12.

[347] In einem der großen, »kaltgründigen« Zimmer des Kapitelhauses herrschte am folgenden Tage eine feierliche Stille …

Es war im Studirzimmer Bonaventura's …

Der Abend hatte sich niedergesenkt … Zwei Lichter brannten … In dem großen eisernen Ofen, der von außen geheizt wurde, hörte man das Zulegen neuen Holzes … Nicht Renatens sorgende Hand war es, es war die eines Hausdieners, der zu diesem Amt für die Herren des Kapitels bestellt war.

Auch nicht im Nebenzimmer saß Renate … Der Domherr hatte die alte treue Dienerin gebeten, nach allen schon längst getroffenen Zurüstungen seiner Abreise auf Witoborn, die für die neunte Stunde bestimmt war – sein einfacher Sinn und seine gemessenen Mittel wollten sich mit gewöhnlicher Postgelegenheit begnügen – erst um acht Uhr von einem Geschäft zurückzukommen, das er sie ersuchte, sich außerhalb des Kapitels zu machen. Sie hatte schon lange für Benno's Abwesenheit sich eine Durchsicht seiner Wäsche, eine gründlichere Anordnung seiner[348] Wohnung vorgenommen; diese vollzog sie, obgleich es Sonntag war, schon von vier Uhr an und gegen acht erst wollte sie zurückkehren …

Bonaventura kannte die Abneigung der alten Frau gegen Lucinden und wollte jeden Conflict vermeiden … Als Lucinde zum zweiten mal geschrieben, verwilligte er ihr, was sie begehrte – Aber nur auf seinem Zimmer konnte er eine Generalbeichte abnehmen … Er rüstete sich zu einem schweren Kampf, zu einer großen Prüfung – An die Seltsamkeit, daß sich auf seinem Zimmer Seelenkämpfe solcher Art ausringen, ist der katholische Priester gewöhnt. Lucinde hatte nicht nöthig gehabt, ihr letztes Mittel zu ergreifen –

Mit der Abenddämmerung war sie in Begleitung des Meßners gekommen … Durch die hohen Fenster mit ihren vielen kleinen Scheiben, durch eine grüne Hecke von Epheuranken, die den Schreibtisch von dem Fenster schied, brachen die blutrothen Strahlen der Sonne, die den ganzen Tag sich nicht hatte sehen lassen und nur am Abend noch einmal sich zeigte zum kurzen Willkomm … Im Ofen prasselten die Flammen, die an der metallenen Wölbung einen singenden Ton gaben … Alles das begleitete die nur bei katholischen Priestern und Aerzten mögliche seltsame Scene, daß eine Liebende zu dem sie verschmähenden Manne ihrer Liebe selbst zu gehen wagt.

Schweigend hatte Bonaventura Lucinden, die verschleiert kam und den Hut nicht abnahm, angedeutet, daß sie sich setzen möchte …

Nach seinem Brevier langte er dann mit zitternder Hand, gab dem Meßner, der sich wieder entfernte, einige[349] geschäftliche Anweisungen und suchte sich durch diese und jene kleine Zurüstung die Sammlung zu geben, die ihm fehlte …

Lucinde schwankte bewußtlos …

Als er sich wandte, sah er, daß sie selbst schon einen Fußschemel ergriffen hatte und auf diesem knieete …

Daß es eine Entscheidung für sein ganzes Leben galt, ahnte er …

Ueber eine Stunde lang verharrte Lucinde in dieser knienden Stellung und lehnte jede Erleichterung ab … Bonaventura saß vor ihr und hörte nur ihrem dumpfen, doch vernehmlichen Gemurmel …

Das obenerwähnte feierliche Schweigen war eingetreten, als die Reihe ihrer Bekenntnisse zu Ende war …

Bonaventura kannte aus der Stadt her, wo er Priester, Lucinde katholisch geworden, eine Menge von Thatsachen, die zu dem Leben der Gesellschafterin der Comtesse Paula gehörten; aber in einer solchen Vollständigkeit wie heute lag das Leben des, wie es schien, von einem unheilbaren Wahn bethörten Mädchens niemals vor ihm … Sie hatte nichts verschwiegen, was sie belasten konnte, nichts, als ihre Liebe zu dem Manne, vor dem sie knieete … Sie war grausam, rücksichtslos gegen sich selbst … Sie klagte sich an, wo selbst andere noch entschuldigten … Alles, was ihr Leben an Widersprüchen bot, leitete sie aus ihrer Todsünde her, die die Kirche »Acedia«, die »Trägheit des Herzens«, die Indifferenz für Liebe und Haß nennt … Sie gab ein Lebensbild von sich, das alles enthielt, was wir wissen. Nur eine einzige große Strömung der Empfindung[350] in ihrem Innern nannte sie nicht, doch war sie ersichtlich aus einem Lebenslauf, von dem sie andeutete, daß er ewig in der Irre gegangen, ein einziges großes Ziel verfehle und rettungslos verloren scheine …

Auch von Klingsohrn gestand sie alles. Sie klagte weder ihn, noch den Kronsyndikus an, nannte überhaupt, was nicht gestattet ist, nicht die Namen, Bonaventura wußte sie aber und ergänzte selbst, was verschwiegen wurde …

Ein seltsames Bild diese Zwiesprache, unglaublich für die, die außerhalb des römischen Lebens stehen!

Ein Mann, vor dem sich ein Weib in Liebe windet, blickte wie ein Gottgesandter streng und sich beherrschend zu ihr nieder. Er sah eine Nachtwandlerin an schwindelnder Klippe dahinwanken, zitterte mit den Gefahren, die von Lucinden nur überwunden wurden durch immer wieder bekannte neue Schuld … er blieb fest und stark.

Von Serlo hatte er noch nie so Ausführliches vernommen, wenn er auch aus frühern Geständnissen wußte, daß er selbst es war, der Lucinden anfangs eine auferstandene Wiederholung desselben erschien … Zwei Jahre des Aufenthalts im orthopädischen Institut wurden erzählt, Jahre der Selbstbildung, aber nur jener »Bildung, die die Kraft geben sollte, Welt und Menschen abzuwehren, zu hassen, zu beherrschen« … Die Reise nach Kocher, die Erfahrungen in der Dechanei, die Verstellung im Kattendyk'schen Hause … alles bis zu den neuesten Vorgängen, ja den Vorgängen des gestrigen Tages, alles, alles wurde erzählt, nur noch die Rettung durch den unterirdischen Gang verschwiegen, um der lateinischen Urkunde und – ihres Letzten willen …[351]

Religiös blieb von beiden Seiten die Färbung des Ganzen, der Ton alles dessen, was gesprochen wurde, ein heiliger …

Ist das Leben, wie die sittlichen Atomisten sagen, eine millionenfach fortgesetzte und ineinander verwundene Kette von Selbsttäuschungen, dann darf es wunder nehmen, wie unser moralisches Scheinleben sich dennoch gleichsam ablösen kann von unserer ersichtlichen körperlichen Hülle. So fließt das Licht der Sonne und des Mondes um die dunkle Erde, so leuchtet der Phosphor an unsern Händen, die ihn nicht fühlen. Zwei Menschen, körperlich vor einander zitternd, bebend vor einer Berührung, wenn zufällig der Saum des Schleiers nur ein Blatt des Breviers streifte – und ihre innerste moralische Welt doch wie ein fast sichtbarer geistiger Aether um sie her und hin und wieder fließend. Diese Worte, diese Geständnisse, diese Accorde wie von einer unsichtbaren Musik sollten nicht in eine Weltordnung den Weg bahnen, wo die millionenfache Täuschung aufhört und der Geist, auch wenn vom Körper getrennt gedacht, wonnigste, seligste Wahrheit bleibt? …

Lucinde hoffte das schon für diese Erde …

Doch – Bonaventura blieb – ein Priester voll Hoheit. Er vertrat die Religion. Er glich einer Kirche, in die man, innerlich noch so weltlich gesinnt, doch äußerlich voll Demuth und zur Ehre des Höchsten eintritt. Auch hörte er im Geiste die Worte, die ihm und dem Mönch Sebastus vor wenigen Monaten der Kirchenfürst von der Milde des Heilands zur Magdalena gelesen …

Daß sich etwas, was liebestollste Zudringlichkeit war,[352] hier in einer Form aussprach, die schon zum Wahnwitz geworden, konnte er nicht verkennen … Er hatte Lucinden im Lauf der von ihr in düsterm Unmuth und wahrhaft schmerzensvoll bekannten Leiden, die sie durch ihre eigene unausgesetzte Thorheit und moralische Hülflosigkeit über sich heraufbeschworen, gebeten – den Hut abzunehmen; sie that es mechanisch und legte den Hut neben sich auf den Fußboden. Ihrem Haar entglitt eine Flechte, die nicht genug befestigt war. Lang und schwer hing diese Haarflechte nieder. Lucinde merkte nichts von diesem Schein der Verwilderung … Die Formen der Kirche kamen ihrer Selbsttäuschung zu Hülfe … Sie wand sich wie Magdalena.

Bonaventura wußte nun: Dies irrselige, schöne Frauenbild bekennt alles das, nur um dich in die Kreise ihres Lebens zu zwingen, von dir Worte der Liebe zu hören, vielleicht – jetzt nur deine Hand küssen zu können und – stumm zu gehen … Sie will jetzt, wo du reisest, nur vielleicht einen Briefwechsel mit dir führen, nur, wenn du wiederkehrst, mit ihren Blicken dich umwerben, mit ihrem Lächeln dich umschmeicheln dürfen … Sie will nur den Stolz vor der Welt haben, daß man sagt: Dieser Geweihte ist ein Heiliger; strauchelte er, so würde er es nur mit jenem Mädchen können, das bei jeder Messe, die er liest, immer an demselben Pfeiler ihm zur Rechten oder Linken sitzt …

Bonaventura wußte, daß er straucheln konnte, wenn Lucinde – Paula war … Jene hatte mehr Geist, mehr Wissen, mehr Thatkraft und – für die Meinung anderer vielleicht selbst mehr Schönheit, als diese …

Doch wirkte Lucinde auf ihn, wie er einst auf einen Scherz[353] Benno's gesagt hatte, feuermagnetisch. Sie wirkte abstoßend durch Ueberkraft und eine zu große Willensstärke …

Er blieb bei seiner Priesterpflicht.

Aeußerlich wollte Lucinde nur einen Rath haben, wie sie nach einem so geschilderten Leben und innerlich gänzlich zerstörten Dasein nicht die Lust am Leben und an sich selbst verlöre, zur Wahrheit käme, die Lüge und Verstellung miede, sich an fremdem Glück erfreuen, vor allem in der von ihr gewählten Religion wirkliche Beruhigung und Erhebung finden könnte …

Eben die Religion verschleierte alles.

Bonaventura hatte sie zuletzt aufgefordert, sich zu setzen …

Auch das that sie wie Magdalena und stützte das Haupt …

Jetzt fühlte sie die losgegangene Flechte. Sie steckte sie erröthend auf, während Bonaventura die beiden Kerzen anzündete …

Endlich sprach er ihr mit einer Stimme, die auch nur ihm angehören konnte:

Meine verehrte, liebe, theure Freundin! Wie, wie lange kennen wir uns doch nun schon! O, glauben dürfen Sie mir – daß ich oft, oft – wie oft! über Sie nachgedacht, über Sie mit Gott geredet habe! Was Sie mir vielleicht vor einigen Monaten schon sagen wollten – dies Neueste da, der Besuch Ihres frühern Verlobten in Knabenkleidern, nun, das ist eine Waghalsigkeit, die auf Rechnung Ihres abenteuerlichen Sinns kommt, ein Kampf gegen die Obrigkeit, den ich nicht billigen kann, ein Vergehen, das die gute Absicht des Helfenwollens entschuldigt – Ihre wahren[354] innern Peinen erfahre ich erst jetzt. Und daß Sie jenes Neueste hinzufügten, das nehm' ich für einen Beweis Ihres Vertrauens zum Priesterthum. Sie vermissen, sagen Sie, eine Reinigung und Heiligung Ihres ganzen Seins und Lebens. Das ist ein schönes, ernstes, für Ihre ganze Zukunft entscheidendes Wort! … Die Fehler Ihrer ersten Jugend will ich nicht rügen. Sie haben die Liebe nicht gekannt. Sie haben sie von andern nicht erfahren; ich rüge nicht, daß Sie sie auch nicht erwiderten. Auch Ihren mächtigen Ehrgeiz will ich nicht tadeln. Es war vielleicht der Trieb nur des Wachsthums zum Bedeutenderen. Daß ein Baum gen Himmel anstrebt, ist ein Preis Gottes, kein Preis seiner selbst. Ein armes Mädchen vom Lande gingen Sie durch eine seltene Schule der Erfahrung, die Ihnen bald weh that, bald schmeichelte. Immer wollten Sie mehr sein, als was das Geschick Ihnen zu sein anmuthete; Sie rangen sich gewaltsam auch vielleicht deshalb empor, weil Sie einen Trieb hatten, geistig mit sich zufriedener zu sein, als dies mit sich Tausende von Menschen sind. Die Fähigkeit, einen Klingsohr glücklich zu machen oder gar zu erziehen, konnten Sie damals nicht besitzen. Auch Ihr Leiden mit Serlo, Ihre Demüthigung, als Sie die Bühne betreten wollten, waren Sühnopfer für manche Schuld der Uebereilung, für manche Herzlosigkeit und Eitelkeit. Als Sie dann den Uebertritt zu unserer Kirche vollzogen, da begann vorzugsweise Ihr innerster Bruch. Immer schon mußte ich tadeln, daß Sie diesen Schritt nicht aus innerm Bedürfniß thaten … Richtiger, Sie thaten ihn aus Bedürfniß, doch machten Sie sich über die Mahnung Ihres[355] innersten Herzens, über dies Gebot Ihres guten Genius, der Ihnen bei diesem Schritt zur Seite stand, kein Geständniß. Nun schwanken Sie zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Religion und Unglaube, ja sogar zwischen dem Guten und dem Bösen – Ihre Natur, fürcht' ich und sprech' es offen aus, wird Sie niederwärts ziehen, wenn Sie sich nicht mit einer gewaltigen Gegenmacht rüsten! Andere (Bonaventura dachte an die Scene beim Kirchenfürsten), andere würden Ihnen rathen, Ihrem Geiste zu mistrauen. Das will ich nicht. Es wäre ja entsetzlich, wenn dem Geiste sich nicht das Gute gesellen könnte. Eines aber möcht' ich Sie fragen – und ich fasse damit, glaub' ich, Ihren ganzen Zustand zusammen –: haben Sie sich je vergegenwärtigt, was die Kirche mit so mancher ihrer großen und uns gerade von andern Religionen unterscheidenden Lehren sagen will, zum vorzüglichen und Ihnen insbesondere zweckdienlichen Beispiel erwähn' ich – unsern Mariencultus?

Lucinde war von dem Ton dieser innigen Rede wonnig durchrieselt. Den Sinn der Worte behielt sie nicht, nur ihren Klang. Erst bei Erwähnung des Mariencultus stutzte sie. Sie gedachte des noch rückständigen Bekenntnisses ihrer Wanderung durch den unterirdischen Gang und des von Picard empfangenen Auftrags … Das Marienbild am unterirdischen Kreuzweg stand wie mahnend vor ihrer Seele …

Sie kennen die Lauretanische Litanei? fuhr Bonaventura voll Gelassenheit fort, still zu seinen guten Genien betend …

Die Lauretanische Litanei! dachte sie und plötzlich[356] fuhr durch ihr Innerstes ein Streiflicht ihrer Doppelnatur. Die Gottesmutter hat in dieser Litanei Bezeichnungen, als da sind »Gefäß der Andacht«, »geistliche Rose«, »elfenbeinerner Thurm«, »goldenes Haus«, »Arche des Bundes«. Heute in der Frühe, als noch Bonaventura's Ja! nicht gekommen war und sie in die Messe stürmte, wo eben die Lauretanische Litanei gesprochen wurde, hatte sie sich in ihrer aufgeregten, gottfeindlichen Stimmung gesagt: Namen sind das ja, wie das Verzeichniß zu einer Auction oder als säh' ich die Fenster der Trödler in Seligmann's Rumpelgasse!

Die seligste Jungfrau, fuhr Bonaventura in Sanftmuth fort, die Ihr früheres protestantisches Bekenntniß nur in ihrer Menschennatur kennt, nennt die Litanei unter anderm die mystische Rose. Mag sie von denen, die sie als solche sehen mögen, in dieser Eigenschaft als ein liebliches Symbol alles Unaussprechlichen verehrt werden, Ihnen gegenüber ziehe ich eine andere Bezeichnung aus dieser Litanei vor, daß uns die heilige Frau – ein Spiegel sein solle. Gerade Sie möcht' ich fragen: Wie ist Ihnen das nur? Wenn Sie nach einem solchen Leben, wie Sie es mir geschildert haben, jetzt an Maria denken, zu dieser aufblicken, sich mit dieser ganz einig, ganz verbunden, ganz Freundin zu sein wünschen, was empfinden Sie da?

Lucinde blickte im Geist aus das kleine, in unterirdischer Einsamkeit stehende Muttergottesbild – und mußte schweigen …

Maria, fuhr Bonaventura fort, mag Ihnen in Ihrer menschlichen Gestalt erscheinen, wie sie will; die Evangelisten[357] haben nichts verschwiegen, was die Vernunftkritik gegen sie deuten kann. Halten Sie sich aber an das, was Maria durch das Christenthum erst selbst geworden ist, wie denn überhaupt die Tradition und das lebendig fortwirkende Leben innerhalb der christlichen Gemeinschaft eine der immer frisch zuströmenden Quellen unseres Glaubens ist. Maria wurde schon der allerersten christlichen Zeit eine Mutter, so groß, so verklärt, daß sie ohne Sünde empfing, die Verehrung vor der Frauenreinheit Mariä wird noch dahin kommen, daß die Kirche dem Verlangen nicht widersteht, sogar von ihr zu sagen, daß sie selbst ohne Sünde empfangen wurde. Das sind Dogmen des Bedürfnisses, Dogmen der Huldigung und der nicht versiegenden Liebesströme innerhalb unserer kirchlichen Gemeinschaft selbst. Wir wissen, wer die heilige Anna, die Mutter Maria's war, wir kennen die Schleier, die auf ihrer Verbindung mit dem heiligen Joseph ruhen; aber alles das schwindet gegen das, was Maria in den wilden Geburten der Geschichte wurde. In der Barbarei der Zeiten! In der rohen Entwürdigung der Frauen! Immer schwebte sie da in den Lüften als ein unentweihtes Symbol des Fraueuthums. Der glühende Spanier und Provençale mag sie wie eine Geliebte verehrt haben, der Slawe wie eine Mutter, der Germane vielleicht am kühlsten nur wie eine Schwester: immer war es Maria, die die Wildheit zähmte und der Leidenschaft die tödliche Waffe aus der Hand schmeichelte. Die Civilisation der Sitten ist durch sie gewonnen und erhalten worden. Und erst in unserer Zeit! Der Mariencultus ist nicht mehr die Bürgschaft der mildern Sitten; jetzt ist er der lebendig gewordene reine weibliche,[358] sittliche Sinn. Gerade die Reinheit Mariä zu verehren drängt es diese unreine Zeit, die Zeit der Frivolität, der Emancipation von der Sitte, die Zeit des fast ins Allgemeine mitwirkend und mitstimmend aufgenommenen Frauenberufes, die Zeit der Nivellirung der Familie und Erziehung. Und nun, nun frag' ich Sie: Finden Sie den Weg zwischen Ihrem Innern und diesem Frauenbilde, das Sie ja in jeder Kirche sehen können, ganz frei und ungehindert? Fühlen Sie sich so, daß Sie den ob milden, ob strengen, immer sittlich reinen Blick unserer Himmelskönigin nicht zu fürchten brauchen? Können Sie, als Weib, als Jungfrau, zur Mutter mit dem Kinde aufblicken und sagen: Das Leben hat mich viel umgetrieben, ich war mancherlei und erlebte noch mehr, aber du, du kannst nichts gegen mich haben! Du würdest mich nicht aus deinem himmlischen Hofstaat verweisen! Ich füge hinzu, liebe Freundin, ich fand immer, daß die Frauen voneinander mehr wissen, als wir Männer. Untereinander beurtheilen sie sich strenger, als wir ahnen. Sie durchschauen die weibliche Eitelkeit und Koketterie leichter als wir. Sie lassen sich nichts ungerügt hingehen, dulden keine Verschönerung und Ausschmückung, die wir Männer, geblendet vom Frauenreiz, immer noch in Bereitschaft haben. Jeder Blick einer Frau, die ihr Geschlecht beurtheilt, sagt: Was wir Frauen uns sein müssen, das wissen wir schon! … Und so denn also – im Chor der seligen Jungfrauen denken Sie sich die Königin des Himmels und prüfen Sie sich, was die Allerseligste sagen würde, wenn unter Tausenden nun auch Sie zu ihr hinträten und sie bäten, in ihrem Hofstaat eine Ehrenstelle im weißen Kleide erhalten[359] zu dürfen, eine Ehrenstelle durch die Reinheit des Herzens, die wahre, geistige Schönheit, die Lauterkeit des Gemüths! Können Sie ein solches Bild der allerseligsten Jungfrau festhalten? Können Sie, rückblickend auf Ihr ganzes Leben, von sich sagen: Maria! Mit dir bin ich einverstanden! Maria! Du bist es mit mir! Maria hat nichts gegen mich?

Lucinde, von Bonaventura geführt wie ein Kind, schlug ihre Augen anfangs nieder. Jetzt schlug sie sie auf, als suchte sie das von ihm geschilderte Bild an den – bunten Stuccaturen der Decke des Zimmers …

Ihre Augen leuchteten … aber – wie mit irrem Stern …

Sie schüttelte ihr Haupt …

Was trennt Sie von diesem Bilde? fragte Bonaventura mit gesteigerter Innigkeit und eher wie gewonnen durch diese aufrichtige Verneinung, als abgestoßen. Liegt nicht Ihr ganzer neuer Glaube in ihm? Liegt nicht Demuth, Unschuld, Entsagung, jede weibliche Tugend und Ehrlichkeit in diesem Bilde?

Als wenn die Luft, die Lucinde gestern bei einem solchen Bilde geathmet hatte, wieder sie zu ersticken drohte, stand sie auf, machte einige Schritte und sagte, sich wieder setzend:

Was ich von Maria sehe, ist alles starr und todt und wie von Stein!

Blicken Sie das Bild nur lange, lange an! bat Bonaventura im liebevollsten Ton. Es wird sich beleben! Es wird sprechen, es wird der Sammelpunkt Ihres ganzen Menschen werden! Geht es nicht, steht etwas dazwischen, so werden Sie nichts mehr thun wollen, was[360] nicht auch diesem Bilde gefiele! Sie werden sich vor ihm eine Magd erscheinen, selbst wenn Sie eine Krone trügen! Sie werden Ihren Geist unterdrücken, wo nur Ihr Herz nöthig ist! Sie werden, sogar leidend, sich nicht mit andern in stolze Vergleichung bringen! Und will es so nicht gehen, wie Sie es gern im Leben möchten, immer vergegenwärtigt Maria, was ein Weib erfahren, was ein Weib überwinden muß, ohne sich zu rächen! Sie vergibt! O sie vergibt auch Ihnen vieles, denn sie kennt die Schwäche des Weibes; aber sie vergibt nicht alles. Sie würde nicht jede Ihrer Bitten am Throne ihres Sohnes auszusprechen übernehmen. Sie besitzt die Schwäche einer Mutter, sie kann von dem Kind ihrer Liebe Fehltritt über Fehltritt vernehmen und vergibt ihm; aber in vielen, vielen Dingen verlangt sie eine unbedingte Unterwerfung und ich glaube, dies ganze, ich sage nicht mystische, sondern einem Spiegel gleichende Verhältniß zwischen Maria und einem weiblichen Herzen – ich glaube, Sie kennen es nicht und darin, darin liegt Ihr ganzes Unglück!

Dumpf vor sich hin sprach Lucinde einen Einwand … Bonaventura kannte die Berechtigung dieses Einwandes aus seinem eigenen Leben und empfand ihn jetzt noch mehr, seitdem ihm so nahe bevorstand seine Mutter wiederzusehen … Warum sagte nur Jesus: Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen? hatte Lucinde gemurmelt …

Bonaventura erwiderte:

Maria ist keineswegs die letzte Richterin über unsere Seele! Sie ist nur eine Vorstufe zum Gottesthron und allerdings die ihm nächste! Aber ich glaube nicht, daß die[361] Seele jedes Mannes an ihr Urtheil verwiesen ist; sie richtet auch nicht, sie bittet nur. Nur möcht' ich wiederholt wissen: Sind die Sünden und Irrthümer, die Sie mir heute gebeichtet, die eines weiblichen Herzens, das mit der allerseligsten Jungfrau einen innigen Freundschaftsbund schloß? Mir scheint es, daß Sie vorzugsweise Eine reine, wahre Freundschaft schließen sollten, diese mit unserer Mutter Maria! Welch ein unschuldiger, edler, froher Sinn würde Sie plötzlich heiligen! »Maria stand auf, ging eilends über das Gebirge in das Haus des Zacharias und grüßete Elisabeth« … so steht in der Schrift –

Und sich unterbrechend erhob sich Bonaventura wie in innigster Freudigkeit rasch, schlug den Vorhang von einem Büchergestell zurück, suchte eine kurze Weile nach einem Buch, fand es, kam wieder, schlug es auf, blätterte und las eine schnell gefundene kurze Erläuterung über den Gruß Mariens an Elisabeth, über den Gruß der Jugend an eine Matrone, über den Inhalt der Rede, die Maria wol Elisabeth gegenüber gehalten haben mochte, über die Darbringung solcher Empfindungen und Seelenstimmungen, die ihr dafür das Wort der greisen Gönnerin eintragen konnten: »Du bist gebenedeiet unter den Weibern!« Bonaventura las diese Betrachtung aus einer Blumenlese geistlicher Erweckungen und wollte keine Erbauung. Er wollte Lucindens Geist anregen, nicht blos ihr Herz. Er wollte ihr die sittliche Schönheit als das Ziel auch einer reinen Phantasie hinstellen … In wärmsten Worten schilderte er den Zustand dieses »Gebenedeiten am Weibe«. Ueberall würde eine Gebenedeite freundlich empfangen, überall wie[362] der kommende Mai begrüßt; in jeden Streit brächte sie Friede, in jedes Leid Trost; ihre Schritte wären gesegnet; wo sie hinträte und wär' es in der Wüste, blühte eine Blume auf – wie die Jerichorose unter den Füßen Maria's, als sie mit dem Kinde gen Aegypten floh …

So deutete Bonaventura die »Jerichorose« …

Dann ertheilte er Lucinden einige leichte Bußübungen, ließ sie knieend seinen Segen empfangen und wollte nun von ihr Abschied nehmen …

Lucinde stand zwar auf, zog ihren Shawl über die Schultern, hatte sich ihren Hut wieder aufgesetzt, schickte sich an zu gehen … sie war jedoch – wie gebannt …

Die Glocken der Kathedrale läuteten zu einem Kirchenfest … Schon sechs Uhr schlug es …

Wie sie schon nahe der Thür sich befand, die unmittelbar in den Corridor führte, stand sie plötzlich still …

Bonaventura trat hinzu. Er glaubte zu sehen, daß sie sich entfärbte …

Was ist Ihnen? fragte er …

Lucinde erwiderte nichts, doch hielt sie sich an der Epheulaube …

Bonaventura glaubte, daß ihr unwohl war und ging an einen am Fenster stehenden Tisch, auf dem Wasser stand …

Sie winkte ablehnend und starrte in die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit zum Fenster hinaus …

Bonaventura sah, daß sie von seiner Rede, seinem Zuspruch nicht befriedigt war, daß sie etwas vorhatte und mit sich kämpfte. Doch mied er die Saiten des Seelischen und des Gemüthes noch einmal wieder anzuschlagen. Er[363] sprach beruhigend von der Lebhaftigkeit der Gegend draußen und stand, als wollte er eines der Lichter ergreifen und ihr auf den Corridor leuchten …

Sie reisen nach Witoborn? begann Lucinde, schon über diese Andeutung, als fürchtete sie vielleicht nur die Dunkelheit draußen, gereizt …

Noch heute! … erwiderte Bonaventura, sichtlich befangen durch ein Wort weitern Gespräches, das nicht durch sein Amt veranlaßt wurde …

Lucinde sah diese Förmlichkeit, diese plötzliche Kälte und hauchte:

Schon so bald!

Dabei blieb sie vor dem Epheu stehen und pflücke gedankenvoll ein einzelnes welkes Blatt ab …

Wer hätte an dieser Handlung erkennen mögen, daß sich die ganze seit Monaten angesammelte Fülle der Spannung wieder auf ihre Brust wie riesig anstemmte und in irgendeiner Weise helfen wollte; sie hatte die Befriedigung des Gemüths nicht so gefunden, wie sie gehofft … Sie wollte und hoffte nur – – ihre Liebe …

In einigen Stunden … sagte Bonaventura, jetzt sogar drängend …

Dieser sein plötzlich immer kälterer Ton reizte sie mehr und mehr und schon war es nur ein Hauch, mit dem die erstickte Stimme sprach:

Grüßen Sie – Gräfin Paula! …

Bonaventura antwortete durch ein äußeres Zeichen …

Lucinde fuhr fort, wie bewußtlos in dem Epheu nach welken Blättern zu suchen … Da sie deren nicht zu viele fand, brach sie auch schon die grünen ab …[364]

In Bonaventura's Innerm drängte sich jetzt Unmuth, sogar eine Aufwallung des Zorns, doch suchte er nach Geduld und Selbstbeherrschung …

Paula's Sehergabe soll Wunder wirken! fuhr Lucinde fort, zitternd und nicht von der Stelle könnend … Ich wünschte wohl, Sie frügen sie, was für mich – noch alles in den Sternen steht!

Das würd' ich die Sterne der eigenen Brust fragen! sagte Bonaventura lächelnd und machte Miene, um Schonung seines Epheus zu bitten … Schon das längere Verweilen Lucindens verdroß ihn …

Sie merkte nichts von dem, was sie that … Sie brach Blatt um Blatt, zerknitterte das Gebrochene, warf es weg … sie war im Geiste bald in der Ebene von Witoborn … bald gedachte sie des Picard'schen Auftrags, das Schreiben Leo Perl's abzugeben …

Grüßen Sie Herrn von Asselyn, Ihren Vetter Benno! sagte sie – wie spottweise – und nur um zu sprechen und sich zu sammeln …

Bonaventura versprach die Ausrichtung dieses Grußes und ging von dem Tisch, wo er gestanden. Er machte in der That Miene, sich mit höflicher Neigung des Hauptes in sein Nebenzimmer zurückzuziehen …

Lucinde machte sich durch Scherze Muth zum Bleiben und gefiel sich darin, durch das Zerrupfen des Epheus auch die ihr wohlbekannte – Pedanterie der katholischen Geistlichen, die überhaupt mit den Jahren jede ehelose Lebensweise annimmt, schon an diesem jungen Mann zu reizen … Schon in St.-Wolfgang hatte sie ihn ja im Geist früh vergrämeln und verzärteln gesehen …[365]

Er soll sich hüten, sagte sie, Armgart nicht zu schwesterlich zu lieben! Das kann dann im Ernst so kommen! Auch Frau von Hülleshoven, ihre Mutter, könnte Armgart zuvorkommen, einen gewissen Herrn von Terschka zu wählen …

Bonaventura hörte schon nicht mehr. Seine Entrüstung nahm immermehr zu und auch sein Kampf; denn jedes Wort, das Lucinde sprach, war ersichtlich nur eine Verschleierung der Rede: Du Thor, warum umschlingt mich nun nicht dein Arm? Warum lässest du mich nun jetzt so hingehen, wie ich gekommen bin?! Voll Seligkeit läg' ich – trotz Mariens – in deinen Armen …

Herr von Terschka, fuhr sie den Epheu zerzupfend fort, nimmt jede Religion an, die die schöne junge Frau mit ihren koketten Locken von ihm verlangt! Aber sie hätte die Conversion gar nicht nöthig! Wär' ich in Rom und flüsterte – nur zwei Worte – mit den Cardinälen der Sacra Dotaria, sie sollte ohne weiteres geschieden werden! …

Warum scherzen Sie über so ernste Dinge! fragte Bonaventura verdrossen – doch staunend …

Kein Scherz! … Ich lernte neulich die Frau kennen! Ihre Seele ist aus heißer Luft gewoben! .. Wer möchte glauben, daß auf der Heide von Witoborn solche Blumen wachsen! .. Sie kennen ja dies Geschlecht mit dem ewig gleichen Perpendikel des Herzens! .. Ein Schlag wie der andere! Bim – bam! .. Es ist ja wahr – auch – Ihre Heimat ist's!

Bonaventura sah Lucinden ganz so wieder, wie sie sonst und noch zuletzt in seinem Pfarrhause gewesen war …[366]

Das muß ich doch noch sagen, ich liebe nur den katholischen Glauben, wenn er die Seele zum Muthe entflammt! fuhr sie in einer Aufregung, die sie nun nicht mehr bemeistern konnte, fort … ich liebe ihn, wenn er die Menschen aus der Gewöhnlichkeit erhebt und ihnen Flügel gibt! Dort?! Dort – ist wirklich alles nur Aberglaube und so vieles, so vieles – auch hier –

Bonaventura, seine vorhergegangene tief vom Herzen gekommene Ansprache verhöhnt, kalt abgewiesen fühlend, athmete hörbar vor immermehr zunehmender Entrüstung …

Schon war Lucindens ganze Hand voll grüner abgerissener Epheublätter …

Sie werden auch Schloß Neuhof sehen? sprach sie, noch wie harmlos, aber doch, da sie nun gehen mußte, aller Fassung beraubt …

Ohne Zweifel! sagte Bonaventura kalt …

Auch den Kronsyndikus? …

Man erwartet seine Auflösung …

Das bedaure ich! … Ich wünschte, Sie frügen ihn nach seiner zweiten Frau, die noch in Rom leben soll … Und ob – die alten – Stammers – wol noch im Parke hausen? – Und Bruder Hubertus – werden Sie – sehen – auch Klingsohr –

Nicht unmöglich …

Wenn ich einmal Paula im magnetischen Schlafe sähe, wollte ich sie etwas fragen – Aber es ist ja wahr – Immer, wenn ich an ihr Lager trat, wissen Sie wol noch, hörte – die Posse auf …

Bonaventura stand auf glühenden Kohlen …

Nur einmal glaubt' ich selbst, daß sie im Traum[367] wahr sprechen konnte … Einmal! … Am Tage Ihrer Weihe! Warum aber auch – thaten Sie ihr das!

Der bitterste, schrillste, ja ein frecher Hohn war es, mit dem Lucinde diese Worte sprach …

Und Bonaventura nahm die Kriegserklärung auf …

Er ergriff das Licht, ging an die Thür, die zum Corridor führte, und machte die Miene, als wollt' er ihr ruhig hinausleuchten …

Jetzt blieb Lucinde stehen und verwüstete erst recht den Epheu …

Schonen Sie diese unschuldigen Blätter! rief er …

Lucinde ließ alle Blätter, die sie gerade in der Hand hatte, zu Boden sinken und suchte Bonaventura's Auge …

Der Priester versuchte ihren Blick auszuhalten …

Sie starrte ihn an wie die Walkyre …

Er – stellte den Leuchter auf den Tisch zurück, um sich aus ihrer Nähe entfernen zu können und ins Nebenzimmer zu gehen. Die Augen niederschlagend und sich den letzten, entscheidenden Rest von Selbstbeherrschung gebend, den er solcher Herzenshärtigkeit gegenüber noch besaß, hauchte er an der Thür des andern Zimmers mit erstickter, aber deutlicher Stimme:

Fräulein! Da ich so wenig über Ihren unglückseligen Sinn vermag, so möcht' ich ein für allemal gebeten haben – Sie suchen sich für jeden künftigen Fall Ihres – Beichtbedürfnisses einen – andern Freund Ihrer Seele –!

Eine kurze tödliche Pause folgte auf dies sich im Sprechen mildernde, aber doch mit dem entschlossensten Aufdrücken der Nebenthür endende kategorische Ersuchen,[368] nie wiederzukommen und sich für immer einen andern Beichtvater zu wählen.

Lucinde verstand das tödlich entscheidende Wort.

Bald auch machte sich ihr Seelenzustand in einem furchtbaren Ausbruch Luft …

Kein Lachen stieß sie aus, auch kein Weinen …

Es war ein Ton, der sich ihr, wie sie an der Thür stand, vom Herzen losriß, ohrzerreißend, von Lachen und Weinen eine Mischung, unerhört für den Priester, der wie in Betäubung stand und sich bei alledem sagte: Jetzt oder nie! Es muß ein Ende sein! …

Nie von ihm gesehen war auch das, was er jetzt sehen mußte …

Lucinde lag plötzlich am Boden, hingestreckt wie eine Leiche … dicht an der Thürschwelle lag sie wie leblos … völlig starr … beide Arme lagen zu ihren Häupten weit ausgestreckt, ihr ganzer Körper war wie gelähmt …

Erst wollte der zum Tod Erschrockene sich dennoch entfernen …

Dann mußte er bleiben … Der Gedanke, daß Lucinde an einem plötzlichen Krampf erstickt wäre, erfüllte ihn mit Entsetzen …

Er beugte sich zu ihr nieder, rief sie an … ergriff ihren rechten Arm, der wie gefühllos hing … der Hut lag im Nacken, der Shawl war ihr von ihren Schultern geglitten … kein Glied mehr bewegte sich …

Erst als Bonaventura sich erhob, an den Tisch eilte, auf dem das Wasser stand, sein ganzes Taschentuch eingetaucht hatte und zurückkehrte, um ihr die Stirn und Schläfe zu befeuchten, regte sie sich und suchte aufzustehen …[369]

Sie lehnte dabei seine Hülfe ab, drückte ihren Hut fest und in die Worte der Bestürzung, die er sprach, hinein erhob sie ihre Stimme, faltete die Hände, blieb in ihrer knieenden Stellung und rief:

Maria! … Ich wage es doch, dich anzublicken! … Gib mir Kraft, mein Loos zu tragen, wie du das deinige ertrugst! … Sieben Schwerter durchbohrten deine Mutterbrust und du sahst doch noch die Herrlichkeit deines Sohnes! …

Dann sprang sie auf, riß ihren Hut herab, stand wie wahnsinnig, erhob den Arm und flüsterte fast heiser:

Auch ich werde sie sehen! Gott hat die Zukunft meiner Liebe, das Glück und die Lebensruhe des grausamsten aller Menschen in meine Hand gegeben! …

Dabei bebten durch die blendenden Zähne hindurch die von ihr wiederholten Worte Bonaventura's:

»Einen andern Freund Ihrer Seele!«

Vielleicht würde Bonaventura in einem Versuch der Aussöhnung von Lucinden geschieden sein, wenn ihn die räthselhaften Worte, die sie sprach, nicht aufs neue erschreckt, der furchtbar betonte Sinn der Drohung, der in ihnen lag, nicht befremdet hätte …

Ja, sagte sie wie geisterhaft zu dem sie Anstarrenden; das hat Gott in meine Hand gegeben! Wie Ihr Schatten werde ich Ihnen durch Ihr Leben folgen – Herr – von Asselyn!

Wahnsinnige! rief Bonaventura aufs neue ermuthigt …

Ja, setzte sie fast lachend ihre Rede fort, ich bin die Ursache, daß das Grab erbrochen wurde, in dem der letzte Begleiter Ihres Vaters bestattet war …[370]

Bonaventura horchte auf und starrte dieser neuen Gedankenreihe …

Ich, ich kenne den Verbrecher! Ich, ich besitze, was er im Sarge gefunden hat!

Sie – Sie besitzen – was ich seit jeder Stunde –?

Keine Verletzung der Beichte! unterbrach sie bitter höhnend … Ich kenne den Verbrecher ohne Ihre Andeutung! Mir gab er, Ihnen das Gefundene einzuhändigen. Der Muth des Mannes regt sich in Ihnen? Sie glauben, mir das Geheimniß entreißen zu können? Suchen Sie! Mit allen Häschern der Erde … Sie finden Ihr Lebensgeheimniß nicht … das halte ich!

Bonaventura, in äußerster Verwirrung, sprach fast zitternd durcheinander:

Ich kenne – den Haß – dessen Sie fähig sind … aber Sie dürfen beruhigt sein … durch die Gerichte werd' ich ihn nicht nähren …

Schmeicheln Sie? Wandeln Sie dahin, wohin Sie Ihr Geschick ruft! In die Thäler, auf die Berge! Lassen Sie die Mitra auf Ihr Haupt setzen, wie Paula prophezeite – ich habe das Geheimniß, Sie in jeder Stunde des Tages, in jeder der Nacht – an mich zu erinnern!

Ich fürchte dich nicht! Dämon! Was könntest du besitzen?

Ein Bekenntniß!

Von meinem Vater? Er ist die Liebe selbst!

Nicht von Ihrem Vater!

Von meinen Angehörigen? … Meiner Mutter?

Nicht von Ihrer Mutter!

Die Ehre meines Namens befleckt kein Bekenntniß der Erde![371]

Die Ehre Ihres Namens!

Die Ehre eines Angehörigen? Ha, meines Vetters Benno?

Lucinde stockte, dann sprach sie:

Auch das nicht!

Lucinde! Ich habe Sie zu allen Zeiten einen Teufel nennen hören! Sind Sie denn wirklich ein Geist der Hölle –?

Ein Mann im rothen Haare saß in Ihrem Beichtstuhl! antwortete sie kalt dem fast bittenden Tone … Er bekannte Ihnen, daß er eine Schrift in lateinischer Sprache gefunden … Fürchten Sie nicht, daß ich die Hülfe eines andern in Anspruch zu nehmen hatte, um sie zu entziffern – Ich erzählte Ihnen ja heute, von wem ich alles – Latein gelernt!

In ihrer Stimme zitterte fast eine Thräne …

Betrifft die Schrift – –? fragte der Gefolterte. Aber er wußte selbst nicht mehr, in welchen Verhältnissen er forschen sollte. Dunkel war ihm ja nur außer dem Tode seines Vaters – eine, eine geheime Stelle in seinem Innern – sein Beruf –!

Nichts betrifft die Schrift, was Sie hindern kann, alle Prophezeiungen von Westerhof wahr zu machen! fuhr Lucinde fort und faßte sich allmählich. Werden Sie Bischof, Erzbischof, setzen Sie sich die dreifache Krone aufs Haupt –! Ein Wort von mir entwerthet Ihr Dasein! Ein Wort von mir nimmt Ihrem Segen die Kraft! Ein Wort von mir, und was Sie blühend glauben, muß verwelken, was Sie für die Ewigkeit geschaffen wähnen, muß untergehen!

Wahnsinn! Wahnsinn! rief Bonaventura außer sich …

Dann sprechen Sie das Wesen Ihrer Kirche aus … erwiderte sie und wollte gehen …[372]

Ihrer – unserer – Kirche!? … Die Urkunde hängt mit meinem Glauben zusammen?

Unserm Glauben! …

Mit der Wahrheit – dieses Glaubens?

Mit dem ganzen – ganzen Bau der Kirche!

Ein Hohnlachen schien ringsum von den Wänden widerzuhallen …

Bonaventura wandte sich, um sein Bewußtsein nicht zu verlieren … Die Stirne brannte ihm … Die zitternde Hand fuhr über die düstern Furchen hin und wischte die Vorstellungen ab, die sich aus ihr wie leibhaft zu sammeln schienen … Schon wieder die kaum beruhigte Seele in Aufruhr versetzt? Schon wieder eine Mahnung des Zweifels? … Wieder das Herz im Tumult wie damals, als der räthselhafte Brief aus Italien gekommen, der ihm von Fehlern der Kirche, von Huß, Savonarola, Arnold von Brescia gesprochen?

Und wie er sich wandte, um in Güte mit Lucinden sich zu verständigen, sogar sein hartes Wort: Sie sollten sich einen andern Beichtvater suchen! vielleicht zu mildern, mehrte sich sein Entsetzen …

Lucinde war verschwunden …

Die Stelle, wo sie noch eben wie eine Botin der Hölle gestanden, war leer.

Das Auf- und Zugehen der Thür, nichts hatte er in seinem Schrecken und der tiefsten Verlorenheit in sich selbst vernommen … Sie war nicht da.

Selbst, als er die Thür aufriß und in die hellerleuchteten Corridore blickte, fand er nirgends eine Spur mehr …

Nun war alles wie ein Traum.

Seine Geister rasten …[373]

Wahnsinniger! riefen sie ihm … Was trotzest du mit deiner Tugend? Was mordest du dich und andere? Trittst Blüten der Menschlichkeit mit Füßen und gewinnst nur blutige Dornen dafür? Bist du nicht ein Thor mit deinem entsagenden Herzen! Lügst du nicht selbst, indem du einem Mädchen, das dich liebt, doch nur – um einer andern Liebe willen kalt bist, die, verboten wie sie ist, doch in deinem Herzen thront? Thor, der du den erquickenden, berauschenden Trank der Leidenschaft nicht zu kosten wagst! Wagst? Ha, ein Schatten, ein Schatten bist du, ein Spiel der Täuschung! Ein Gedankenschemen ohne Wahrheit! Ein mit bunten Kleidern behängtes Nichts! Ein Mensch ohne Leben, ohne Zeugniß für den Schöpfer, der dir den Athem seines eigenen zeugungskräftigen Daseins in die Seele blies! … O, wäre sie geblieben, riefen die Leidenschaften in ihm fort und fort, eine Secunde noch, vielleicht wäre die Maske gefallen und das Spiel, das erheuchelte, zu Ende gewesen! Der Welt hätt' ich, und wenn im Arme eines Teufels, gerufen: Unmöglich, unmöglich ist die Kirche, weil das Priesterthum unmöglich ist!

Zwischen dieser rasenden Nachwirkung einer in Liebe und Haß so gleichbestrickenden Frauenleidenschaft jammerte es tief wehmuthsvoll in ihm: Was kann sie von dir besitzen? Was wissen? Von deinem Vater? Von uns allen –?

Noch kämpfte es in seinem Innern, als schon manche Mahnung wieder an seinen Beruf sich ihm näherte, manches Wort von ihm mechanisch gesprochen werden mußte, Renate kam, plauderte und ihm Fragen stellte, die er beantwortete, ohne zu wissen wie …

Dann sah er den Hauswart, sah seine Koffer holen und in den Wagen tragen, mit dem er zur Post fahren wollte …[374]

Abschied nahm er von Renaten, von seinem Zimmer, von seinen Büchern, von seinem zerstörten Epheu, dessen zerrissene Blätter wie seine Ideale lagen …

Im Hof fand er den Wagen, in den er einstieg, geschmückt mit bunten Kränzen, hoch den Sitz mit Blumen belegt …

Er sah Männer mit Fackeln, die ihm Abschied sprachen, Frauen, die mit den Taschentüchern winkten und wehten …

Als der Wagen durch das große Portal fahren wollte, umringte ihn ein Chor von Knaben, die ihn mit einem Lobgesang begrüßten …

Er erkannte die Kattendyks, seine Beichtkinder, auch Treudchen Ley, sogar im Scheine hochgehaltener vierflammiger Kirchenlaternen einen kleinen Mann, schwarz und weiß angethan, Herrn Jean Baptiste Maria Schnuphase, der eine feurige Rede hielt …

Auch die Frau in silbernen Locken schien ihm an einem Pfeiler zu stehen und sinnend und träumerisch ihm nachzublicken …

Ringsum öffneten sich die Fenster im Hofe und die sonst so grämlichen alten Bewohner des Hauses – ihm waren sie freundlich, ihm lächelten sie Abschied und frohes Wiedersehen! – denn, wie Klingsohr gesagt hatte, »die göttinger Ritter des Guelphenordens fühlten die Transfusion des jungen Blutes in ihren Adern« …

Der junge Domherr, leichenblaß, sprach der zahlreich versammelten Menge Worte des Dankes, Worte der Wehmuth …

Was er sprach, sprechen konnte, stand mit dem Schmerz des Abschieds im Einklang …[375]

So kam er grüßend, handwinkend auf die Post, wo er von allen Blumen nur einen kleinen Strauß zurückbehielt und ihn in den engen Postomnibus mitnahm, der nun erst wieder auf das kleine Stückchen schon benutzter Eisenbahn fuhr …

Unmittelbar mit eigenem Fuhrwerk zur Eisenbahn zu fahren, war keinem gestattet, der mit der Post später weiter wollte. Im Posthof mußte man sich sammeln und dort wurden die Namen aufgerufen … So war das Ghibellinenthum. Präcis, höchst geordnet, ganz nach dem militärischen Geiste Grützmacher's und Schulzendorf's und wie Thiebold de Jonge bei den Freunden Piter's berichtet hatte, der Generalpostmeister (Bundestagsgesandter) sprach einst wirklich das historische Wort gegen Einführung der Eisenbahnen: »Mit solchen Neuerungen hört die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!« …

Benno's Kampf lag eben in diesem unvermittelten Gegensatz so vieles Hochherrlichen am Ghibellinen- und so manches Hochherrlichen am Welfenthum …

Wie sehnte sich Bonaventura nach dem Geist eines Dritten, das über diesen Gegensätzen versöhnend schwebte –!

Er fuhr von dannen – tief unglücklich – das Räthsel der Welt im Herzen.


Ende des vierten Buches.[376]

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859.
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