8.

[242] Die Worte der geistesstarken jungen Frau, die Widersprüche zweier Pole im Katholicismus – die größte Abhängigkeit und doch eine eigenthümliche Freiheit – hatten Lucinde in alle Gedankenreihen gestürzt, die ihr vorzugsweise schon oft bei Serlo's Memoiren entstanden waren …

Aber mehr, mehr als alles, was sie zu einer würdigen Denkerhöhe, zu der auch sie so viel Berechtigungen in sich trug, emporheben und ihr den oft bitter errungenen, aber tiefinnerlich beglückenden Stolz, in solcher Höhe einsam zu stehen wie Alpenhäupter, erhaben über die alltägliche Denkweise der Menge, hätte einflößen können, quälte sie ihr eigenes Geschick … Paula – Bonaventura – Hildegard – der Benedictiner Gottfried – alles das überwältigte und lähmte jeden Aufschwung …

Ein großer Unterschied zwischen Monika und Lucinden! Monika eine Frau und liebend das Gute um des Guten willen. Lucinde ein Mädchen – den meisten ihrer Gesichtspunkte fehlte Ernst und Festigkeit und das Gute liebte sie nur, weil das Gute in den meisten Fällen das Klügere ist. Monika entsagte schon lange dem Leben[243] und stellte sich entschieden auf sich selbst. Lucinde suchte einen Anhalt. Nicht von Hause aus saß Neid in ihrer Brust, aber er nistete sich mit der Zeit durch ihr Unglück ein. Die Unglücklichen sind neidisch. Sie werden sich immer sagen, daß sie sich ebenso berechtigt glauben zum Glück wie die Glücklichen … Seltene, Edelste deines Geschlechts, ich habe dich lieb, ich bewundere dich, nimm mich in deine Freundschaft auf! Das konnte Lucinde nicht zu Monika sagen. Sie fühlte die anziehende Kraft dieser Frau, sie sah ihr liebliches Kind in ihren Zügen wieder und doch hätte sie nicht einen Schritt thun können, ihr mehr zu huldigen, als ihr Geist verdiente. Die Geringschätzung der katholischen Lehren würde sie wenig gestört haben …

Schon auf der Treppe zu Delrings hinauf, wo sie etwas von Pitern zu erfahren hoffte, lachten sie die gewöhnlichen Larven ihres Innern an und sagten von der Frau in den silbernen Locken: Sie ist mit ihrer Familie verfallen! Sie hat unter den Vorurtheilen derselben zu leiden! So jung noch, so schön, und sie soll entsagen! Herr von Terschka ist ihr Anbeter! Vielleicht gar Graf Hugo! Was sprach sie nur von Castellungo? Von den Waldensern, die auch damals – den Hedemann so interessirten? …

Rein und gläubig war nichts in ihrem Sinn. Nur wo sie unbedingte Liebe und Hingebung fand, wie bei Treudchen, da legte sie die Waffen nieder …

Im obern Stock schien alles wie ausgestorben. Der lebendige und rauschende Abend hatte auch die Delring'sche Dienerschaft angezogen und Treudchen mochte zum Thee genügt haben …[244]

Lucinde hielt ihre Kleider, um sich durch das Rauschen derselben nicht hörbar zu machen.

Oben fand sie alle Thüren offen. Sie schlich sich näher. Das Ehepaar schien noch nicht zur Ruhe gegangen. Treudchen war nicht zu finden. Delrings waren ohne Zweifel in dem kleinen Boudoir, wo das Pianino stand und die verhüllte Madonna. In das leise geöffnete Wohnzimmer blickte Lucinde. Noch brannte hier eine Astrallampe, die, von einem großen dunkelrothen Tuberosenkranz von Papier gedämpft, ein magisches Licht auf Bücher und Nähwerk fallen ließ. In der hier herrschenden Stille lag ein geisterhaftes Etwas, gleichsam als lebte schon das Kind, um das soviel Kampf und nach Lucindens Meinung unnützer Streit geführt wurde. Aber die Stille wurde gespenstischer und gespenstischer … Die Lauschende erschrak … Ihr alles vom Gegentheil auffassender grausamer Sinn sah das erwartete Kind plötzlich statt in der Wiege – auf der Bahre … Sie fuhr zurück, als wehte sie ein Eishauch des Todes an …

Um Treudchen zu finden, mußte sie hinterwärts, dem Hofe zu.

Alle Zimmer waren hier dunkel …

Endlich kam sie furchtsam und erschreckt an Treudchen's Kammer, die sie rasch wie Hülfe suchend öffnete.

Unfehlbar hätte sie jemand, der drinnen war, hören müssen, so leise sie die Thür auch aufklinkte.

Treudchen aber, die wirklich drinnen war, lehnte sich gerade zum Fenster hinaus, weit, weit hinaus … sie hätte in den Hof fallen können …[245]

Erschrocken trat Lucinde näher und wollte sie am Sturze hindern …

Treudchen klammerte sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest und jetzt sprach sie sogar hinaus …

Nun zog sich Lucinde zurück in die dunkle Vorkammer …

Herr Kattendyk! Herr Kattendyk! wisperte Treudchen zu den Fenstern Piter's, in welchen sich ein leiser Lichtschimmer entdecken ließ …

Jetzt kehrte sie vom Fenster zurück und sprach mit weinerlicher Stimme vor sich hin:

Jesus Marie! Er verschläft den ganzen Abend! …

Ein dumpfes Gemurmel von Menschenstimmen ließ erkennen, daß unten die Thür zur Verbindungstreppe mit den Zimmern Piter's offen stand, vielleicht der Hitze wegen. In diesen hintern Zimmern wurde gespielt …

Lucinde kämpfte mit sich, ob sie Treudchen belauschen oder mit einem plötzlichen: Guten Abend! erschrecken sollte …

Treudchen's Angst schien sich zu mehren, als sie an die Verbindungsthür trat, die seit einigen Monaten für immer geschlossen war. Der Schlüssel steckte; soviel Vertrauen hatte ihr Madame Delring geschenkt; aber die Thür zu öffnen war ihr streng verboten …

Nun seufzte sie:

Er ist nicht in der Gesellschaft! Er schläft! Jesus, Marie, Joseph! Und kein Mensch kümmert sich um ihn!

Sie liebt ihn wirklich! sagte sich Lucinde mit einem vornehm herabblickenden Mitleid …[246]

Kein Mensch kümmert sich um ihn! wiederholte Treudchen halb weinend. Und der Abend geht vorüber, der sein Stolz sein sollte! Was macht man nur!

Am offenen Fenster rief sie wieder:

Herr Kattendyk!

Drüben blieb alles still … Licht war im Zimmer, das sahe man …

Lucinde sagte sich: Wenn ich einmal eine recht gute Handlung in der Welt begehe, soll es die sein, dich zur Frau Piter Kattendyk zu machen …

Das Lachen, Reden, Tellerklappern, Gläserklingen von unten her nahm immermehr zu …

Treudchen faßte einen Entschluß. Sie trat an die Thür, sah durchs Schlüsselloch, erfaßte den Schlüssel, drehte entschlossen einmal, zweimal um, drückte die Klinke auf und herein strömte eine blendende Lichtfülle, strömte in die matterhellte Kammer so strahlend, so feenhaft festlich, daß Lucinde unwillkürlich wieder in ihre Vorkammer zurückhuschte …

Treudchen wagte sich vorwärts. Die Fülle des Lichts fiel auf ihre angstbleichen schönen Züge. In Anmuth hob sich lichterhellt die liebliche Gestalt von dem dunkeln Vordergrund ab. Auf den Zehen schlich sie an die Thür Piter's, die von innen durch einen Drücker, von außen durch einen Schlüssel zu öffnen war, einen Schlüssel, der leider nicht steckte …

Tiefseufzend öffnete sie das Corridorfenster, lehnte sich auch da weit hinaus und räusperte laut, um hörbar zu werden. Dann rief sie wieder:

Herr Kattendyk![247]

Für Lucinden war dieser Beweis der Liebe Treudchen's ein Genuß. Noch viel länger hätte sie jetzt lauschen mögen. Sie hatte die Absicht, nach einer Weile hervorzuspringen und sie zu küssen. Sie war in Treudchen verliebt; diese – kritisirte sie doch nicht! Und Treudchen's Lebenslage glich der ihrer eigenen ersten Jugend …

Nun aber wollte sie ernstlich Lärm machen, um Pitern zu wecken.

Eben kehrte Treudchen zum Schlüsselloch zurück und wisperte die ängstlichsten und dringendsten Rufe … Da tönte vorn in den Delring'schen Zimmern eine Klingel; sie wurde zwar nur einmal, aber laut schallend angezogen.

Wie der Blitz schoß Treudchen an Lucinden vorüber und verschwand mit einer Schnelligkeit, die es unbegreiflich machte, wie sie zu gleicher Zeit noch die Thür ihres Zimmers anziehen konnte. Ehe Lucinde sich über die Störung hatte orientiren können, war sie im Dunkeln; auch das Licht Treudchen's war vom Zuge ausgegangen.

Lucinde wäre gern in diesem Dunkel geblieben … mit sich allein … mit dem Chaos in ihrer Brust …

Der Befehl der Commerzienräthin war jedoch zu entschieden … Sie öffnete und wollte stark an Piter's Thür pochen, hinter der der Lichtschimmer immer matter und matter zu werden anfing. Das offene Fenster störte sie. Sie war in bloßem Halse und hocherglüht …

Eben, wie sie das Fenster schloß, hörte sie von unten her das leise Betreten der Corridortreppe …

Da sie nichts zu fürchten hatte, drückte sie Treudchen's Thür ganz zu und wollte sich ans Werk machen,[248] in allem Ernst zu entdecken, ob der »junge Herr« anwesend war oder nicht.

Da sprach von der untern Treppe eine männliche Stimme herauf:

Fräulein, was haben Sie denn nur für ein Interesse, der Gesellschaft den Abend zu verderben?

Es war die Stimme des Oberprocurators …

Lucinde wandte sich, tieferbebend …

Nück stieg eine Stufe höher …

Ihr Herr Schwager verschläft den Abend, der sein eigenes Werk ist! hauchte sie und suchte nach Unbefangenheit. Sie hoffte, Nück würde gehen.

Nück stieg aber höher und sprach:

So wird er, wie hier auf Erden jedes große Genie, auf seinen Nachruhm angewiesen sein!

Wir erleben aber von ihm die heftigsten Vorwürfe, fuhr Lucinde sich ermuthigend fort … Es benahm ihr den Athem dies Näherkommen des gefürchteten Mannes … Auch hat mich Frau Commerzienräthin beauftragt, ihn auf alle Fälle zu rufen! setzte sie tonlos hinzu …

Wenn er nun aber hier nebenan gefesselt sitzt bei dem kleinen Mädchen, dessen Schutzengel Sie geworden sind?

Nück stand mit diesen schmeichlerisch betonten Worten oben und vertrat Lucindens in dieser lichthellen Einsamkeit vollends blendender Erscheinung den Weg, als sie kraftlos wieder bei Piter anklopfen wollte …

Bitte! Bitte! sagte er sicher und ruhig. Wirklich! Lassen Sie doch den Burschen träumen! Beschämungen sind zuweilen eine gute Cur und ohne ihn geht alles noch einmal so gut. Er würde das Leben der heiligen[249] Hildegard viel besser gewußt haben, als die kleine überspannte Frau … nicht wahr?

Lucinde war wie gefangen durch die immer entschiedenere Annäherung. Sie wußte schon nicht, wie sie entkommen sollte …

Sie fliehen vor mir! rief er ihr nach, als sie ihm mit rauschendem Kleide vorüberhuschte, und suchte sogar ihre Hand zu haschen …

Selbst eine Rose, wie Sie, muß duldsam sein für jeden Wurm, der aus ihrer Blüte Duft saugen will! sprach er mit einem funkelnden Blicke …

Ja! sagte Lucinde mit gepreßter Stimme und vor Angst scherzend und auf seine graue, unfestliche Kleidung deutend, ein Wurm sind Sie! Ein rechter Actenwurm!

Mädchen! rief Nück wie im plötzlichen Sichselbstvergessen, dann aber sich mäßigend … Er war wie um zehn Jahre jünger geworden durch dies tête-à-tête. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Am Geländer der Treppe mußte er sich halten, um sein aufgeregtes Zittern zu verbergen …

Das wußt' ich doch, sagte er und vertrat ihr wieder den Weg, daß Sie das nicht sind, was Sie bisher geschienen …

Ha! wallte Lucinde auf und stand wie fragend nach der Bedeutung dieses Wortes. Allmählich gewöhnte sie sich an das gehörte Wort und gedachte ihrer äußern Erscheinung, die wol Nück gemeint haben konnte und die heute eine festliche war … Ja sie erglühte, da sie ihren Schatten sah und die Locken, die in ihrem Nacken wogten …[250]

Erfuhren Sie das – von –? sagte sie bei alledem mit erwachendem Muthe und deutete abbrechend auf die Straße hinüber …

Von wem? fragte Nück, staunend und unschuldig wie ein Kind.

Seine Augen schossen zwar einen durchbohrenden Pfeil auf die Fragerin, die ihrerseits im Ton angedeutet hatte, was sie über die Frau vermuthete, bei der sie hatte Chocolade trinken sollen; doch lag zugleich etwas um Vergebung Bittendes in seinem Tone. Endlich, wie ein Jüngling, der zum ersten mal von Liebe spricht, sagte er leise und zitternd:

Lucinde! Ich bete Sie ja an!

Lucinde sah einen Mann vor sich, der aller Welt ein Riese an Willenskraft und Macht erschien. Ihr gegenüber schien er ein Kind, die Demuth selbst zu sein …

Lucinde lachte laut auf mit jenem hellen Lachen, das ihr niemals schön gestanden … Seit Monaten hatte sie nur in Treudchen's Gegenwart und für sich allein so lachen können …

Befehlen Sie über mich! Strafen Sie mich! Gebieten Sie mir etwas! Ja, ich bin Ihnen Genugthuung schuldig für mein gewagtes Wort! sagte Nück und bot der ihn Verhöhnenden die Hand …

Lucinde hatte fast das Bedürfniß, ihr spottendes Lachen wieder gut zu machen. Fast scherzend und schon wie um ihn festzuhalten sagte sie, sich rasch auf die von Veilchen Igelsheimer erhaltene Mahnung besinnend und ihren Vortheil nutzend, vielleicht Klingsohr irgendwie für immer aus ihrer Lebensbahn zu schaffen:[251]

Ganz recht, Herr Oberprocurator! Sie können mir einen Gefallen thun! … Sie kennen den Mönch – Sebastus?

Ihren ehemaligen Verlobten, Doctor Klingsohr …

Lucinde hatte diese Wendung nicht erwartet. Sie brach erblassend ab und wollte gehen … Es war ihr Fluch, daß ihr überall die gespenstische Vergangenheit entgegentreten mußte …

Nück vertrat ihr aber den Weg, streckte die Arme aus und hauchte leise, wie zerflossen von Inbrunst und Leidenschaft:

Mädchen! Was fliehst du! Ich kenne ja dein ganzes Leben!

Lucinde blickte ihn finster und von der Seite an, indem sie die Thür zu Treudchen's Zimmer fest in der Hand hielt … Sie bot ein Bild des Schreckens, der Entrüstung und – jener Schönheit, die dem Charakter eigen ist …

Rolle deine gewitternden Augen nicht! Lache nicht über mich – mich, den Narren im grauen Haar –! Pater Sebastus … Ja, ganz recht! Dem geht es schlecht! … Was wünschen Sie, Fräulein Schwarz, daß ich für ihn thue?

So sprang er in einen ganz gewöhnlichen Ton der Artigkeit zurück, hielt diesen Ton aber nicht fest, sondern rief sogleich hinterher:

Angebetete!

Lucinde hatte sich in ihre Lage gefunden und fing an sich zu beherrschen.

Warten Sie nur, sagte sie, nun weiß ich etwas, was[252] eine Dame, die fortwährend über Hitze klagt, endlich einmal abkühlen wird! …

Sie sagte das so voll Uebermuth, daß Nück neue Hoffnung schöpfte. Mit elegischem Blick hauchte er:

O, das war grausam!

Sein Blick dabei gen Himmel wollte ein ganzes verfehltes Leben malen …

Lucinden graute vor diesem Blick … Es war gar kein menschlicher …

Was kann ich für den Mönch thun? fragte Nück sich sammelnd …

Kann man ihm nicht die Freiheit geben?

Die Rückkehr in sein Kloster?

Lucinde stockte …

Sie wollte sagen: Gerade das am wenigsten!

Sie sind an ewige Gelübde nicht gewöhnt! sprach er. Es wird ihm besser sein bei Pater Ivo und Bruder Hubertus … Oder … Ja! Ganz recht, Sie wollen ihn nicht gern in der Gegend von Witoborn. Nicht bei Schloß Westerhof, wohin Sie Ihre ganze Sehnsucht zieht! … Wallen Sie doch nicht auf, Fräulein … Gut! Erst erfahren wir, ob er entfliehen will? Will er wieder Protestant werden? Nein? Oder was? Weltpriester? Er hat die Weihen nicht! Halt! Das ginge! Das würde ihn aus Ihren Bahnen schaffen! … Ha! Blitzt es schon wieder? Wie schön steht Ihnen dieser Zorn! … Mädchen – Gut, nach Belgien schicken wir ihn, wie ich manchen dahin schicke, Alte und Junge! Sie verstehen? Er darf sein Ordenskleid wechseln, falls er – Jesuit werden will! Lassen Sie ihn nach Lüttich[253] gehen! Dann sind Sie ihn los … Aber so bleiben Sie doch! Warum zürnen Sie denn? … Hm! Ich besorge alles! Empfehlungen, Wagen, Pferde … Nach Lüttich! Nicht wahr? Nicht nach dem Düsternbrook, wo Sie ihn zum ersten mal sahen? … O, o! … So bleiben Sie doch!

Lucinde folgte allen diesen Reden in der höchsten Aufregung. Bald stand sie auf der Flucht, bald wieder wie gebannt von dem dämonischen Manne, der ihr ganzes Leben kannte und so tief in ihrer Seele las …

Nück fuhr fort:

Allerdings! Dieser Mann könnte sich größer bewähren, als durch Betteln! Soll ich ihn nach Rom schicken? Es gibt auch da eiserne Gitter – denn das muß er! Büßen muß er bitter für eine solche Flucht! Das ist die Stufenfolge – auf seinem Kalvarienberge des Lebens! Ein lebhafter Briefwechsel hin und her, lange Läuterung, lange Prüfung; aber besser, er setzt sich die viereckte Mütze auf und predigt; besser, als bei den Barfüßern zu verkümmern … Fragen Sie ihn, ob er zu den Jesuiten will? Ich besorge alles …

Lucinde sprach sinnend und des Mannes staunend:

Ich werde – Ihnen schreiben –

Schreiben! In Zeiten, wie die jetzige, schreibt man nicht.

So schick' ich – zu Ihnen …

Schicken! In Zeiten, wie die jetzige, kommt man selbst …

Lucinde fuhr zurück; denn Nück trat mit einer Keckheit auf sie zu, daß sie jetzt fast alles hätte abbrechen müssen …

Darum beherrschte er sich und flüsterte:[254]

Mädchen! Mädchen, höre mich jetzt! Du hast in der Welt nichts unversucht lassen wollen! Versuche noch eines! Die Liebe solcher Männer, zu denen ich gehöre! Wir zählen einundfünfzig Jahre, aber unsere Leidenschaft zählt neunzehn! Wir geben nur, wir opfern nur; wir markten nicht mehr, wir lieben nicht mehr um unserer Eitelkeit willen, wie Oskar Binder liebte! Ha! Sei doch klug, Mädchen, und erschrick nicht ewig – vor dir selbst! Sei, was du bist! Das Bedürfniß der Hingebung ist am Manne nie reiner, nie aufrichtiger, nie selbstloser, als wenn schon alle Hoffnungen und Illusionen hinter ihm liegen! Lucinde! Ich baue dem Glück, das Sie mir gewähren, ein goldenes Haus! Niemand soll es sehen … in Lüften soll es schweben, wie die Hütte von Loretto! Wollen Sie anderes? Befehlen Sie! Ich breche mit allem, was Sie stört, thue alles, was Sie bedingen! Reisen wir? Nach Paris? Nach Rom? Nach Mekka! Ich bete Sonne und Mond an, wenn du es verlangst, Mädchen!

Lucinde hatte die Thür in der Hand, die sie öffnete und wollte entfliehen …

Bleibe! rief Nück außer sich …

Sie wandte sich … Da fuhr sie entsetzt zurück … Wie sie in des wilden Mannes Augen sah, waren diese ohne Stern. Ein einziger weißer Glanz …

Nück, den unheimlichen Eindruck, den er machte, ahnend, bestätigte ihn fast, indem er tonlos sprach:

Ich bin unglücklich!

Wieder hatte in dem untern Stockwerk Musik begonnen. Man sah, daß eben in dem Zimmer Piter's[255] das Licht ganz erloschen war … Die unten geführten Gespräche hörten auf …

Lucinde sprach zitternd und wegen der Stille kaum hörbar:

Ich muß zur Gesellschaft!

Nück gab sie nicht frei … Ebenso leise flüsterte er:

Sie lieben, Lucinde, ich weiß es …

Die Musik kam vom Spiel auf dem Flügel … Lucinde dachte, sie müsse vergehen … den Schlag ihres Herzens hätte man hören können …

Sie lieben einen Menschen, der ein Gott ist! fuhr Nück flüsternd fort. Das wird Sie nicht glücklich machen!

Lucinde hielt sich, um nicht zusammenzubrechen …

Warum verschwenden Sie Ihre Kraft, Ihre Jugend, Ihren Geist an diese Schwärmerei? Sie lieben ein Phantom, Sie lieben Serlo's Geist – zucken Sie doch nicht ewig vor meiner Kenntniß Ihres Lebens, die ich mir aus rasender Leidenschaft verschaffte. Es sind ja keine Dolchstiche, die ich gegen Sie führe – Serlo's Geist, der in einem neuen Körper wohnt? Hat dieser Priester etwas von Serlo? Ich wünschte, Serlo's Geist spräche Ihnen aus dem meinigen oder hab' ich nichts mit ihm gemein? … Sie schütteln Ihr schönes Haupt! … Diese schönen Locken! … Lucinde! Was wollen Sie in diesen Verhältnissen? Schwingen Sie sich auf! Wissen Sie, daß – Sie eine große Rolle spielen könnten? Daß die Väter der Gesellschaft Jesu thatkräftige Freundinnen brauchen? Wollten Sie denn nicht an unserm Kreuzzuge theilnehmen, wie mir Beda Hunnius geschrieben? Hassen Sie nicht auch diese numerirten[256] Knöpfe und bunten Achselklappen? Diese kluge, durchsichtige, polizeiliche Welt? Ein Sturm wird über die Erde kommen und sie in ihren Grundvesten erschüttern! Verbünden Sie sich uns! Wenn nicht in der Liebe, im Hasse! Ha! Du kannst hassen, Mädchen! Mehr als lieben! … Siehst du, wie dich das traf! Lachen mußt du jetzt? … Hör' es, hör' es! Ich habe immer eine Fackel in der Hand, noch einmal die Welt in Brand zu stecken. Kannst du Gift mischen, Mädchen?

Für Fliegen!

Kannst du stehlen?

Kirschen!

Falsch schwören?

Lernt sich von Euch!

Falsche Handschriften machen?

Lucinde verstand kaum noch sein immer gedämpfteres Flüstern …

Wenn ich nun Paula zwänge den Grafen Hugo zu heirathen und dein Gott nicht mehr mit ihr straucheln könnte?

Das verstand Lucinde und blieb starr …

Wenn sich nun die Urkunde fände, die die Erbberechtigung des Grafen Hugo ausschließt! Wenn adelige Conduite mit sich brächte, daß Paula dem Getäuschten in Wien dafür ihre Hand gibt, wodurch sogar eine Conversion zu hoffen ist – der Mann folgt dem Weibe –! Und wenn dann Paula nicht in ein Kloster ginge, nicht mit Herrn von Asselyn die mystischen Nächte seraphischer Liebe feierte, wie die Heilige von vorhin mit dem Benedictiner[257] Gottfried? Ja, wenn vielleicht deine eigene Hand, Mädchen, im Westerhofer Archiv –

Bei diesen von Lucinden deutlich verstandenen, gierig aufgesogenen, sie mit halber Besinnungslosigkeit erfüllenden Worten trafen plötzlich zwei Thatsachen zusammen, die sie bestimmten, einen Schreckensschrei auszustoßen …

In seiner Sinnenglut hatte sich Nück Lucinden so genähert, daß nicht nur wieder seine Augen völlig weiß und ohne Stern erschienen, sondern auch unter dem weiten weißen Tuche, das seinen Hals bedeckte, ein anderer Anblick sie erschaudern ließ. Rings unter der Binde ging ein blutigrother Streifen hin, der sie sofort an Hammaker's That erinnerte …

Und in demselben entsetzlichen Augenblick, in der offenbaren Aufforderung zu einem Verbrechen, gab es plötzlich unten eine lärmende Unterbrechung des Klavierspiels …

Was ist? hörte man wie aus einem Munde rufen. Dann folgte ein lärmendes Durcheinanderlaufen, ein Klingeln, ein Schreien im Hofe und zugleich von der Straße her ein Dahersprengen von Cavalerie …

Nück horchte auf und ordnete rasch die Binde an seinem Halse …

Ein Alarm! wandte er sich. Da der Lärm zunahm, bedeutete er Lucinden ruhig zu sein und beugte sich horchend über die Lehne der Treppe …

Das Dahinsprengen der Cavalerie wurde lebhafter …

Lucinde stand kraftlos …

Ohne ein anderes Wort zu sprechen, als: Also morgen, Freundin! Klingsohr geht nach Belgien! Morgen! Schicken Sie! Schreiben Sie! Thun Sie – thun Sie, was Sie[258] wollen und was Sie wünschen! Ich unterziehe mich allem, aber Vergebung, Vergebung – Freundin! Und – Wiedersehen! … entfernte sich Nück über die Stiege und ging schneller nach unten zurück, als er gekommen.

So plötzlich ward ihm seine Selbstbeherrschung, daß Lucinde starrte, ihn so verschwinden zu sehen als wäre hier oben nicht das Mindeste vorgefallen.

Sie schwankte in Treudchen's Kammer zurück …

Diese war ohne Licht … Halb ohnmächtig sank sie auf Treudchen's Bett …

Wol eine halbe Stunde mochte sie so gelegen haben, besinnungslos, allem Erlebten nachdenkend, unbekümmert um den Lärm um sich her, auch um den auf der Straße, der sich seit dem November so oft wiederholte, als endlich Treudchen erschien, mit einem Licht in der Hand …

Jetzt erst entdeckte sie Lucinden und war nicht wenig erschrocken sie hier und wie krank zu finden …

Wissen Sie denn nicht? fragte sie erregt …

Lucinde antwortete nichts …

Treudchen erzählte, daß die ganze Gesellschaft auseinander wäre … Schon wäre am Marsthor geschossen worden … Die beiden Handwerkervereine lägen in blutigem Streit … Das ganze Militär schon stünde unter Waffen … Jetzt wäre es ruhiger, wenigstens könnten die Wagen wieder durch und holten die geängstigten Herrschaften ab … Die Meisten hätten sich zu Fuß geflüchtet … Unten wäre niemand mehr …

In der That war auf der Straße und unten alles ruhiger …

Lucinde erhob sich und sagte:[259]

Ich wollte den jungen Herrn abrufen! Seinen ganzen Abend scheint er verschlafen zu haben! Da kommt der Joseph! Weckt ihn jetzt! Er schläft gewiß! Gute Nacht, Treudchen!

Sie entfernte sich und schwankte dahin wie ein verstörter Geist … Joseph hatte ihr ein Licht gegeben. Sie ging, halb wie Psyche mit der Lampe vom schlummernden Amor, halb – wie Lady Macbeth vom ermordeten Duncan.

Mit dem Joseph kam dann auch noch der Hausknecht … Unten gingen die Klingeln der Commerzienräthin und Johannens … Man klopfte an Piter's Thür. Jetzt erfolgte Antwort. Er erschien. Piter hatte geschlafen. Er orientirte sich, brach in Staunen, in Zweifel, noch einmal in Zweifel, dann in Verwünschungen aus, Schwüre um Rache am ganzen Menschengeschlecht und zunächst an seiner Familie. An die Möglichkeit dessen, was »ihm passirt war«, vermochte er nicht zu glauben …

Treudchen behielt den meisten Muth und die meiste Fassung. Sie ging Pitern leuchtend voraus, half bei der Zurückstellung der Speisen, bei dem Löschen der Beleuchtung. Da die Commerzienräthin von einem Fieberanfall gesprochen, unterstützte sie die Bedienung derselben in ihrem Schlafgemach. Ueber Pitern konnte sie der Mutter Beruhigung geben. Zu den »etwa Erschossenen« gehörte er nicht … Er hatte nur »seinen eigenen Abend« verschlafen …

Halbtodt war Piter darum doch und um ihn her sah es aus wie auf einem Leichenfelde …

Der Ueberblick unserer aus festlichem Schmuck zur Alltäglichkeit[260] zurückkehrenden Wohnräume hat schon an sich etwas Gespenstisches …

Piter aber glich einem marodirenden Adler auf einem Schlachtfelde … Alles war vor dem ersten Ausbruch seiner Wuth geflohen … Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß er seine Eröffnung der Wintersaison, die Honneurs, den Empfang der Frau von Hülleshoven zum Gelächter der ganzen Stadt verschlafen hatte. Da lagen die Noten, da stand der Kasten mit der Baßposaune, da waren Lichter niedergebrannt, da gab es die vorausgesehenen Oelflecken, silberbeschlagene Korke lagen auf den Tischen, die Stühle waren in Unordnung, der gebohnte Fußboden mit Staub bedeckt und ohne Glanz, die Oefen erkaltet – die Früchte seiner Saat hatte man ohne ihn geerntet.

Er raste und suchte ein Opfer. Messer sah er liegen und ergriff eines … dann schleuderte er's fort; er nahm's wieder, denn eine Stimme hinter ihm her sprach von einem Aufruhr. Ha! … der Sprechende rannte von dannen … Der Hausknecht war es … er hatte den Schmerz des Kutschers anbringen wollen, der als Garderobier in dem lärmenden Aufbruch ohne Trinkgelder geblieben war.

Endlich aber kam eine tiefe Beschämung, ja sogar eine Wehmuth über Pitern. Ach, er sah aufgedeckt die große Verschwörung der Menschen gegen seinen Verstand, sein Herz, seinen Fleiß, seine Thätigkeit, seine Autorität, seine bloße Existenz als Mensch! Er ergriff einen der Klingelzüge, um zu läuten, als sollten die Todten zum Jüngsten Gericht auferstehen … Dann aber[261] besann er sich und es fing ihn an leiser und leiser zu frösteln … In den Spiegeln sah er ein kreideweißes Antlitz, eine weiße Halsbinde, eine weiße Weste, einen neuen Frack und das war Er. Diese Gewißheit erfüllte ihn mit einem Gefühle, als sprächen tausend Stimmen: Schon manchen Jammer nach einem Trinkgelag hast du erlebt, aber noch nie einen solchen, wie heute, nach so wenigen Gläsern Cognak, die so verderblich nur wirken konnten, weil ihnen große geistige und physische Anstrengungen vorangegangen! … Wo waren seine Anekdoten, die er aus dem »Demokritos« auswendig gelernt! Wo seine witzigen Antworten, zu denen er die Fragen zu provociren soviel Schlauheit anwenden wollte! … Zuletzt überkam ihn selbst ein Lächeln … Es war dies jenes Lächeln, wo der Mensch bei aller Eitelkeit doch nicht umhin kann, sich zuweilen komisch vorzukommen. Wir verrathen dies Lächeln nicht oft. Aber es kommt zuweilen. Dies Lächeln ist die Folge der Erkenntniß, daß andere Menschen manchmal nicht Unrecht haben, wenn sie unsere Handlungen einer uns plötzlich selbst keinesweges mehr bestochen vorkommenden Kritik unterwerfen … In diesem Lächeln ließ Piter den Klingelzug fahren und versparte sich das Jüngste Gericht bis auf den folgenden Morgen … Er hoffte auf den ermuthigenden Eindruck, den ihm die Helle des Tages machen würde.

Nun hätte er viel darum gegeben, wenn er jetzt noch das einzige Wesen, das ihm nicht widersprach und dem Er nicht widersprach, bei sich gehabt hätte … Er schlich sich still in die hintern Zimmer zurück, ahnte das morgen ihn überschüttende Gelächter seiner Freunde, die[262] ihn so ignoriren konnten, ja er sagte sich: De Jonge – der, der wäre der einzige honnete Mensch gewesen, der mich vermißt hätte! Mußte auch gerade de Jonge fehlen! … Nun ging er über die knarrende Stiege mit den Empfindungen, die jener Held hatte, der gesprochen: »Was sind Pläne, was sind Entwürfe!«

Und auch ihm wurde es wie Melodram, als er seufzend sich unter seine Decke streckte:

»Süßer Schlaf! Du lösest die Knoten der strengen Gedanken. Eingehüllt in gefälligen Wahnsinn versinken wir – und – hören – auf – zu – sein!«

Ringsum alles still. Auch im Hofe. Die Lichter erloschen …

Am spätesten erlosch das Licht an den Fenstern, wo Lucinde wohnte.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 4, Leipzig 1859, S. 242-263.
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