9.

[263] »Nein, es ist ein S – köndöl! Nicht möl eine Löterne ist eingeschlögen!«

Diese am folgenden Morgen von Herrn Jean Baptist Maria Schnuphase in der Nück'schen »Schreibstube« gesprochenen Worte ließen eine zwiefache Deutung zu – je nachdem …

Entweder konnten sie sagen: Alle Truppen waren auf den Beinen, um eine einfache harmlose Schlägerei zwischen dem katholischen und evangelischen Handwerkerverein zu verhindern! Oder: Man hat auf einige, die nicht weichen wollten, doch nur blind gefeuert und keiner wagte auch nur den geringsten Widerstand!

Wie sehr aber statt des ungleichen Kampfes der Faust der Geist des »Treppenwitzes« im Vortheil war, ersah Schnuphase aus den wenigen Worten, die Nück nur mit ihm wechseln konnte. Nück ersuchte ihn, heute und morgen zu jeder Stunde einen Wagen und zwei tüchtige Pferde, die etwas aushalten konnten, in Bereitschaft zu halten, um eine noch nicht näher bezeichnete Person, am Tage oder bei Nacht und Nebel, aufzunehmen und sie an einen gleichfalls erst näher zu bestimmenden Ort zu überführen …[264] Diese bedeutungsvollen, Herrn Jean Maria in »Extö se« versetzenden Worte – er frühstückte bei solcher Stimmung schon um zehn Uhr auf dem »Höhnenkömp« – waren heute das ganze Zwiegespräch zwischen den Gesinnungsgenossen. Selbst den leisen Einwand, den Herr Maria machte, morgen Abend reise Domherr von Asselyn nach Witoborn und es zieme sich eine »Demönströtion«, bei der er nicht fehlen dürfte – schnitt Nück ab. Denn schon ging und kam es wieder um ihn her und rauschte und flüsterte und lachte und seufzte … Wieder waren römische Breven angekommen, die den Verwesern des Kirchenstuhls sagten: Wir haben euch zwar gestattet, die heiligen Handlungen zu vollziehen, haben aber auch gehört, daß ihr eure Administration in einer Weise führt, die für euern ruhmwürdigen gefangenen Oberhirten im höchsten Grade beleidigend ist! Schon waren die Cabinete der Fürsten gespalten. Eine geheime Deputation der Fanatischen wurde vorbereitet an den damaligen Lenker der europäischen Geschicke an der Donau. Ein geheimer Congreß hatte auf dem Stift Neuburg bei Heidelberg die Abgeordneten aller Kirchenhäupter des vaterländischen Südens zu gemeinschaftlicher Berathung vereinigt. Der Norden bereitete sich zu einer Versammlung in der Nähe Witoborns vor. Die Väter der Gesellschaft Jesu kamen näher und näher, in mancherlei Trachten und Gestalten. Andere wieder begaben sich von hier zu ihnen, Kinder sogar, junge Leute, die Michahelles hatte erziehen lassen für die Weiterbildung in Lüttich … So war auch Tönneschen Hilgers neulich, der Schifferknabe von der Insel Lindenwerth, zu den Jesuiten expedirt worden … Nück[265] hatte so viel zu thun, daß er nur in dringenden Geschäften zu sprechen war, eine Dame, wie er sagen ließ, ausgenommen, die Gesellschafterin seiner Schwiegermutter, Fräulein Lucinde.

Eine hohe weibliche Gestalt sah man dann in den ersten Frühstunden in die Rumpelgasse eintreten. Sie war blau verschleiert, in einem schottisch carrirten Mantel; ein Pelzmuff bedeckte die Hände … Gegen Morgen hatte das Wetter plötzlich umgeschlagen und war kalt geworden. Einer der kleinen Kanäle der Stadt war sogar mit einer dünnen Eisdecke überzogen. Eine dichte Menschenmenge stand, um ein Wunder zu sehen. Auf dieser Eisdecke hatte sich eine Figur gebildet, die man allenfalls – für ein Kreuz nehmen konnte. Durch diesen Anlaß zu neuer Aufregung hindurch, betrat Lucinde das enge Stadtviertel, wo der Frost unter den Tritten der Fußgänger schon wieder aufgeweicht war und es wie immer werkeltägig aussah, obgleich die Juden Sabbat hielten …

Lucinde kannte durch Treudchen alles, was Löb Seligmann über Veilchen Igelsheimer erzählt hatte …

Freilich die Bildungsquelle, die ihr bei diesem Mädchen nach des entzückten Löb Versicherung hätte fließen dürfen, hatte Treudchen nicht benutzt; sie hatte eine hochgebildete Freundin näher, vorzugsweise aber auch Nonnen und einen Geistlichen, die sich mit Vorliebe und langsamer Schulung ihrer Seele annahmen …

Aber Lucinde hatte darum doch alles erfahren, was Veilchen betraf. Sie wußte die Liebe derselben zu jenem Leo Perl, der Lucinden selbst von der Hasen-Jette als ein weiland Michel Angelo'scher Moses dargestellt[266] worden war; sie kannte den Antheil, den an dem Uebertritt desselben der Dechant und, wie sie aus den gegebenen Andeutungen nicht bezweifeln konnte, sogar der Kronsyndikus hatte; sie kannte ihre jetzige Thätigkeit in dem antiquarischen und carnevalistischen Geschäft ihres Verwandten, eines zweiten Bruders der Hasen-Jette, ihre Kenntniß von alten Münzen; sie wußte, daß sie es war, die jene Ahasverusscherze trieb mit römischen Kaisernasen, die in Gänsemägen den Rost der Jahrhunderte ansetzten. Endlich wußte sie, daß Klingsohr durch die Zutraulichkeit Veilchen's gewagt hatte, hier sein Ordenskleid abzulegen … Der Verräther des Mönchs war der von Angst und dem künstlichen Schein der Unbefangenheit nächtlich umgetriebene Jodocus Hammaker gewesen. Von Serlo's Kindern und ihrer Mutter hatte sie nur einmal einen Brief, die Bitte um Geld erhalten, dann nichts wieder von ihnen vernommen, weder Empfangsanzeige, noch, »wie sich von selbst verstand«, Dank …

Alle diese Eindrücke sammelnd und in sich zurecht legend, von der Erinnerung an den gestrigen Abend umschlungen wie mit glühend ehernen Armen, aufathmend nach Hülfe über die schon im Dom bei der Messe vernommene Kunde, daß Bonaventura morgen Abend reise, nach Witoborn reise, wohin die mögliche Rückkehr auch Klingsohr's ihre Pein vermehrte, voll Entschlossenheit, bis zum morgenden Tag es über ihr ganzes Leben zu einer letzten Entscheidung kommen zu lassen, bestieg sie einige Stufen, die in eine dunkle Hausflur führten, in welcher zur linken der Eingang in das heute feiernde Geschäft »Nathan Seligmann« lag.[267]

Trotz des Sabbats waren die Vorläden dreier Fenster, die in die dunkle Gasse führten, doch halb und halb geöffnet geblieben. An einigen alten Basen und Majolikaschüsseln, an einigen alten Kupferstichen, einigen Dominos und Masken sah man, daß sich hier das Geschäft Nathan Seligmann's befand, der sich auch anderweit als kein zu strenger Rigorist in der Feier des Sabbats zeigte; denn die Thür ging mit lautem Klingeln auf und am Spalt eines der angelehnten Fensterflügel stand ein der Hasen-Jette ziemlich ähnlich gebauter, starker und kräftiger Mann und putzte an einer Blechhaube die Rostflecken ab. Ringsumher lagen die Embleme eines vollständigen Ritters …

So dunkel es war, fand sich die entschlossen Eintretende bald in dem großen Zimmer, an das sich weitere mit Gegenständen aller Art überhäufte Alkoven und Gänge und Mauerschränke anschlossen, zurecht. Die ganze Herrlichkeit der mit ihrem Carneval gleich hinter Rom und Venedig kommenden Stadt war hier beisammen, soweit die Minderbegüterten sich erst leihweise das entnahmen, was die der Sphäre Moppes, Maus, de Jonge angehörenden Matadore sich selbst anfertigen ließen. Den Helm, den Nathan Seligmann eben putzte, hatte Weigenand Maus im letzten Carneval getragen; der Geschäftsgang brachte es mit sich, daß das einmal Gebrauchte um ein Billiges an die Juden ging.

Nathan Seligmann schien tief in Gedanken verloren und die Zeit selbst zum Gegenstande seiner Betrachtungen gemacht zu haben, denn ein Carneval fand in diesem Jahre nicht statt. Traurig hingen um ihn her die[268] Hanswürste, die Schellenkappen schienen seiner verdrießlichen Miene zu klingeln wie Sterbeglöcklein, das Lachen der Masken war so todt wie nach Klingsohr das stehen gebliebene Lachen in den Gesichtszügen der alten Voltairianer im Kapitel. Viel unfreundlicher und unwirscher war die Art des in einen des Sabbats wegen feinen blauen Oberrock gekleideten Mannes mit darübergezogenen grauen Schmutzärmeln, als die seines coulanten, weltkundigen und musikliebenden Bruders Löb, der sich zu seiner schon von Geburt weichen Seele eine so ästhetische und feinfühlende Bildung erworben hatte.

Der Sabbatbrecher blickte auf Lucinden, indem er ein klein wenig in seiner Arbeit innehielt. Das eine Auge schloß er blinzelnd, eine Geberde, die er an Geschäftstagen noch vervollständigte bis zu einem gänzlichen Bedecken seiner beiden Augen mit der Hand, um drüber wegfahrend durch eine offen gelassene Spalte zwischen den Fingern hindurch gleich sich zu orientiren, weß Geistes Kind ihn besuche, ob er viel oder wenig fordern, Echtes oder Unechtes vorlegen durfte …

Die Hoffnung, Lucinde würde auf Veilchen's Schreiben eingehen, hatte man wol schon aufgegeben. Doch war der Besuch eleganter Damen für Seligmann nichts Neues. Nur mit Lässigkeit fragte er nach dem Begehren …

Lucinde verlangte Fräulein Veilchen zu sprechen und noch ehe sie geendet hatte, wand sich im Hintergrunde eines dunkeln Ganges aus einem Gerüst von Schweizer- und Tirolertrachten, tressengestickten rothen Miedern und Hüten mit Spielhahnfedern und Gemsbärten eine Person[269] hervor, die sie an die alte Gardérobière von damals erinnerte, als sie die drei ersten Acte der Jungfrau von Orleans spielte und nach Serlo's Anweisung so sicher und fest die Worte glaubte sprechen zu können: »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!« Veilchen war nach Löb's Erklärung schön am Geist. Der Geist mußte allerdings ihren Körper verklären und gab auch den blauen Augen etwas durchsichtig Glänzendes. Sonst war die eine Schulter etwas höher als die andere und der Wuchs so zurückgeblieben, daß Lucinde, hier von Theatererinnerungen angeregt, fast an die jetzige Baronin, frühere Sängerin Henriette Montag in Kiel erinnert wurde.

Ich wußte doch, daß Sie kommen würden! sprach die kleine Gestalt mit weicher, klangvoller Stimme und verrieth, daß sie sogleich Lucinden erkannt hatte …

Nathan orientirte sich jetzt …

Statt aber seine Höflichkeit nachzuholen, schloß er nun auch noch das andere Auge. Durch eine ganz kleine Spalte blinzelte ein Strahl sehr gemachter Freundlichkeit hindurch. »Die Kinder sind wie die Brüder der Mutter!« sagen die Juden. David Lippschütz hatte nicht die freundliche Bonhommie seines Onkels Löb, eher die Miene wie Onkel Nathan. Seine Witze: »Ein Frédéric d'argent« und sein kritisches: »Warum sitzt Moses?« waren mit demselben mürrischen und blinzelnden Zusammendrücken der Augen gesprochen worden …

Um so freundlicher war das kleine Veilchen …

Als sie sich aus der Region der grünen Alpenwiesen[270] und der Sennerhütten herausgewunden hatte, deutete sie auf eine Thür, die Nathan bereits nicht ohne Beweise einer aus seiner prüfenden Miene sich entwickelnden ärgerlichen Stimmung geöffnet hatte, und ließ Lucinden näher treten …

Ein Gemach empfing sie, das ebenso ein Comptoir sein konnte, wie ein Vorrathsmagazin feinerer Verkaufsgegenstände und sogar ein Boudoir. Hell war es nicht. Eine schwarze hohe Brandmauer stand nicht fünf Fuß weit von den beiden Fenstern entfernt, die ohne Gardinen sein mußten, nur um etwas Licht hereinzulassen. Und doch stand da ein Schreibbureau, worauf Handlungsbücher, stand ein Tisch mit ausgebreiteten Kupferstichen und einer langen Verwickelung von Spitzen, die nicht etwa zu Veilchen's Handarbeiten gehörte – Handarbeiten existirten nicht für sie – sondern zu ihrer Kunst, Neues in Altes zu verwandeln. In einer Tasse mit Kaffeesatz endete die lange Spitzenverwickelung. Eine andere gebräunte Garnitur hing zum Trocknen an einem der beiden Fenster. Ja, auch die Kupferstiche schienen durch Kaffee gezogen. Ein Bücherschrank war voll alter Bücher …

Aber Sie sollten das Fräulein oben in unsere Stube führen! sagte Nathan mit erzwungener Artigkeit und dem Bewußtsein oben ersichtlichen sabbatlichen Comforts …

Veilchen räumte schon einen Sessel ab und fiel ein:

Hab' ich eben auch gedacht! Aber für Sie ist heute kein Sonntag! Wenn Sie es nicht verschmähen –

Lucinde saß nicht nur schon, sondern war auch schon[271] in voller Erörterung der Angelegenheit, die sie hergeführt hatte. Gemüthliches Auszupfen einer neuen Bekanntschaft fehlte ihr zu jeder Zeit und vollends in der Stimmung, in der sie kam … Bonaventura reiste – Nicht ein Schloß, die Welt in Brand zu stecken – dazu hatte ihr Nück gestern den Muth gegeben …

Auf einen Wink Veilchen's entfernte sich Nathan und legte die Thür an, ohne sie ganz zu schließen. Dieser Besuch war für ihn aufregend, für Veilchen schien der Eindruck Lucindens erschreckend zu sein …

Inzwischen hatten sich Lucindens Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Sie erkannte, daß die kleine Jüdin zwar regelmäßige, fast plastische Gesichtsformen hatte, doch schon über die Fünfzig zählen mußte, so dunkel auch noch ihr Haar glänzte, das nach Löb's Vergleiche der Seide glich. Die zwei langen Locken, die ihr fast über die Augen weg herabhingen und die Nase in gewaltiger Schärfe hervortreten ließen und ihr das Ansehen eines talmudischen Gelehrten, eines Bocher, gaben, hatten eher etwas Starres, gerade so wie die Haare Lucindens in ihrer ersten Jugend waren, als sie ihren schönsten Schmuck nur noch mit Wasser aus den Bächen von Langen-Nauenheim pflegte …

Auch ein höchst anmuthiges und fast mädchenhaftes Lächeln hatte Veilchen um ihren schöngeformten Mund. Wohlwollend nickte sie zu allem, was Lucinde mit Ernst und großer Kälte sprach. Dabei hielt sie ruhig die Hände in ihrem Schoose und hatte eine Miene der Spannung und Angst, die schon verrieth, daß sie von Lucinden keinesweges Gütiges und Wohlwollendes für ihren alten[272] Freund voraussetzte. Darüber, daß der Mönch eine frühere Liebe der stolzen jungen Dame gewesen, die da vor ihr saß, konnte bei ihr kein Zweifel sein. Bei der Erörterung über das aus des Mönches Kutte gefallene alte gestickte Portefeuille war die Ursache der Metamorphose, die er sich hatte zu Schulden kommen lassen, nicht verschwiegen geblieben …

Mit der ihr eigenen kurzen und schneidenden Bestimmtheit fragte Lucinde:

Woher wissen Sie denn, daß ich eine Verpflichtung habe, für den Pater zu sorgen?

Zu sorgen, mein Fräulein? sagte Veilchen lächelnd und verbindlich. Hab' ich geschrieben: zu sorgen? Ich habe gebeten um einen Beweis menschenfreundlicher Gesinnung! Und die Frau vom vierten Stock im Goldenen Lamm hat mir's ja auch gesagt, Sie könnten ein Engel sein!

Nicht Lächeln weckte dies: »Könnten« in Lucindens Mienen, sondern düsterer senkten sich ihre Augenbrauen und jede ihre Mienen verrieth, daß diese Erinnerung an ihr früheres Leben ihr peinlich war und das Geschäft, das sie hierher geführt, rasch vorübergehen mußte …

Hat der Pater mich selbst bezeichnet als die, die ihm helfen könnte? fragte sie …

Daß Gott verhüte …

Ist seine Haft so streng?

Ein Mensch kann die Luft entbehren, wie ich selbst sie entbehre! Wie Sie mich da sehen, Fräulein, hab' ich seitdem, daß ich unsern neuen Tempel kennen lernen wollte, nicht die Rumpelgasse verlassen. Aber der Pater[273] liegt in Ketten und Banden seines Geistes! Krank ist er am Körper wie an der Seele! Er muß zu Menschen, die ihn lieben! Einer war anfangs hier, dem er gern geschrieben hätte, ja erst sogar hätte beichten mögen; dann ließ er es, weil er erfuhr –

Veilchen stockte und blickte halb zur Seite, halb prüfte sie Lucinden, die hocherröthend sie sehr wohl verstand …

Anfangs? zuckte es in ihr glücklich auf. Denn daß nur Bonaventura gemeint war, sah sie an dem Blick der Jüdin. Also anfangs nur? grübelte sie. Keine spätere Beziehung? Und erfuhr –? Was erfuhr? Daß ich Bonaventura liebe?

Wer ist dieser Eine? fragte sie kurzweg …

Der neue Domherr von Asselyn! bestätigte die Jüdin …

Lucinde schwieg eine Weile hocherglüht … Dann fuhr sie, wie bestätigend, fort:

Ich sah den Pater mit dem damaligen Pfarrer von St.-Wolfgang öfters zusammen gehen …

Lucinde wollte mit diesen Worten sagen: Haben sie sich damals beide verständigt, wie ein grausamer Zufall mich zwischen beide gestellt hat? Oder hat man Klingsohrn von anderer Seite zugetragen, was auch schon Nück über mich wußte? Sind die Umstände, die mit deiner schimpflichen Entfernung aus der Dechanei zusammenhängen, schon hierher unter dies armselige Dach gedrungen und von hier aus vielleicht auch Klingsohrn bekannt geworden?

Die Jüdin vermied, das, wie sie wohl sah, außerordentlich[274] reizbare junge Mädchen zu verletzen, zog sich klug in ihre Bescheidenheit zurück und sagte ausweichend:

Es gibt Menschen, die sich vermeiden, gerade deshalb, weil sie sich lieben!

Wie? wallte es in Lucinden über dies dunkle Wort auf; weiß auch sie schon, daß meine Liebe zu Bonaventura eine unglückliche ist?

Sie sagte:

Der Pater und der Domherr meinen Sie? …

Oder, fuhr scheinbar nichtachtend Veilchen fort, weil die Wahrheit, die einzugestehen dem einen eine große Seligkeit wäre, dem andern Schmerzen bereiten könnte …

Lucindens Auge leuchtete immer forschender auf … In ihrem Blicke lag: Will sie denn sagen, daß Klingsohr Bonaventura deshalb nicht sehen und durch Mittheilungen kränken will, weil er glaubt, Bonaventura liebe mich? …

Die Jüdin fand sich in den Eindruck ihrer doppelsinnigen Reden und fuhr fort:

Es gibt doch Menschen, die täglich mit Wärme von der Liebe sprechen können, und sie selbst sind kalt –?

Lucinde horchte ungewiß …

Sie fühlen wol die Liebe – denn die Liebe ist unabweisbar – aber sie haben nicht den Muth, sie – sie zu genießen –

Zu bekennen! verbesserte Lucinde und suchte endlich aus diesen Andeutungen Klarheit zu gewinnen.

Meinen Sie? sagte Veilchen. Die Liebe ist doch ein Genuß – ein Egoismus, ein schöner Egoismus!

Die Liebe ist Selbstentäußerung …[275]

Die Religion lehrt das, aber die Philosophie sagt: Die Liebe ist das Bedürfniß, sich von seiner eigenen Person erlöst zu wissen und die Wonne zu genießen, daß wir darum doch in einer andern Bestand haben! Ein Priester kämpft gegen diese unendliche Freude, die in der Liebe liegt, durch seinen Beruf an und – noch mehr! Wenn die Liebe die grausamste Eitelkeit genannt werden muß, weil der Mensch verlangt, daß ein anderer gleichsam statt seiner lebt und mit für sein Leben die Kosten bezahlt – die Kosten, die manchmal über des andern Beutel gehen – so kommt es, daß die weichsten Menschen kalt erscheinen, blos weil sie – bescheiden sind –! Bescheiden! Fräulein! Sie wollen den andern nicht in Unkosten versetzen …

Die Jüdin lächelte, Lucinde nicht …

Sie erklärte sich nach dieser eigenthümlichen Dialektik Bonaventura's Kälte aus dessen edlerer Natur, die sich bekämpfe und sich ein Glück versage, das ihm doch, wie sehr ihn auch Paula fesselte, in der Huldigung liegen durfte, die er von Lucinden nun schon seit Jahren erfuhr … Er muß dich endlich lieben und wär' es aus Mitleid! war ihre Lebenshoffnung …

Inzwischen hatte es draußen geklingelt. Nathan steckte seine zusammengekniffenen Augen, die wieder Freundlichkeit ausdrücken sollten, durch die Thürspalte …

Excuse! sagte er mit einer Andeutung seines Weltschliffs und überreichte Veilchen einige Blätter Papier mit den Worten:

Eben kommt das von – – Es hat Eile! Der Druckerbursche wartet![276]

Der Druckerbursche? sagte sich Lucinde und gedachte des Abends bei Beda Hunnius …

In der That war es auch sogar eine Nummer des Kirchenboten. Diesmal aber nicht die Censur, sondern die Correctur, wie Veilchen sogleich erläuterte, während sie in dem Blatte las und nach einigem Besinnen leise buchstabirte …

Ist das eine Zeichensprache? fragte Lucinde …

»Ich – bin – elend –!« buchstabirte Veilchen …

Wer schreibt das?

»Ich bin elend! Hül – fe! Zu – Hu – bertus! Zu Hubertus!« … Weiter nichts heute! sagte sie, schlug das feuchte, von dabei gezeichneten Correcturen begleitete Blatt zusammen und gab es dem lauschenden Seligmann, der es verdrießlich entgegennahm … Veilchen drückte jetzt selbst die Thür zu …

Zu Hubertus? Lucinde verstand, was sie befürchtete. Aber wenn sie auch sagte: Schreibt das der Mönch in Druckfehlern? so lag in dem Scherz ihre Ungeduld …

Veilchen erklärte, daß Sebastus infolge seiner maßlosen Polemik und seines Zusammenhangs mit dem aufrührerischen Treiben des Tags von der Regierung verhindert wurde, mit Irgendjemand zu correspondiren, außer durch die Hände des Untersuchungsrichters. Nur eine in den Schranken sich haltende literarische Thätigkeit war ihm verstattet geblieben. Die Manuscripte mußten im Geschriebenen censirt werden. So konnten nur die Correcturen zu Hülfe genommen werden, um den Pater mit der Außenwelt in Verbindung zu erhalten. Mit Veilchen zu correspondiren, war ihm Bedürfniß[277] geworden nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen. Sie gab an, daß nicht etwa in den Correcturen zur Seite (mit Druckfehlern ist nicht zu spaßen! schaltete sie auf Lucindens scheinbaren Scherz ein. Ein Arzt hat einmal einem Patienten, der sich gewöhnte, sich aus populären Heilbüchern selbst Recepte zu verschreiben, gesagt: »Sie sterben noch einmal an einem Druckfehler!«), sondern im Text eine Verständigung dadurch ermöglicht wurde, daß beide die Buchstaben, die zu ihren Mittheilungen gehörten, mit einem kleinen, fast unsichtbaren Pünktchen bezeichneten. Die Zusammenstellung derselben ergab einen Sinn. So jetzt diesen Hülferuf, der Lucinden von ihrem Sessel aufgetrieben hatte und sie fragen ließ:

Sollte es denn so schwierig sein, ihn aus dieser Haft zu befreien?

Doch!

Man könnte den Wächter bestechen –

Unmöglich!

In irgendeiner Verkleidung sollte er das Profeßhaus verlassen … Einen Wagen würden Sie ja besorgen können …

Ich? Bitte, Fräulein! Sie haben die Verdrießlichkeit des Herrn Seligmann bemerkt?

Ich finde, daß Herr Seligmann nur sehr neugierig ist! sagte Lucinde, sich umblickend …

Denn eben ging die Thür und wie gleichsam von selbst wieder auf …

Es ist seine Angst, sagte Veilchen, daß wir uns wieder in Dinge einlassen, die uns die größte Verantwortung zuziehen können![278]

Und doch wagten Sie das Verleihen eines bürgerlichen Kleides an einen Mönch?

Wohin kommt man nicht, wenn man von der verkehrten Welt – sein Geschäft hat! Oben hängt das ganze Mittelalter, Fräulein! Die Angst, die wir mit der zurückgebliebenen braunen Kutte gehabt haben, möcht' ich nicht zum zweiten male erleben!

Lucindens Sinnen ließ Veilchen Zeit, zu erzählen:

Als der Pater damals ein bürgerliches Kleid von uns geliehen, blieb ich bis spät in die Nacht hinein auf. Der Pater kommt endlich zurück und verlangt nach seinem Gewande. Er langt darnach, greift in die Taschen und vermißt ein Portefeuille. Denken Sie sich meine Bestürzung! Ein Franciscaner ist ein Bettler, seine Brieftasche konnte keine Schätze enthalten, auch war der Verdacht unserer Unehrlichkeit nicht vorhanden – der Pater traute mir, lieber Gott, seitdem ich meine Verschwiegenheit mit einem Scherze beschworen hatte, bei dem Gotte Spinoza's! ein Wort, das man freilich zu manchem Mönche sagen kann und er versteht's nicht. Also – in der Brieftasche lag nichts, als ein einziger Streifen Tuch, den er eine ewige Belastung seiner Seele nannte und den er besitzen müsse, wie Magdalena den täglichen Anblick ihres sündigen Antlitzes in einem Spiegel, sagte er, oder in einem Bache oder in dem Wasser, in dem sie sich wusch, oder in den Augen der Menschen, die sie verachtend ansähen. Alles boten wir auf, die Tasche zu finden. Vergebens! Die Zeit drängte. Der Pater mußte sich entfernen. Er erklärte am folgenden Morgen wiederkommen zu wollen. Inzwischen muß ich länger[279] schlafen, als gewöhnlich, da ich die Nachtruhe versäumt hatte, und am folgenden Morgen ist zufällig der Bruder des Herrn Nathan im Geschäft und muß sogar am Fußboden drinnen die Tasche finden. Die beiden Brüder untersuchen sie und entdecken nichts als einen Streifen Tuch. Herr Nathan hatte die Nacht nicht gewacht, wie ich, wußte nichts von dem Verlust; und wie die Männer in allen Dingen schwächer sind als wir, denkt er, seinem Bruder könnte er schon ein Geheimniß verrathen und erzählt ihm den Vorfall mit dem Mönch und will ihn dann erst schwören lassen, als er's schon verrathen hat. Inzwischen hat der Bruder längst den Gedanken gehabt, daß gerade ein Streifen Tuch einem Mann an seinem Ehrenkleide fehlte, einem gewissen Küfer Stephan Lengenich. Und wie er nun erst gar den Mönch nennen hört, braust er auf, er, der sonst so milde, grundgütige Mann, rennt davon wie ein schnaubendes Thier und ruft: Hilf deinem Nächsten, soviel du kannst! Der wüthende Mensch hatte seinen Vortheil und eine Befriedigung für seinen Hochmuth und eine Befriedigung für seine Rache. Der Mönch hatte ihm eine Beleidigung zugefügt. Eben aber auch darum kommt er schon wieder zurück, schon wieder in sich gegangen, und bringt den Küfer mit. Aber der kommt gar erst mit Augen wie ein Pardelthier! Die Tasche hatte ihm der Löb noch nicht gegeben, aber er haschte danach, wie ein Fisch nach dem Wurm! Jetzt meine Angst um diese wüthenden Menschen! Der Küfer war einmal angeschuldigt worden, den Vater des Mönchs ermordet zu haben; Gott im Himmel! Dieser Streifen Tuch war von dem[280] Kleide des Mannes abgerissen gewesen, der es gethan haben muß. Und wie sie den Namen nannten und ich wieder fragte und noch einmal fragte: Der! Eben der! da – da vergingen mir doch die Sinne –

Noch jetzt sank Veilchen in ihren Sessel zurück und zitterte …

Aber auch Nathan kam hereingestürmt und rief zornig mit polternden Worten:

Sie wollen sich wieder krank machen!

Veilchen schüttelte, seine Sorge ablehnend, den Kopf …

Noch ein Glück, daß ich in Ohnmacht fiel, sagte sie; die Männer erschraken darüber und legten ihre Wildheit ab …

Nathan rumorte im Zimmer …

Lucinde stand wie vor einem Vorhang, den eine geisterhafte Hand von ihrem eigenen Leben zurückzog … Die Brieftasche des Abschieds einst in Lüneburg! … Stephan Lengenich, dem sie selbst einst scherzend die Worte gesprochen im Düsternbrook: »Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen vom neuen Tuche –!« … Auch das wußte sie von Treudchen, daß eben diese Jüdin durch den Dechanten und den Kronsyndikus um Leo Perl, die Hoffnung ihres Lebens, gekommen war …

Sie sagte:

Eher hätten Sie sich ja selbst dem Küfer verbünden müssen! Denn auch Sie, hör' ich, gehören zu den Vielen, die den Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof vor Gott anklagen dürfen!

Veilchen blickte auf und ihr leidender Blick winkte Nathan zu gehen …[281]

Nathan that es, aber mit dem misgünstigsten Seitenblick auf einen Besuch, der soviel traurige Erinnerungen weckte …

Ich höre, fuhr Lucinde fort, daß Sie die Hoffnung Ihres Lebens, die Liebe des Doctor Leo Perl verloren haben, weil er aus räthselhaften Ursachen Christ wurde!

Christ? – Priester! berichtigte Veilchen …

Lucindens Zucken verrieth die gleiche Empfindung.

Und warum ward er es? Warum gab er Sie auf? fügte sie hinzu …

Veilchen, bereits gesammelter, steckte sich ihre beiden Locken an zwei Haarnadeln zurück, die sie eine Weile im Munde behielt. Schon um deswillen mußte sie schweigen …

Drangen Sie denn nie in dieses seltsame Geheimniß?

Veilchen schüttelte den Kopf …

Auch jede Ahnung fehlt Ihnen? Seltsam! Ich habe in der Nähe des Kronsyndikus gelebt! Ich kenne einen Neffen des Dechanten, den jungen Benno von Asselyn … Man könnte vielleicht forschen … War Leo Perl von der Wahrheit des Christenthums überzeugt?

Veilchen zuckte die Achseln und befestigte ihre Locken …

Er hat den Domherrn von Asselyn getauft, fuhr Lucinde fort … Auch eine hier jetzt lebende Frau von Hülleshoven getraut, hör' ich … Einen strengen, exemplarischen Lebenswandel soll er geführt haben …

Ich hört' es … sprach jetzt Veilchen …

Nie wieder hatten Sie eine Beziehung zu ihm –?

Seine letzten Bücher waren in Kocher am Fall geblieben.[282] Als man sie ihm ins Seminar nachschicken wollte, ließ er sie an mich übergeben … Da stehen sie! Sie sind – das Letzte …

Für Lucinden konnte zunächst in dieser Mittheilung nur die Anerkennung der gewaltigen Kraft liegen, die das Christenthum auf die Ueberzeugung eines geistvollen Mannes hatte, der ihr eine Liebe opfern konnte …

Und diese Beziehung der Freude des Küfers zur Trauer Ihrer eigenen Erinnerungen – was brachte sie zu Wege? fragte sie …

Zunächst die Besinnung meines Verwandten, des Herrn Löb Seligmann. Der Mann hat Gefühl! Er erinnerte sich meines Lebens und wurde mein Beistand! Die Rache gab er auf!

Welche Rache?

Ich sagt' es nicht? Er war von dem Mönche am Tage vorher beleidigt worden. Der Pater ist voll Heftigkeit und vor den Narben in seinem Antlitz kann man erschrecken! Herr Löb Seligmann beschwichtigte den Küfer und ich gewann wieder meine Kraft. In Güte hab' ich mit ihm mancherlei besprochen und er ließ mir die Tasche und er versprach zu schweigen …

Das können Sie nur durch eine flammende Beredsamkeit erreicht haben! sagte Lucinde und gedachte der schauervollen Tage auf Schloß Neuhof, der Lisabeth, ihres eigenen Verhörs, ihres Schwurs … Den Küfer kenn' ich und die That auch, um die es sich handelt … Was sagten Sie ihm, das ihn so entwaffnen konnte?

Wieder kam jetzt Nathan herein und machte sich schaffen, um die aufregende Unterhaltung zu stören …[283]

Veilchen wurde nun selbst über ihn verdrießlich …

Mir scheint, Herr Seligmann, sagte sie, Sie suchen den gestrigen Tag!

Ich suche das nächste Jahr! fuhr Seligmann zornig auf. Wo werden Sie sein, wenn Sie nicht aufhören, Ihre Nerven – zu malträtiren!

Meine Nerven sind mein! sagte Veilchen hinter dem Zornigen her; mit irgendeinem Gegenstand, den er scheinbar gesucht hatte, war er wieder gegangen … Ja, Fräulein! fuhr sie zu Lucinden gewandt fort: Ich sprach, was ich eben sprechen konnte. Die Leidenschaften kenn' ich und ich schilderte die Rache. Ich sagte, daß alles gut im Menschen ist, was ihm zum Bedürfniß wird seiner Selbsterhaltung, falls seine Selbsterhaltung die andern nicht kränkt und die Erkenntniß Gottes befördert. Ich sagte: Großmuth und Edelsinn sind die einzige Waffe gegen die Leidenschaften! Ich bewies dem Mann, daß es sich um die Ehre eines Geistlichen handelt! Ich schilderte ihm die Leiden eines Priesters und einer ewigen Entsagung! Ich sah, daß der grimmige Mann ein Ohr für meine Rede hatte, und da gab ich ihm die Hand und sprach: Auch mein Feind war der Mann, der in wilder Blindheit eine grausame That gethan hat, die sich Gott wie seine andern Thaten wird gemerkt haben! Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, der Mann wäre ein Greis jetzt, voll Kummer, und verschwendete an die Armen und die Priester, daß sie ihm haben seinen eigenen Sohn zum Wächter setzen müssen! Dann sagt' ich ihm, daß ich dem Pater einen Schwur gethan, der mehr als meine Ehre, der die Ehre Gottes selber wäre![284]

Bei dem Gotte Spinoza's? warf Lucinde ungläubig lächelnd ein. Wer ist dieser Gott? fuhr sie fort, den Kopf aufstützend … Den Hut hatte sie gar nicht abgenommen …

Das kann ich nicht sagen! erwiderte Veilchen. Aber jedenfalls ist es auch Ihr Gott! Es ist der Gott des Mannes, den ich liebte! Es ist der Gott, der in nächtlichen Stunden aus den Sternen zu uns sprach, wenn wir im schönen Garten der Dechanei Arm in Arm spazieren gingen – damals bewohnte sie der Herr Dechant von Asselyn noch nicht –! Es ist der Gott, in dem die Seele des Geliebten sich damals mit der meinigen vereinte! …

Und dennoch verließ Leo Perl diesen Gott? fragte Lucinde …

Nathan öffnete wieder die Thür und wisperte:

Warum möcht' ich doch, daß der Kirchenfürst heute begnadigt würde und den Schwarzen Adlerorden noch dazu kriegte mit Brillanten?

Nun? fragte Veilchen und machte eine Miene der Spannung auf einen »Witz« – trotz ihrer feuchtschimmernden Augen …

Weil uns dann die »Gecken« hier keine Zeit lassen würden zum – Schwätzen; bitte um Vergebung, mein Fräulein!

Sie sehen, mein Fräulein, sagte Veilchen aus ihren Thränen heraus, als die Thür rasch geschlossen wurde, er ist unglücklich über den abgesagten Carneval und fürchtet, daß er neben seinem Geld auch noch den Kopf verliert, falls wir uns wieder mit der Kirche einlassen ohne Kanonen. Verlangen Sie also von uns nichts mehr! Der Küfer sitzt im Gefängniß und hat sich vor der Regierung compromittirt …[285] Der Pater kam damals zurück und bekam seine Tasche und ich hab' ihm erzählt, was damit vorgefallen. Wenn der Kronsyndikus todt ist, dann will er dem Küfer dienlich sein. Ich weiß nicht, was ihm muß sein Vater aus dem Grabe für wunderliche Sachen zugerufen haben … Nun ist das schon vier Monate her … Der Mönch kam noch einige male, wurde aber verrathen und seitdem ist er ganz gefangen und daß ich mit ihm durch die »Stufenbriefe vom Kalvarienberge des Lebens« correspondire, ist jetzt alles, was wir noch wagen können. Aber Herr Nück! Herr Nück! Der ist allmächtig! Sprechen Sie ja mit Herrn Nück! Der Pater ist krank, Sie hörten es! Er sehnt sich nach seiner Heimat zurück, manchmal zu einem Mönche, den er Vater Ivo nennt, manchmal zu einem andern, Bruder Hubertus … Nun Sie sahen es ja vorhin … Was soll ich ihm schreiben, mein Fräulein?

Lucinde stand träumend und blickte finster und voll Mismuth …

Wie denn schreiben Sie ihm? fragte sie …

Durch die nächste Correctur! Mit Pünktchen …

Lucinde vergegenwärtigte sich die Worte, die Nück zu ihr gesprochen: Ueberreden Sie ihn, nach Belgien zu gehen! Sie mochte von Klingsohrn nicht länger ihre Bahnen durchkreuzt sehen und um sich zu dem kalten Entschlusse, ihn für immer aus ihrem Leben zu verweisen, zu ermuthigen, sagte sie sich sogar, daß die geistige Verkommenheit desselben jeden erschüttern dürfte, der seinen Geist, seine Kenntnisse, seine Kraft als besser verwendbar zu schätzen wüßte …[286]

Die Jüdin stand erwartungsvoll und wie bittend …

Sie wären nicht geneigt, die Zelle des Paters zu besuchen? fragte Lucinde.

Mein Fräulein! lehnte erschreckend Veilchen ab …

Herr Seligmann nicht –?

Dieser antwortete selbst durch ein heftiges Rumoren nebenan …

Lucinde wußte, daß es sich hier um eine geistige Aufrichtung Klingsohr's handelte, die kaum anders, als von ihr selbst kommen konnte … Sie bedachte einen Brief, den sie etwa schreiben könnte …

Die Augen der kleinen Jüdin leuchteten hoffnungsvoll … Eine Pause trat ein …

Aus vielen Gründen, sagte dann Lucinde, nachdem Veilchen als die einzigen Personen, die man allenfalls zu dem Pater ließe, den Arzt, Medicinalrath Goldfinger, oder einen Geistlichen oder vielleicht den Druckerburschen genannt und hinzugefügt hatte, daß der Wächter des Hauses auch bei diesem vielleicht nicht in der Zelle zugegen bleiben würde – aus vielen Gründen wünscht' ich, daß der Pater aus seiner Lethargie erwache …

Das ist herrlich! rief Veilchen …

Ich wünschte, fuhr Lucinde grübelnd fort, daß er seine Muthlosigkeit aufgäbe, daß er sich für seinen nun einmal gewählten Beruf erkräftigte …

Ja! Ja! …

Ich würde ihm rathen, mit allem, was ihn hier bedrängt und ihn auch künftig in Fesseln halten wird, lieber für immer zu brechen und vielleicht – ins Ausland zu fliehen …[287]

Stellen Sie ihm alles das vor …

Ich? Wie kann das ich? …

Sie meinen – um die Vergangenheit –

Das hinderte nicht …

Schreiben Sie es ihm … Ich schicke sogleich in die Druckerei … Der Bursche ist ein guter Junge – und pfiffig … Haha! Kaplan Michahelles hatte den auch in eine Druckerei gegeben … Hernach soll er nach Belgien und Jesuit werden …

Jesuit? Ist Ihnen das ein so gleichgültiges Wort, daß Sie lachen?

Hab' ich die Welt zu verbessern?

Ihre Duldsamkeit scheint größer, als Ihr Wahrheitseifer!

Was ist Wahrheit?

Mindestens ist die Wahrheit das Gute!

Was ist Gut?

Suchen Sie nicht, was wahr, gut und gerecht ist?

Was ist Recht?

Sie anerkennen nicht Recht oder Unrecht?

Recht geht so weit wie Gewalt!

Wie einmal das Leben ist! Aber –

Im Himmel auch! Gott ist nicht weiter allgerecht, als er allmächtig ist!

Lucinde mußte lachen über dies Wortspielen …

Was ist Ihnen die Tugend? fragte sie, jetzt sogar zutraulicher geworden …

Ah! Die Tugend ist mir viel! Die Tugend ist die Erkenntniß Gottes!

Sie kehren, seh' ich, alles um, was wir Christen[288] glauben! Haben Sie vielleicht auch keine Freiheit des Willens?

Wenn Sie hungert, müssen Sie essen! … Richtig, Sie wählen die Speisen! Aber – Sie wählen Speisen, die Ihr Appetit Ihnen vorschreibt!

Jetzt begreif' ich, sagte Lucinde lachend, wie Sie über sich bringen, falsche Medaillen in die Welt zu setzen und die Spitzen da in Kaffee zu tränken, nur damit man glauben könnte, Maria von Medicis hätte sie schon getragen … Hören Sie! Ich nenne das Betrug!

Ein hartes Wort! sagte Veilchen erschreckend. Dann aber setzte sie mit einem gewissen elegischen Tone hinzu: Mein Fräulein, was ist die Kunst? Ein falscher Schein! Was ist das ganze Leben? Eine Mummerei! Wer dreißig Jahre in solchen Possen lebt, wie ich hier unter den bunten Röcken, nimmt die Possen der Erde für ihren Ernst! Ich kehre alles um! sagen Sie? Ganz recht! Sie lieben! So sagen Sie? Ich sage: Sie glauben, daß Sie geliebt werden …

Keine glückliche Lebensauffassung! seufzte Lucinde. Ihr Spinoza, glaub' ich, war krank …

Das war er …

Er entsagte und entbehrte …

Zu sehr …

Er schuf sich eine Philosophie für die, die nichts mehr wollen und nichts mehr wünschen …

Er liebte die Freiheit …

Eroberte sie sich aber nicht …

Wer die Erkenntniß hat, hat alles …[289]

Das bestreit' ich! Sehen Sie, da gebe ich einen einzigen reellen Genuß für alle Schatten der Erkenntniß!

Geschmackssache! …

Auch Wahrheitssache! Eine einzige Reliquie, die ein Gläubiger küßt, ist, wenn man einmal Religion haben will, mehr werth als Ihr Gott, der wahrscheinlich die ganze Welt sein wird oder die Natur?

Der Mönch sagte dasselbe … Ich lass' es ihm … wer Religion braucht …

Fräulein! Fräulein! Ich wünschte – die Spitzen da nicht in dem Kaffee zu sehen!

Veilchen zog ihre Haarnadeln aus, ließ ihre Locken fallen, stützte das Haupt auf und sagte träumerisch:

Spinoza sagt einmal: »Einen Mann hört' ich mir neulich zurufen: ›Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen!‹ Der Mann versprach sich nur. Er wußt' es nicht. Wozu sollt' ich ihn erinnern, daß er sagen wollte: Sie meinen, Ihr Huhn ist in den Hof geflogen! Er irrte sich, aber ich verstand ihn ja.« So rufen uns alle Religionen zu: Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen! … Machen die Religionen gute Menschen, wozu diese Sprachfehler corrigiren? … Ebenso gibt es ganz vernünftige Menschen, die keine antiken Spitzen, wie die da, die Elle zu einem Viertel-Brabanter-Thaler nehmen! Sie wissen vollkommen, was echte Spitzen, die noch Maria von Medicis getragen hat, für einen Werth haben! Lassen Sie uns getrost die falsche Grammatik der Erde sprechen. Wenn hier in der Stadt die Herren von der Regierung und die alten Offiziere sagen: Gott straf mir! so wissen wir alle, sie meinen: Gott straf[290] mich! Gott und was und wen wird wol einst die Ewigkeit strafen!

Die Welt will Wunder – und Ahasverus macht sie ihr! resumirte Lucinde …

Sagte der Franciscaner auch!

Ihr rächt euch an der Welt, die euch verstieß! Ihr macht sie verkehrt, lacht dazu und laßt sie laufen …

Sagte der Franciscaner auch! … Je nun, mein Fräulein, Sie haben vielleicht Recht! Ich gebe mich nicht für vollkommen aus. Glauben Sie mir, wenn man die Welt nicht lieben kann und nicht hassen mag, da ist es am besten – man führt dem Nathan Seligmann sein Geschäft, wie ein armes Mädchen, das verlassen und kränklich in der Welt stand und nichts zu erwerben wußte, vor dreißig Jahren es vorgefunden … Ja, ja, Sie haben vielleicht Recht, der Franciscaner sagte auch, in dem einzigen kleinen grünen Streifen Tuch – da läge der ganze Unterschied zwischen seinem Gott und dem Gott Spinoza's!

Lucinde grübelte über dies Wort und hätte darüber vielleicht noch gestritten. Aber Nathan unterbrach aufs neue die Unterhaltung der beiden im Denken, nicht im Fühlen verwandten Frauen und bewies somit vollständig, daß die Philosophie des klugen, aber willensschwachen Mädchens seit dreißig Jahren vorzugsweise von seiner Tyrannei bedingt wurde. Seinen Helm und seinen Panzer warf er, als wenn sie von Eisen wären und keine Beulen bekommen könnten. Seine bunten Geckenkleider und Tirolerhüte trug er hin und her, nur um damit seinen Wunsch auszudrücken, daß Veilchen zu dem Ziele käme, die ganze Beziehung seines Geschäfts zu[291] Staat und Kirche ein für allemal abzubrechen und die Sorge für den Mönch in Lucindens Hände zu legen …

Lucinde betrachtete schon lange nachdenklich die bunte Herrlichkeit um sich her und sagte:

Wenn ich wüßte, wie ich selbst den Pater sprechen könnte –

O, das wäre das Beste, Fräulein! O erbarmen Sie sich seiner! Lassen Sie ihn noch einmal Ihre schöne Hand küssen! Ja, Sie, Sie können ihn erheben, Sie können ihm neue Kraft verleihen …

Für sein ganzes Leben – möcht' ich ihm – einen Rath geben –

Man wird Sie nicht zulassen! … O das ist traurig!

Ziehen Sie diesen Rock an! sagte Seligmann, sich wieder vorwitzig einmischend und hielt ihr eine braune Mönchskutte entgegen …

Aber Herr Seligmann! rief Veilchen vorwurfsvoll …

Der Störenfried entfernte sich …

Er hat nicht Unrecht –! entgegnete Lucinde …

Veilchen blickte mit Staunen …

Hat jener Druckerbursche wol – meine Gestalt?

Himmel! triumphirte Veilchen und schlug die Hände zusammen und freudestrahlend begreifend blickten ihre Augen und die Stimme dämpfend sprach sie:

Eine ganz neue blaue Blouse hab' ich – Eine kostbare schwarze Sammetmütze mit einem Schirm – im Abenddunkel – Da könnten Sie – wahrhaftig –!

Der Wächter des Hauses würde mich begleiten …

Lucinde wich nur einer allzu hastigen Zustimmung aus …[292]

Nein! Oder schützen Sie Eile – die Censur vor – die Censur! Diesmal soll die Abscheuliche segensreiche Früchte tragen!

In Lucindens Innern sagten tausend Stimmen: Aber würdest du entdeckt! Aber käme auch diese neue Demüthigung auf dein großes Schuldbuch! … Ebenso viel andere Stimmen sprachen: Ist es nicht ohnehin dein Letztes! Der morgende Tag muß für dich – für Paula – für Nück – für alles, alles auf ewig entscheiden! …

Die Jüdin flüsterte fort und fort, malte die Gefahrlosigkeit des Unternehmens, beschrieb den Eingang des alten Profeßhauses, die Lage der Zelle des Mönches, alles, was sie von dem jungen Burschen wußte, der Jesuit werden sollte, wie Tönneschen Hilgers auf Lindenwerth – die Väter der Gesellschaft Jesu sind in ihren Collegien ihre eigenen Handwerker und eine von einem Laienbruder dirigirte eigene Buchdruckerpresse zu besitzen muß für sie überall eine große Annehmlichkeit sein – Sie versprach, Lucinden umzukleiden … sie zu begleiten bis an die Pforte … sie draußen wieder zu erwarten …

Lucinde hörte und hörte und stand im Kampf der Entscheidung über – ihr ganzes Dasein …

Die Jüdin betheuerte ihre Verschwiegenheit, versprach, Herrn Nathan in nichts einzuweihen … Sabbat war es; sie würde von Nathan verlangen, daß er den Abend zum Nachtgebet in den Tempel ginge und der »gemüthlichen Börse« beiwohnte, die sich nach demselben in der Vorhalle zu versammeln pflegte … Während sie so fortflüsterte, drängte sich in die verworrene Musik im[293] Innern Lucindens ein einziger melodischer Accord, der zuletzt die Oberhand behielt. Diese sanfte Harmonie, die sie zuletzt sogar wie mit Opferfreudigkeit erfüllte, entwickelte sich aus verworrenen Anfängen und sprach nach und nach: Du hoffst noch einmal auf deinen unglücklichen Genius! Läßt er auch dies Werk scheitern, dann – dann gibt dir vielleicht dein religiöser Ruf die Rechtfertigung, daß du eine That vollbringen wolltest, die einem Streiter der Kirche zu Hülfe kommen sollte oder –! Nein, nein, in hoc signo – sie sprach sich's lateinisch – in diesem Zeichen wirst du siegen, selbst unterliegend! Gelingt aber die Flucht, auch dann verlangst du von Bonaventura morgen die Beichte, die erste und – vielleicht die letzte! Auch das mag er hören, entschuldigen – verurtheilen! … In einem Briefe hatte sie schon in erster Morgenfrühe Bonaventura vor seiner Reise noch um eine Generalbeichte gebeten.

Rasch brach sie ab und versprach, in der Abenddämmerung, um die fünfte Stunde, wiederzukommen …

Eine Secunde – und sie war gegangen.

Als Veilchen Igelsheimer allein mit Herrn Nathan Seligmann war, überschüttete sie diesen mit den bittersten Vorwürfen, verweigerte ihm alle Auskunft, schmollte ernstlich und versparte sich bis nach dem Mittagsessen den Antrag auf den Tempelbesuch, den er in den Abendstunden machen sollte …

Und ihre Spitzen und ihre Medaillen und die alt sein sollenden Kupferstiche sah sie wirklich mit Unmuth an und murmelte vor sich hin:

Spinoza war krank? Er liebte und wurde nicht erhört[294] und ging dann hin und schrieb über die Liebe, als wäre sie eine mathematische Figur … Beweisen will er das menschliche Herz wie die zwei rechten Winkel bewiesen sind, die sich in jedem Dreieck von selbst verstehen … Ha, dies muthige, tollköpfige Mädchen! Ihr schwarzer Kopf! Ihre feurigen Augen! Ihr trotziger Schritt! Die kann alles, was sie will –! Und sie glaubt an die Freiheit des menschlichen Willens! Die könnte mich ja – fast irre machen! Wär' ich ein Mann, dann gewiß!

Es war ihr, als wenn der Gott Spinoza's dem Menschen die Thatkraft, den schönen Wahn, der allein das Oel zur wahren Flamme des Lebens gibt, die ganze tausendjährige Poesie geschichtserzeugender – Irrthümer nähme …

Nur eine Weile war's ihr so. Sie kehrte bald in ihr sanftes, lächelndes Dulden zurück.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 4, Leipzig 1859, S. 263-295.
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