an die Seitenthür, die zu Klingsohr's Schlafcabinet führte …

Klingsohr konnte sie nicht halten und in der That – schon nahten sich die Schritte der Ankömmlinge und schienen wirklich nur seine Thür zu suchen …

Instinctmäßig drückte Lucinde die Kammerthür an und tastete im Dunkel nach dem Ausgange, der gleichfalls auf den Corridor führte. In demselben Augenblick, wo sie bei Klingsohr eintreten hörte und voll Furcht nach der Thür griff, um nach einem Schlüssel zu fühlen, schloß sie auch schon, da sie einen Schlüssel vorfand, leise auf, drückte die Klinke nieder und wollte davonhuschend sich entfernen …

Beim ersten Schritt aber, den sie hinaus that, sah sie einige Schritte weiter den zurückgebliebenen Kratzer mit dem[320] zweiten der Angekommenen, in dem sie sofort an seiner Montur einen Commissär der Polizei erkannte …

Belebte sich auch ihr Muth, jetzt an dem Castellan vorüberzugehen und trotzig das Freie zu gewinnen, so entschwand er im selben Momente. Wie der Blitz trat sie zurück, als sich die Thür bei Klingsohr geöffnet hatte und nun auch Kratzer von einem Manne mit hereingerufen wurde, den sie sofort aus Kocher am Fall und von ihrer Reise dorthin erkannte, dem Assessor von Enckefuß. Nun würde sie der Commissär sicher nicht haben ungefragt vorübergehen lassen. Auch stand ihr noch jener am Thor wachende Gensdarm mit dem Anspringen seines Rosses vor Augen …

Bebend hielt sie den Thürdrücker in der Hand und lauschte der geöffnet gebliebenen Nebenthür, wo sich eine lebhafte Erörterung entspann, die jeden Augenblick durch das Eintreten des Assessors auch zu ihr konnte unterbrochen werden. Ihre Lage war so verzweifelt, daß sie sich mit unwillkürlicher Ideenverbindung in ihren schrecklichsten Lebensmoment zurückversetzt fühlte, den, wo sie einst bei den Worten: »Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!« den höhnischen Beifall eines versammelten Publikums vernahm …

Mit den lauten und absichtlich betonten Worten: Das Gepäck eines Bettelmönchs, meine Herren, ist leicht! trat Klingsohr der Thür näher, gleichsam um zu verhüten, daß man die Kammer betrat …

Man verhaftet ihn! sagte sie sich zitternd … Er muß den Wagen besteigen …

Mit dieser schneller gedachten, als sich selbst ausgesprochenen[321] Vermuthung, hatte Lucinde den Muth – oder die Furcht, die Thürklinke noch einmal leise niederzudrücken und auf den Corridor mit einem hurtigen Blick hinauszuspähen. Im selben Moment kam Joseph mit der neu angezündeten Laterne. Der Commissär wandte ihm das Antlitz zu, ging ihm sogar einige Schritte entgegen. Nun hielt sie keine Besorgniß zurück. Mit einem einzigen Sprunge war sie aus dem Zimmer, huschte den Gang hinunter, tiefer in die vom sich annähernden Lichtstrahl nicht getroffene Dunkelheit hinein und hielt sich augenblicklich, ohne das Geräusch, das sie bei alledem hatte machen müssen, fortzusetzen, in der Thürböschung einer der andern Zellen …

Fest angedrückt harrte sie der Dinge, die kommen würden.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 4, Leipzig 1859, S. 295-322.
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