4.

[72] Der am Fenster Pochende war aus dem Stern der Gensdarm gewesen.

Der Wachtmeister! hieß es schon beruhigter. Der ganze kleine Kreis kannte ihn.

Was bringen Sie uns, Herr Grützmacher? fragte Bonaventura, während man schon die Hausthür öffnete.

Der eintretende Gensdarmenwachtmeister Grützmacher bildete in seiner wohlgenährten breitschulterigen Gestalt, seinem blondgrauen Knebelbart, glänzend gebräuntem Antlitz, seinem klirrenden Sarras und seinem Helm zu dem stillen Abendimbiß eines katholischen Priesters einen schroffen Gegensatz.

Daß Herr Grützmacher sich auf einem Standpunkte wußte, der selbst bei gering nachhaltender Kraft seiner Katechismuserinnerungen, bei etwas gründlich vergessener Geometrie aus seiner, als er noch bei der Artillerie stand, weiland besuchten Compagnieschule, bei einem dunkeln Gefühl verklungener Sagen über die Lehre von den Brüchen benannter und unbenannter Zahlen, dennoch unendlich erhaben war über die Sphäre, in welche er[73] Schlag neun Uhr Abends in irgendeiner wichtigen Function hier eintrat, lag auf der Hand.

War doch allen denen, die z.B. auch zu Kocher am Fall auf dem Amthause wie einst die ghibellinischen Landsknechte in Italien unter den conspirirenden Welfen saßen, ein gewisser Zug des Antlitzes gemeinsam, den man den einer stereotyp gewordenen Ironie nennen darf.

Dieser Zug, der dem Gefühl der Toleranz gegen ein absolut sich Ueberlebthabendes entsprach, milderte sich hier und dort schattirte sich, ja mischte sich z.B. bei dem Chef des Herrn Grützmacher, bei dem Gensdarmeriemajor Schulzendorf, der die Tafel des Dechanten zu St.-Zeno mit einer außerordentlich feinen Zunge zu würdigen verstand, sogar mit einer Ergebenheit, die bis zu einer offenbaren Unterwürfigkeit gegen Römisches ging … Denn wiederum ist es eine ganz eigenthümlich bestätigte Thatsache, daß jener aufgeklärte blonde, urewig beamtische Menschenschlag zwischen Elbe und Oder auf fremdem Boden seine Kraft nicht immer mit besonderm Geschick zu behaupten versteht. Im Glück leicht übermüthig, in Schwierigkeiten vor Uebermaß entweder des Muthes oder der Einsicht nicht selten unentschlossen bis zum Zaghaften oder klug bis zum Ueberklugen, läßt sich diese angeborene, alles wissende und alles könnende Art oft von dem Fremdartigen imponiren, ja hat bei aller Hitze des Anlaufs und aller Sicherheit des steten Gutsagens für sich selbst oft schon in ältern und neuern Geschichten vollständig den Kopf verloren. Aber Grützmacher gehörte nicht zu diesem überläuferischen Geschlecht. Ihm war es nicht so ergangen[74] wie hier manchem schon der aus dem Lande des absolut Blonden kam, in größerm oder kleinerm Umfange diese Länder, die mit Rom noch etwas enger verwachsen sind als durch die Gipsfiguren Napoleone Biancchi's, regieren sollte und die Festigkeit des Willens allmählich verlor, indem er seine rauhe Art an dem schönsten aller Ströme, an den sanftesten Thälern, fröhlichsten Menschen, an Burgen und Nebengeländen, und vor allem an dem »Chrisam«, zu dem alle Menschen geschworen haben, selbst die Türken und Heiden, der Blume des köstlichsten Weines, abmilderte. Aus vielen Gründen sollte ja gerade jetzt dem unverbesserlichen Geiste dieser Provinzen nicht geschmeichelt werden, sollte keine Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen der Behörden ungerügt bleiben. Der Wachtmeister von Kocher am Fall, ohnehin ein geborener Jüterbogker, aus dem Lande, wo Tezel einst seinen Ablaßhandel so empfindlich abgebrochen bekam, hielt unter allen römischen Verführungen einen festen protestantischen Widerstand, obgleich er nur auskommen mußte mit monatlich 20 Thalern Löhnung, etwas Montirungsgeld und einem jährlich durch 80 Thaler »gutgethanen«, d.h. selbst zu stellenden Pferde.

Sich umsehend und die für einen ehelos lebenden Geistlichen immerhin anmuthig gemischte Gesellschaft mit jüterbogker Anti-Ablaßironie würdigend, sagte er, es fiele ihm doch sehr auf, daß im Wirthshause die Leute beisammen säßen und von dem Begräbniß des alten Mevissen in einer Weise munkelten …

Ob er denn hier laut sprechen dürfte? unterbrach er sich selbst.[75]

Herr Wachtmeister! sagte der Geistliche, Sie brauchen hier auf niemand Rücksicht zu nehmen!

Herr Grützmacher wiederholte nun die Vermuthung, die bereits am Fuße der Maximinuskapelle Lucinde ausgesprochen. Dieselbe Vermuthung war entweder durch den Knecht aus dem Weißen Roß hierher verpflanzt worden oder war aus den Köpfen der Bewohner von St.-Wolfgang selbst entstanden.

Ist es mit dem Sarge, schloß Grützmacher, nicht richtig, Herr Pfarrer, na, so erleben wir die Nacht Unrath!

Wie so? Was erleben wir? fragte Bonaventura.

Na! Na! lautete des Wachtmeisters vieldeutige Antwort.

Sie glauben, daß der Sarg erbrochen wird? hieß es allgemein.

Na natürlich! war die Antwort jüterbogker Logik.

Und es würde doch schade »sind«, fuhr Grützmacher, sich den Knebelbart streichelnd, fort, wenn man »det olle Männiken« da unten in der ewigen Ruhe stören wollte!

Gewiß! sagte Bonaventura ernst, bestritt aber sowol die Annahme, daß der alte Diener seines Vaters mehr besessen hätte, als was ihm von den Seinigen zufloß, wie die Möglichkeit einer Entweihung des Friedhofes von irgendwem in seiner Gemeinde.

Hören Sie mal, Herr Pfarrer, bestritt Grützmacher mit größerer Entschiedenheit, det alte Männiken soll oft was aus Italien 'rausgekriegt haben! Der Wirth vom Stern als Posthalter thut auch so und druckst als wenn er manchmal gar von Papstens – bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer – eine Anweisung auf hundert Zecchinen, heißt es ja wol in Rinaldo Rinaldini, herausgekriegt hat …[76]

Und was wünschen Sie denn nun, Herr Wachtmeister! fragte der Pfarrer, wider Willen lächelnd.

Eine förmliche Räubergeschichte! flüsterte Lucinde und Benno fiel ironisch ein:

Was kann er wünschen als Kant's »Kritik der reinen Vernunft«!

Der Wachtmeister betrachtete beide Sprecher von oben bis unten.

Lucinde, die jetzt in dem Wachtmeister fast einen alten Bekannten von Schloß Neuhof zu erkennen glaubte, beugte sich ins Dunkel nieder.

Aber Benno betrachtend, musterte der Wachtmeister das militärische Kleid desselben und sagte nicht ohne Schärfe:

Herr Musketier! Wie meinen Sie das?

Herr Wachtmeister! erwiderte Benno einlenkend und sich besinnend, daß er, wenn er zehnmal auch den Justinian studirt haben mochte, hier als Gemeiner einem Manne gegenübersaß, der ein silbernes Porteépée trug.

Er griff wie zum Salutiren an die Stirn …

Ich meine, sagte er, Sie wünschen sowol den klaren Beweis, daß die Leute sich geirrt haben, wie die Vorbeugung eines polizeilichen Frevels! Sie beantragen ganz einfach die Ausgrabung der Leiche!

Nimmermehr! rief Bonaventura mit gerötheter Wange. Der Greis ist in allen Formen der Kirche und mit Ehren in die Grube gefahren! Er hatte den Sarg sich selbst gezimmert, hat darin aus einer Grille, die in seiner Frömmigkeit ihren Grund hatte, geschlafen … Als er verblichen war, nahmen freundliche Hände – Da! Ich brauche nur auf Frau Renate zu verweisen! – ihn von[77] seinem gewohnten Lager, ordneten die rohe Polsterung … alle senkten wir ihn in die Grube mit dem Segen und den Weihen der Kirche … wie kann ich jetzt um eines thörichten Wirthshausgeredes willen einen heiligen Vorgang gleichsam wieder rückgängig machen wollen!

Na! Na! Na! Na! beschwichtigte Grützmacher gutmüthig den Eifer des Geistlichen und die allzu düstere Auffassung.

Warten Sie es doch ab! vermittelte Hedemann.

Abwarten, Hedemann? Die Polizei soll vorbeugen! sagte Grützmacher zu Hedemann fast vertraulich.

Dann aber, um den Pfarrer nicht zu erzürnen und sich selbst beherrschend, fuhr er fort:

Herr Pfarrer, überlegen Sie sich, was da am Ende das Beste sein wird! Entweder Sie buddeln den »ollen Jungen« selber heraus oder es thun's hernach andere … Und geschieht dieses, na dann, dann sehen Sie, krieg' ich wieder 'ne Nase – so lang, wie neulich von wegen Mittwoch nach Jubilate!

Sie sind ein vortrefflicher Staatsdiener, Herr Wachtmeister! sagte Benno.

Ja, Herr Musketier, erwiderte der Wachtmeister, der Ironie nicht achtend, sagen Sie lieber, ich habe blos Nachsicht mit dem Herrn Pfarrer, weil er früher selber doppeltes Tuch getragen hat als Lieutenant!

Fähnrich! Fähnrich! verbesserte Bonaventura. Weiter bracht' ich es nicht, Wachtmeister! Jetzt bin ich noch immer Fähnrich! Ich trage die Fahne meiner Kirche!

Den scherzhaften Ton der Erwiderungen festhaltend,[78] trat Grützmacher dem Pfarrer näher, klopfte ihm auf die Schulter und sagte wie in intimster Vertraulichkeit;

Lassen Sie ihn ausbuddeln! Was?

Nein, lieber Wachtmeister!

Ich bekomme eine Nase wie wegen Jubilate –

Ich theile sie dann …

Sie haben gut theilen! Ihnen gibt der Heilige Vater in Rom Zulage! Je mehr Sie von uns Nasen kriegen, desto schöner stehen Sie auf dem seiner Conduitenliste! Aber unsereins! Fünf lebendige Kinder! Eine kränkliche Frau! Zwei hintereinander gefallene Pferde! Das bringt einen Gensdarmen Matthäus am letzten! … Buddeln Sie ihn aus!

Wachtmeister! Sie hätten ruhig den Vorfall von Mittwoch nach Jubilate melden sollen! sagte Bonaventura.

Ne, Herr Pfarrer! Warum ewig die Stänkereien machen!

Man hätte dann oben gesehen, wie die Leute es aufnehmen, wenn wir Feiertage bekommen, die gar nicht in unserm Kalender stehen!

Also danken Sie mir's nicht einmal? Machen Rebellion und ich zeige Sie nicht an, Herr von Asselyn? Sie wissen, wie gut wir in Kocher standen, als Sie bei uns Kaplan waren! Neulich sagte noch Frau Ley – lieber Gott, das arme Twall1 wird nicht mehr lange machen! – als die Rede davon war, daß sie schon ein Dutzend mal gethan hat als wenn sie sterben wollte: Ich wache auch nur darum immer wieder »uf«, weil[79] mir 's ist als müßt' ich die letzte Zehrung (so heißt's ja wol?) vom Herrn von Asselyn, d.h. junior … bekommen! Senior – dem wünsch' ich's nicht, daß Mutter Ley sich in der Nacht empfiehlt oder gar Morgens, wo die Federn am wärmsten sind!

Ihre freundliche Gesinnung thut mir und uns allen sehr wohl, lieber Herr Wachtmeister! sagte der Pfarrer und gab Grützmachern die Hand. Aber melden Sie nur ruhig meine Fehler! Es ist trostlos genug, daß alle Schwächen, alle Gebrechen, die, da wir alle Menschen sind, bei den Geistlichen von sieben Millionen Katholiken nicht ausbleiben können, an den Centralsitz eines andersgläubigen Regiments gemeldet und dort in den Archiven aufbewahrt werden zum Amusement Ihrer Consistorialräthe! Können wir etwas dafür, daß die Leute jeden Mittwoch nach Jubilate an den Kirchthüren stehen und lärmen und sich weigern dem Rufe der Glocken zu folgen, und Drohungen ausstoßen, die ich diesmal erst beschwichtigte, als ich im Ornat unter sie trat und ihnen sagte: Ein Hochamt ist zu jeder Zeit dem Herrn genehm und wir werden unsere Knie dann gewiß beugen, wenn wir Gott um eine gute Ernte und um die Abwendung von Unwetter und Hagel bitten wollen!

Da kam aber, fuhr Grützmacher fort, mein Kamerad Müller von Stockhofen drüben und hörte, wie geschrieen und gelärmt wurde und wie sie riefen, daß die richtige Hagelschadenmesse erst in ein paar Wochen stattfände und wie sie sich von Ketzern keine Feiertage vorschreiben ließen! Ich ritt gerade auf Inspection durch, bekomm's von Müllern brühwarm, soll's »pläng carrière« Landrathn anzeigen und[80] hab' das nun nicht gethan! Wie gesagt, die Nase war so lang! Und deshalb … buddeln Sie den Alten heute lieber noch als morgen 'raus! Thun Sie mir's zu Liebe!

Bonaventura bot Grützmachern wiederholt die Hand, dann auch ein Glas Wein, blieb aber bei seiner Weigerung.

Grützmacher hatte schon lange Lucinden fixirt.

Und noch mehr, als diese mit einer fast herausfordernden Miene sagte:

Was ist denn aber das? Ein neuer Feiertag?

Benno erklärte:

Es ist merkwürdig mit unserm allergnädigsten König und Herrn! Es ist gewiß ein ganz vortrefflicher Monarch und man muß ihm nachsagen, daß er für sein tragisches Schicksal von 1806 bis 1813 die gegenwärtige Heilige Allianz-Ruhe verdient hat! Aber wenn er sie doch nur mit seinem herrlichen Kriegsheer, seinen schönen Bauten und seinem vortrefflichen Theater allein genießen wollte! Metternich sorgt ja für Schlummer in der ganzen Welt! Was muß denn nun ewig unsern König so der Geist Gottes drängen, wie ein byzantinischer Kaiser, den Theologen zu machen! Daß er in seinem ehrenwerthen Glauben die Gegensätze, die dreihundert Jahre alt sind, beim Läuten der Reformationsglocken 1817 versöhnt zu haben meinte und auch einige versöhnte, ist an sich ganz brav von ihm; nun aber glaubt er, wenn man nur schön gebunden die neue Agende auf die Altäre legt, so wäre sie auch deshalb ins Leben getreten und überall eine Wahrheit geworden! Meinetwegen drüben! Aber hüben? Ausgleichungen auch mit uns? Sein Gemüth gefällt sich in dem[81] Gedanken, neue Festtage zu erfinden, die in seinen sämmtlichen Staaten mit derselben Gesinnung zu gleicher Zeit gefeiert werden, z.B. einen Buß- und Bettag! In seiner ganzen Monarchie soll zu einer einzigen gewissen Stunde, wie bei uns das Angelus gebetet wird bei Sonnenuntergang, so in allen seinen Staaten Kirche sein, sowol in den Garnisonskirchen, bei den Feld- und Divisionspredigern wie in unsern alten Domen und neuen Kapellen. Schmuggeln sie uns durch einfachen Gubernialerlaß einen Hagelschadenfeiertag in unser Kirchenjahr, nur damit der liebe sentimentale Herr in seinem Schloßgarten spazieren gehen und sagen kann: Heute zieht die ganze Natur und alle Menschheit in meinen Landen ihren alten Winterrock aus und legt sich äußerlich und innerlich neue Sommerbeinkleider an! … Und nach zehn Jahren werden wir wieder weiter kommen, glaubt er, und nach wieder zehn Jahren noch weiter … und wenn alles gut geht, geben die Consistorialräthe ein bischen heraus und der Papst gibt ein bischen heraus und die schönen Unionstage, die einst Leibniz in Charlottenburg geträumt hat, gehen in Erfüllung!

Hören Sie mal, Herr Freiwilliger! Herr Freiwilliger! drohte Grützmacher mit künstlicher Entrüstung, indem er von seinem Portefeuille aufblickte, wo er in Papieren blätterte und mit scharfem Blick wiederholt auf Lucinden, diese musternd, gesehen hatte. Das ist ja gerade als wenn man einen langhaarigen Demagogen reden hörte von Anno Köpenick, Herr von Asselyn!

Das Gemüth regiert die Welt nicht! warf Lucinde ein.[82]

Drei Monarchen stiften eine Heilige Allianz! fuhr Benno fort. Schon ihre Minister standen damals hinter ihnen und putzten sich nur die Nase, während jene Thränen vergossen!

Grützmacher opponirte nicht länger. Er war die gutmüthigste Seele von der Welt und ohnehin zerstreut durch einige Notizen seines Portefeuilles.

Endlich erschreckte er Lucinden nicht wenig, als er sie anredete:

Na, Fräulein Schwarz! Jetzt haben Sie doch wol endlich Ruhe vor uns von wegen dem Paß, den ich Ihnen, ich glaube schon vor sieben Jahren, immer bei Witoborn vergebens abverlangte! Wissen Sie denn noch, auf Schloß Neuhof! Na, was macht denn Excellenz der Kronsyndikus? Und mein »oller« Landrath, der »schöne Enckefuß«! Gerade vor der dustern Geschichte dazumal mit dem Deichgrafen bin ich hierher versetzt geworden! Meine Nachfolger sollen keine Seide dabei gesponnen haben, daß sie nichts merken wollten, wer den dicken Mann, den Theilungscommissarius, dazumal, freilich auf Nachbargebiet, todt geschlagen hat! Einer von meinen Collegen, der ritt so lange um den Düsternbrook und Schloß Neuhof herum, bis er sich einmal den Hals dabei gebrochen hatte – wirklich den Hals … das kommt so, wenn der Gensdarm immer blos geradeaus sieht, während sein vernünftigerer Gaul links und rechts in die Büsche will. Der andere war noch zu grün und fand sich erst ins Geschäft, als es mit der rechten Spur nach dem rechten Hirschfänger zu spät war. Jetzt ist ja wol der Freiherr von Wittekind auch ganz verdreht[83] und dummelig geworden wie dazumal sein Herr Sohn, der – ja so, bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer von Asselyn!

Grützmacher besann sich erst jetzt auf die Verwandtschaft des Pfarrers mit dem Freiherrn von Wittekind-Neuhof. Er war ja dessen Stiefenkel.

Das Wiedersehen der jungen schönen Dame, fuhr der Wachtmeister mit ironischem Nachdruck fort, hätte ihm diese Erinnerungen zurückgerufen. Er hoffe sie aber bald in Kocher am Fall zu sehen, wohin sie ja, wie er gehört, als Nichte der Frau von Gülpen reise und um ihren Paß woll' er sie diesmal gar nicht quälen! Er wäre vollkommen über sie »ins Klare« …

Bonaventura, Benno und Hedemann richteten während aller dieser Reden überrascht ihre Augen fast zu gleicher Zeit auf Lucinden. Sich auf diese unerwartete Art im Zusammenhang mit Vorgängen genannt zu hören, die sie um vieler Gründe willen hier von sich fern zu halten wünschen mußte, durfte sie nicht wenig erschrecken. Selbst Bonaventura erfuhr zum ersten mal diese Beziehungen und fragte erstaunt:

Schon vor sieben Jahren kannten Sie Schloß Neuhof und waren somit schon damals in der Nähe der Gräfin Paula?

Sich sammelnd erwiderte sie:

Die Erinnerungen des Herrn Wachtmeisters treffen theilweise zu! Nur die Ehre, mich eine Nichte der Frau von Gülpen nennen zu dürfen …

Werden Sie doch wahrhaftig nicht ablehnen? unterbrach sie Benno mit Entschiedenheit. Ihre Tante sollte das hören![84]

Diese Worte wurden so fest, so bestimmt gesprochen, von Benno mit einem so ausdrucksvollen Blick begleitet, daß Lucinde verstummte und ihn nur fragend und groß ansah.

Grützmacher schloß sein Portefeuille und nahm wieder die lächelnde Miene jener aufgeklärten Überlegenheit an, die gewissermaßen hier als landesüblicher Regierungsausdruck gelten konnte und geradezu so viel sagte als: Wir dulden euch und die wunderlichen Schwächen eurer Kirche und thun dies, weil ihr ja eben nichts dafür könnt!

Da auch Hedemann, der erst den lebhaftesten Antheil verrathen hatte, jetzt an die dunkeln Fenster getreten war und an die Scheiben trommelte, stand Grützmacher gewissermaßen als Sieger über allen.

Meine Meldung, sagte er denn auch vollkommen befriedigt, meine Meldung ist Ihnen zu rasch gekommen, Herr Pfarrer! Beschlafen Sie's noch! Morgen reden wir weiter davon! Ich wünsche ja selbst, daß die Leute Vernunft annehmen! Ich will noch 'mal ins Wirthshaus hinüber und sagen, was Sie über den Sarg des alten Mannes denken! Vielleicht nehmen die Menschen auf Ihr Wort Raison an, Herr Pfarrer! Also, gute Nacht denn allerseits! … Gute Nacht, Hedemann! warf er noch hintennach hinein wie zum Zeichen besonderer Vertraulichkeit mit einem ihm gewissermaßen Gleichgestellten.

Renate leuchtete und fragte ihn wahrscheinlich draußen um Näheres über »die Nichte der Frau von Gülpen«.

Als sein Säbel- und Sporenschritt verklungen waren, hörte man nur, daß Renate von außen die Fensterladen anlegte. Hedemann schloß sie von innen.[85]

Die drückende Schwüle, die in dem kleinen Zimmer in der Luft wie geistig herrschte, veranlaßte Benno zu dem Ausruf:

Ich stecke mir eine Cigarre an und wache die Nacht draußen auf dem Grabe!

Daß wir so thöricht wären! sagte Bonaventura. Daß wir durch unser Beispiel einen solchen Glauben bestärkten!

Dennoch traten sie alle hinaus in den Hof und dann in den Garten, von wo aus man zum Friedhof gelangen konnte.

Die Spätsommernacht war mild und geheimnißvoll. Ringsum war es still geworden; nur irgendein schlafgestörtes Kind machte ein Nachbarhaus lebendig oder von den Bergen her ächzte der Hemmschuh eines verspäteten Fuhrwerks. Im Bienenhause schlief alles wie in den Gebüschen ringsum; nur die kleine Welt der auf Raub gehenden Insekten huschte vor den Fußtritten der Vorübergehenden scheu am Boden hin.

Auf dem Friedhofe lagen die Gräber mit ihren überdachten weißen und schwarzen, von welk gewordenen Blumen geschmückten Kreuzen und vergoldeten Glorienstrahlen schweigsam und feierlich. Seitab lag der im ersten Aufwurf begriffene neue Hügel, bewacht nur vom flimmernden Sternenheer, dem wir die Todten so nahe gerückt glauben.

Bonaventura, Benno, Hedemann, Lucinde fanden alles, wie sich erwarten ließ, ungestört.

Die Eingangspforte war geschlossen.

Ihre Empfindungen mußten die verschiedenartigsten[86] sein; nur darin einigten sich alle, daß diese stille Welt um sie her sicher für immer mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Unter diesen Schläfern sollte noch einer etwas vergessen oder mitgenommen haben, was zu den Sorgen und Mühen dieser Erde gehörte?

Bonaventura sagte:

Im ersten Augenblick der sich nahenden Todesgewalt mag die Verzweiflung, daß man noch mit dem Leben so tausendfach sich verwickelt weiß, mit äußerster Anstrengung gegen den kalten Engel ringen, der uns dem Dasein entreißen will; hat er aber einmal die gewaltige Rechte um uns geschlungen und fühlen wir, daß wir keinen Widerstand mehr leisten können, so erscheint uns gewiß jeder Besitz und jedes Entbehren gering! Der alte Mevissen erwartete schon seit sechs Wochen mit Bestimmtheit seinen Heimgang!

Die feierliche Stimmung gab Lucinden Zeit, sich in Benno's Worte zu finden, daß sie eine Nichte der Frau von Gülpen wäre. Sie war erfahren genug, bald einzusehen, daß damit nur ein Deckmantel gemeint sein konnte, unter dem sie unter dem Dache eines Geistlichen wohnen durfte. Sie hielt jetzt diese Angelegenheit keiner Frage mehr werth.

Hätten wir die Gräfin Paula bei uns! sagte sie, als sie sich von dem Grabe entfernten und Bonaventura Benno's Vorhaben, die Nacht über wirklich das Grab zu hüten, entschieden ablehnte.

Warum? hieß es.

Dann säße der alte Mevissen vielleicht leibhaftig auf[87] dem Hügel dort und man könnte ihn fragen, ob er dem wirklich in seinem Stroh soviel Geld versteckt hätte!

Die ekstatischen Zustände der Gräfin Paula waren allen bekannt genug und auch Bonaventura bestätigte die Fähigkeit derselben, über Gräbern Schatten zu sehen, die andere Augen nicht sähen.

Dabei überraschte den Pfarrer keineswegs die Möglichkeit, daß Lucinde nach allem Vorangegangenen so kurzweg den verhängnißvollen Namen aussprechen und, wie wenn nichts mit ihm wäre, ihn ins Gespräch ziehen konnte. Er wußte, wie weit Lucindens Verstellungskunst ging. Er war auch nach Empfang der überraschenden Anzeige aus der Dechanei zu Kocher am Fall in der That von ihr wieder auf alles gerüstet.

Wissen Sie nicht, wie es der Gräfin geht? fragte er Lucinden, als man sich nach einigem Staunen über eine so weit gehende Sehergabe der Gräfin in der Annahme einer Täuschung und der Unmöglichkeit, überhaupt Geister in sichtbarer Gestalt anzunehmen, bald geeinigt hatte.

Stehen denn Sie in keiner Verbindung mit ihr? fragte Lucinde erstaunt und mit schneidender Schärfe.

Wie sollte ich? erwiderte Bonaventura gelassen.

Seit zwei Jahren erfuhr ich nichts mehr von ihr! fuhr er fort. Sie wird auf Westerhof wohnen und sich vorbereiten, die Gattin des Grafen Hugo von Salem-Camphausen zu werden!

Alle schwiegen wie zur Bestätigung.

Lucinde entgegnete:

Also eine Altarkerze im Dome der Heiligen, eine Rose von Jericho will dem Glauben ihrer Väter verloren[88] gehen! Wie? Der kalte Luftzug des Verstandes, der Frost des Zweifels soll sie tödten! Ich hörte, daß man alles aufbietet, diese Verbindung mit einem Lutheraner unmöglich zu machen!

Bonaventura verharrte im Schweigen und blickte fragend auf Hedemann, der soeben von jener östlichen gemeinsamen Heimat herübergekommen war.

Auch Benno verstand diesen Blick und antwortete statt des achselzuckenden Hedemann:

Aus dem bringt niemand etwas heraus! Die Mühle, die er sich in Witoborn gekauft hat, muß ihn taub gemacht haben für alles, was uns sonst von dort hätte interessiren müssen! Er war nicht auf Schloß Neuhof, womit er jetzt vielleicht dem Fräulein gedient haben würde, er war vielleicht nicht einmal in Westerhof, nicht im Kloster Himmelpfort, nicht im Stift Heiligenkreuz – nirgends! So verschlossen ist er wie die Offenbarung Johannis, in die er sich, glaub' ich, in Amerika ganz verlesen hat!

Hedemann legte hie und da einen herabgefallenen welken Kranz auf eines der Kreuze, lächelte und sagte mit gelassener Ruhe:

Wie hätt' ich nicht Westerhof besuchen sollen nach den Erfahrungen und Aufträgen des Obersten!

Je schlagender diese Antwort schien und je genügender sie die beiden Asselyns aufklärte, desto unsicherer und dunkler tastete Lucindens aufgeregte Combination. Wer war der Oberst? Welche Erfahrungen desselben hätten Hedemann, der nun wieder plötzlich ein Müller wurde, von dem Schlosse Westerhof entfernt halten können?[89]

Sie kennen Schloß Neuhof, Fräulein, fragte Benno, und wissen von dem Interesse, das das ganze Land an den Vorgängen in der Camphausen'schen Familie nimmt?

Lucinde kannte auf Schloß Neuhof jeden Winkel im Schlosse, im Park jeden Baum, auf dem Plateau, das zum Düsternbrook führte, die Stelle, wo Klingsohr einst zwei Blütenzweige in die Erde senkte, die freilich der nächste Sturm schon verweht hatte, sie war auch eines Tages zum Fronleichnamsfest in Witoborn gewesen und hatte dort eine Mühle gesehen, die die reißende Witobach mit einer Gewalt trieb, daß man allerdings an ihr taub werden konnte; aber von den Dingen, die um sie her lebten, hatte sie nichts als das durchschaut, was mit dem Cultus ihrer eigenen Person zusammenhing.

Was ich von den Verhältnissen Paula's weiß, sagte sie, kenne ich nur aus den Tagen her, wo sie meiner Pflege anvertraut war. Die Zeit, wo ich auf Schloß Neuhof war und die Wißbegierde der Gensdarmen durch meinen Paß nicht befriedigen konnte, war kurz und gehört meiner frühesten Kindheit an!

Ein Eingehen auf den Tod des Deichgrafen und die dunkle Gestalt des Kronsyndikus schien in diesem Kreise vermieden zu werden. Man verblieb bei den nachbarlichen Beziehungen.

Benno schilderte als nicht gering die Gefahr, die sich der engern Heimat aus dem Uebergange der reichen Besitzthümer der Linie Dorste-Camphausen in die Linie Salem-Camphausen ergeben würde.[90]

De Kirchenfürst unserer Provinz selbst, sagte er, nimmt den lebhaftesten Antheil an einer Entscheidung, für welche sogar mein gewiegter Principal, der Procurator Dominicus Nück, keine andere Hülfe hat als die des Aufschubs. Die Gräfin ist neunzehn Jahre. Sie hat noch zwei Jahre Zeit, sich zu erklären, ob sie vielleicht den geistlichen Stand wählt oder mit Entsagung ihrer großen Besitztümer irgendeine andere Wahl trifft. Auf alle Fälle gehen mit dem Aussterben der männlichen Erben die Güter dieser ältern Linie an jene jüngere über, die in den Zeiten der Wiedertäufer den alten Glauben abschwur, dann nach Ungarn auswanderte und seither nicht wie die andere Linie, die ihrem Beispiele gefolgt gewesen war, wieder zur Kirche zurückgekehrt ist.

Bonaventura, der alle diese Erinnerungen und Beziehungen seit einigen Jahren nicht mehr genährt und gepflegt hatte, durfte Benno nach Paula's jetziger Leitung und Führung fragen.

Dieser fuhr fort:

Der Kronsyndikus von Wittekind, den Sie nach seinem schlimmen Rufe kennen werden, Fräulein, hat die Vormundschaft vor zwei Jahren nur formell antreten können; sie war einmal vom Grafen Joseph, dem letzten der Dorste-Camphausen, so, ehrenhalber, für seinen Schwager bestimmt und konnte, ohne diesen vor aller Welt zu compromittiren, nicht zurückgenommen werden. Alt und schwach an Geist und Körper, hat er sie jedoch factisch seinem Sohne überlassen müssen, dem Präsidenten – deinem Stiefvater! Ein so loyaler Unterthan wie dieser bietet natürlich alles auf, sowol etwaige Ideen vom Kloster zu[91] unterdrücken, wie den der ganzen Anzweiflung an dem Rechtsbestande dieser Familienanordnungen gewidmeten Scharfsinn meines Principals zu Schanden zu machen. Einstweilen wohnt Paula auf ihrem Sitze Westerhof und wird von dem Onkel und der Tante Armgart's so gehegt und gepflegt und geliebt, wie man bei uns zu lieben pflegt, Fräulein! Alles nur durch ein unendlich seelenvolles Schweigen und das gemüthvollst Bloserrathenlassen! Wenn die Leute bei uns achtzig Jahre alt geworden sind und bald in die Grube gesenkt werden, rufen sie sich noch erst vom Todtenbett aus die vergessene Liebeserklärung nach. Gelebt haben sie nach der Liebe, gesprochen davon nie. Nicht wahr, Hedemann? Als Sie noch für meinen seligen Vater Borkenhagen bewirthschafteten, ich glaube nicht, daß er Ihnen je ein: Ich danke! gesagt hat.

Er hatte nicht Ursache dazu! erwiderte Hedemann. Unsere Abschlüsse waren schlecht genug!

Ein kühler Lufthauch fuhr durch die Bäume, die den Friedhof begrenzten, und mahnte, dem Rufe des Wächters zu folgen, der die zehnte Stunde rief.

Bonaventura stellte der so in alte und neue Verhältnisse mit der größten Spannung einblickenden Lucinde zur morgenden zeitigen Abfahrt das bereits im »Stern« bestellte Gefährt nochmals in Aussicht und bat sie den Onkel zu grüßen; in einigen Tagen würden Geschäfte auch ihn vielleicht nach Kocher hinaufführen.

Benno begleitete Lucinden bis zum Stern. Er versprach, sich mit Hedemann derselben Fahrgelegenheit zu bedienen und in der Frühe sich bei ihr einzufinden.[92]

Dann kehrte er ins Pfarrhaus zurück, wo er übernachtete.

Während Lucinde auf ihrem Zimmer allein war und wieder die Pfauenfeder am Spiegel sah und die kleinen Heiligenbilder, die über dem Bette hingen, in das sie, wie sie war, sich legte; während sie fast übermüthig die Wonne genoß, wieder in der Nähe von Menschen zu sein, auf welche der Stempel des Ungewöhnlichen gedrückt war; während in ihr die einzige Aufgabe, der zu Liebe sie noch überhaupt leben mochte, mit tausend Stimmen rief: Bonaventura, sammle dich in deiner Kraft! Werde mehr als nur der Pflegling dieser alten Renate! Gedenke eines Zieles, das dir höher hinaus liegen sollte als der Kirchthurm dieses armseligen Dorfes! Wie find' ich dich wieder! Im Beginn der Grämlichkeiten alle, an denen ihr armen Entsagenden allmählich zu Grunde geht! Noch wallst du auf wie Petrus, der dem Malchus ein Ohr abhieb! Wie lange wird diese Tapferkeit dauern! Frau Renate wird dich vor jeder Abendluft schützen! Ihre Mädchen werden so viel braten und kochen und backen, bis du ihre köstlichen Speisen nicht mehr verdauen kannst! Welche Thorheit, hier nur unter den Bauern, Fuhrleuten, Steinklopfern ein Heiliger zu sein, hier nur vor einem Gensdarmen den Bonifacius und Ambrosius zu spielen! … Und während sie sich dann vorkam, als müßte sie einem neuen Gregor dem Siebenten seine Gräfin Mathilde von Toscana werden, seine Feuerseele, sein Cherubswächter mit dem flammenden Schwerte … währenddem rief Benno, vom Stern zurückkehrend, Hedemann und seinem Vetter, die zum Abschiednehmen vor dem[93] Schlafengehen noch auf ihn gewartet hatten, die kurze Charakteristik entgegen:

Ja, das ist ja wahrhaftig der lebendige Satan! Die wird in der Dechanei und in Kocher am Fall eine schöne Revolution anstiften!

Frau Renate schlief schon, sonst hätte sie für das Wegputzen der Fliegenflecke und das Bedienenwollen in der Küche sicher eine Revanche genommen, die kräftiglich mit eingestimmt hätte.

Und doch, sagte Bonaventura, indem er Hedemann ein Licht reichte, das beim aufgegangenen Mondschein kaum noch nöthig war, um ihnen beiden in den obern Stock den Weg zum Fremdenstübchen zu leuchten; doch glaub' ich, daß sie für den, den sie liebt, ins Feuer geht!

Kein Wunder! rief Benno. Ihr Element ist die Hölle!

Armer Vetter! setzte er leiser hinzu. Welchen Versuchungen seid ihr Pfaffen doch ausgesetzt! Das seh' ich ja schon – hier kommt ein alter Roman zu Tage!

Bonaventura gab nur zur Antwort:

Ich bin begierig, wie sie mit dem Onkel fertig wird!

Mit dem gewiß! erwiderte Benno. Ich glaube, dem gefällt sie! Aber Tante Gülpen! Die gewöhnliche Probezeit besteht sie nicht vierundzwanzig Stunden!

Alle drei Männer mußten lachen …

Man trennte sich in behaglicher Uebereinstimmung.

Benno und Hedemann sollten zusammenschlafen oben in dem Fremdenstübchen, dessen saubere Betten schon aufgedeckt waren …

Während sie hinaufstiegen, sagte Benno, aber so, daß[94] Bonaventura, der ihr Verschwinden abwartete, es theilweise unten noch hören konnte:

Nun glaub' ich an die sieben Schwerter, die Armgart beim bloßen Begegnen an der Kapelle oben sogleich aus ihr herausgehend gefühlt haben wollte, ganz wie Paula gesagt haben soll, als die Arme auf dem Streckbett liegen und den fürchterlichen vollen Feuerstrahl fühlen mußte, der von der Person über sie ausging! Und das alles muß man nun ruhig hinnehmen, blos weil sie, hör' ich, eine Convertitin ist, ein goldenes Kreuz auf der Brust trägt und wahrscheinlich zu irgendeiner Erzschwesterschaft gehört! Wozu sich unsere Kirche nicht alles hergeben muß! Wenn sie nicht in der Lage wäre, schlaffe Gemüthlichkeit, die alles geduldig hinnimmt und geschehen läßt, aufrühren zu müssen durch solche Weckhähne … Hedemann, daß wir morgen früh nur die Zeit nicht verschlafen!

Hedemann nahm, da sie inzwischen oben angekommen waren, die Uniform, die Benno ausgezogen hatte, legte Brieftasche und Geld heraus und versicherte dem sich Entkleidenden, mit dem Aufwachen zur rechten Zeit wäre keine Gefahr; ihm rauschten die Räder seiner neuen Mühle und die Sorgen, die er sich aufbürdete, genug im Kopfe …

Und dabei verwechseln Sie wirklich schon unsere Stiefel und stellen zwei Paare zusammen, wie wenn jeder von uns immer halb mit den Beinen des andern liefe!

Hedemann, der in der Nebenkammer schlief, hatte die Stiefel und Kleider vor die Thür gestellt, damit die Magd in der Frühe alles fand und reinigte.[95]

Benno, schon auf den Strümpfen, stellte die Paare in Ordnung, nahm noch einen von Hedemann vergessenen Brief aus der Tasche seiner Uniform, schloß die Thür, legte den Brief auf den Nachttisch neben sich zu Uhr, Geld und Portefeuille und sagte mit herzlichem Tone:

Freilich, so ist's ja auch immer gewesen! Was wär' ich ohne Ihre Arme und Beine, Hedemann! Ich glaube, ich hätte alle schon gebrochen und auf mein kühles Grab setzten Sie ein Denkmal, das ich mir in Gestalt eines Fragezeichens ausbitte, Hedemann, wenn Sie mich überleben sollten, hören Sie? Der Friedhof hat mich ganz melancholisch gemacht!

Warum ein Fragezeichen? fragte Hedemann, löschte das Licht und wollte die Thür anlehnen.

Lassen Sie doch auf, Hedemann! Es ist so dumpf und stickig in der kleinen Stube! Warum ein Fragezeichen? Bin ich nicht ein verkörpertes Fragezeichen? Was sagt das Kirchenbuch von Borkenhagen über mich? Haben Sie denn nachgeschlagen, wie ich Sie gebeten?

Ich sagte gleich, daß da nichts zu finden ist! Sie waren schon fast ein Jahr alt, als Sie Ihr Vater aus Spanien mitbrachte!

Aus Sevilla! Aus Sevilla! Wo die letzten Häuser stehen … sang Benno mit elegischem Humor.

Dann fuhr er fort:

Ich wundere mich nur, wie ein Zigeunerkind sich so acclimatisiren konnte! Sprach ich heute nicht von Buchweizen, Haarrauch und dem Landesvater, wie wenn ich wirklich ein Asselyn wäre, kein Pseudo-Asselyn, kein[96] unberufener Eindringling in die Wallhecken und Moore und Kampe eurer Ahnen!

Sie sind der rechtmäßige Sohn des weiland Erb- und Gerichtsherrn zu Borkenhagen!

Und sein Erbe! Hedemann, daß ich doch nur den kleinen Tümpel geerbt hätte, der um unsere Hundehütte ging, Burg genannt, jene majestätische See, wo Sie mir die kleinen bewimpelten Schiffchen schnitzten, die ich durch die grünen Wasserlinsen fahren ließ!

Ich ahnte damals meine Reise nach Amerika!

Und den Finkenfang, Hedemann, im Schlehdornbusch, wo Sie die prächtigen Schlagnetze legten! Ach, ich habe als Student später nie mehr aus einem Weichselrohr rauchen können, ohne nicht daran zu reiben und zu reiben und aus dem köstlichen Geruch des Rohrs mir unsern Finkenfang wieder zu vergegenwärtigen!

Graf Münnich hat ihn niederhauen lassen …

Und hätten uns die Gläubiger nur den einen großen Ebereschenbaum gelassen, auf der Wolfshöhe! Wenn wir sonst dahin wallfahrteten, war's mir immer nur um die rothen Beeren zu thun und die Bank darunter war mir nur eine bloße Hülfe, um die schönsten Büschel herunterzukriegen und an die Mütze zu stecken! Später als Student, kam ich einmal wieder in die Gegend und wollte Freunde und sogenannte Verwandte begrüßen. Da merkt' ich fast, daß die Wolfshöhe mir nur eigentlich deshalb gefallen haben mußte, weil der künftige Herr von Asselyn-Borkenhagen sein ganzes kleines Königreich dort am schönsten hätte übersehen können. Die herrliche Aussiht! In weiter Ferne die Wälder! Aus ihnen herausblickend[97] Schloß Neuhof, golden wie die Landeskrone, Kloster Himmelpfort, Witoborn mit seinem ewigen Armensündergeläut … Werden Sie das denn aushalten, Hedemann?

Meine Mühle überrauscht es …

Und rechts hinüber Westerhof mit Paula und Armgart, die damals Kinder waren und mich Vetter nannten, den armen, abgeblitzten Herrn von Borkenhagen … Es war gerade Kirchweih im Ort … Eine Spielbande zog von den Bergen herunter; ein buckeliger Geiger voran …

Stammer! Der lebt noch!

Bänder und Fahnen flatterten … alles war lustig … im Wittekind'schen hatt' es ein großes Erntebier gegeben … es war damals kaum ein paar Wochen über die grauenvolle Geschichte mit dem erschlagenen Theilungscommissar hinaus …

Der Alte vom Berge, der Kronsyndikus, läßt noch jetzt draufgehen, hör' ich … früher war er geizig genug …

Gerade des Weges ritt der Landrath! Ich fragt' ihn nach dem Vorfall. Der wies mich schön zurecht! Wie ich den Herrn auf dem hellen Schloß da oben zu nennen wagen könnte …

Das wollt' ich meinen, der »schöne Enckefuß«! …

Nun aber ging ich in den vielgrünen Wald, an meinen Vogelherd – damals, Hedemann, standen noch all die lieben hellen Buchen – am Ende der Wildschonung lag der kleine Hof Ihrer Aeltern … Sie erzählten mir ja noch nichts von denen … Sie leben doch noch? …

Hedemann antwortete nicht.[98]

Benno sprach vor sich hin:

Er schläft wol schon!

Nach einer Weile des Schweigens hörte Benno seinen Nachbar laut aufseufzen …

Was seufzen Sie denn, Hedemann? fragte Benno, den inzwischen selbst der Schlaf überkam.

Als Hedemann nicht antwortete, sagte er gähnend:

Sie waren – damals in England –

Amerika! verbesserte Hedemann.

Amerika! antwortete Benno und legte sich, um nun wirklich fest einzuschlafen.

Doch sprach er noch vor sich hin, aber in einzelnen, unterbrochenen Worten:

Sie sind im Stande – und heirathen … als Müller Hedemann … die weiße Gipsitalienerin … natürliche Ideenassociation … Müllerin Biancchi … Hedemann … nicht wahr? …

Ja, gute Nacht! erwiderte Hedemann, der ihn nicht mehr verstanden …

Benno's Empfindungen mußten noch eine lange Zeit gegen den Schlummer kämpfen. Seine Phantasie verweilte auf den lachenden Bildern seiner Jugend, auf dem grünen Wolfshügel, unter dem Ebereschenbaum und bei dem Rundblick in der Ebene von Witoborn. Sie hielt dann Stand bei Paula und bei Armgart. Armgart von Hülleshoven hatte er damals vor sieben Jahren zum ersten mal gesehen. Sie war die Tochter des kürzlich aus England als pensionirter englischer Oberst zurückgekehrten Herrn Ulrich von Hülleshoven. Ihre Mutter war jene Monika von Ubbelohde, die die erste gewesen, die einst dem Kammerherrn Jérôme[99] von Wittekind-Neuhof einen Korb gegeben. Die hatte keines Hundes, des Calfacters Türck, bedurft, der ihr erst ein seidenes Kleid verderben mußte, wie Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen, um von den Wünschen der Familie sich zu befreien. Aber da man es ihr, einer armen und völlig güterlosen Adeligen, mit den Anträgen und Vorschlägen und Zwangsmaßregeln zu bunt und zu gefährlich gemacht hatte, nahm sie gleichsam »aus Desperation«, wie damals die Leute sagten, die die Rache des Kronsyndikus und seinen Einfluß auf zehn Meilen in der Runde und, wenn er wollte, noch etwas weiter hinaus, kannten, den jungen Offizier Ulrich von Hülleshoven, der gerade in der Stadt, wo Bonaventura's Aeltern lebten, in Garnison stand und ihr den Hof machte, wie ihre Schönheit und ihr Geist verdienten. Diese Naturen erkannten sich aber erst nach geschlossener Ehe. Sie stießen sich unheilvoll ab und als Monika eines Kindes, jener Armgart, genesen und Ulrich gerade versetzt worden war, erklärte die Gattin, ihm nicht folgen zu wollen. Sie selbst hatte eine Schwester, ihr Gatte einen Bruder. Jene hieß Benigna, dieser Levinus. Auch diese gaben ein Paar, eines vielleicht mit klügerm Instincte. Sie liebten sich schon lange, schon zehn Jahre vor dem Zeitpunkt, wo sie Schwäger wurden durch die Verheirathung Monika's mit Ulrich, heiratheten sich aber nicht. Levinus, ohne Vermögen, verwaltete die großen Güter des Grafen Joseph, des letzten der Dorste-Camphausen, während Benigna, die Schwester Monika's, die intimste Freundin der verstorbenen Gräfin und Mutter Paula's, der Schwester des Kronsyndikus, und die zehnjährige[100] Verlobte des Onkel Levinus in dem Stift Heiligenkreuz, dicht bei Westerhof und Witoborn, lebte. Beide Schwäger, empört über das Benehmen des jungen Ehepaars, rissen wie nach einem Spruch des Femgerichts der rothen Erde das Kind desselben, ihre Nichte, an sich und straften mit der Vorenthaltung desselben den »unwürdigen« Vater wie die »unwürdige« Mutter. Sie versteckten die kleine Armgart in Wälder und Schluchten, in Keller und auf Heuböden und vorenthielten sie den beiden Ehegatten, denen sie es nur zurückzugeben erklärten, wenn sie beide kämen Arm in Arm, in Liebe und Treue und Einigkeit, frei von der Schmach einer ganzen Familie, frei von der Verletzung der Sitte des ehrbarsten Landes und tugendhaftesten Volksstammes. Diese standesmäßige, gleichsam altsächsische Bedingung erfüllten die Ehegatten nicht. Beseelt von gleichem Trotze, suchten sie einer dem andern Armgart abzugewinnen, offen zu erobern, geheim zu stehlen sogar … vergebens, Onkel Levinus und Tante Benigna hatten das ganze Furioso, den ganzen Sturm, der über diese sonst so stillen, ruhigen, maßvollen Menschen kommen kann, wenn eine Ueberzeugung sie ergreift. Ihre Maßregeln waren so sicher, daß sie in der Jagd auf Armgart Sieger blieben und der Mutter, die nicht zu ihrem Manne wollte, dem Vater, der sich der Gattin verschloß, ein Kind vorenthielten, mit dem sie »nicht in die weite Welt gehen sollten«. Levinus und Benigna gedachten sich jetzt noch weniger zu verheirathen. In der Liebe zu dem Geschwisterkinde, das sie erzogen, waren sie bereits wie ehelich verbunden. Ulrich und Monika gingen verdüstert und verbittert ohne das ihnen vorenthaltene Kind wirklich in die weite Welt. Zwölf[101] Jahre war Ulrich von Hülleshoven theils in England, theils in Britisch-Canada Soldat gewesen, ihm zur Seite Remigius Hedemann, einst in dem Regiment, in dem Ulrich exerciren gelernt, sein Unteroffizier, dann ein tüchtiger Landwirth, der einen Versuch machte, die letzten Besitzthümer der verarmten Familie derer von Asselyn, die sich vor mehr als hundert Jahren aus dem Friesischen ins Land geheirathet, zu heben und dem dritten von drei Brüdern (die ältern waren Franz von Asselyn, der Dechant, Friedrich von Asselyn, der Vater Bonaventura's), Max von Asselyn, Benno's Adoptivvater, in der Bewirthschaftung derselben beizustehen. Letzter Versuch war nicht geglückt. Max von Asselyn starb bald nach dem unglücklichen Ende, das Friedrich von Asselyn auf einer Schweizerreise in den Alpen fand. Hedemann, geschätzt in allen diesen so eng verbündeten Familien, folgte seinem militärischen Zögling, Ulrich von Hülleshoven, der als Premierlieutenant seinen Abschied nahm, trug zwar nicht selbst die englische Uniform in Quebec und am Lorenzostrom, war aber dem bis zum Obersten Emporsteigenden immer zur Seite und kehrte, mehr als sein Freund, denn als sein Diener, mit ihm nach Europa zurück. Zu Kocher am Fall, in der Nähe des gutmüthigen, alle schroffen Gegensätze dieser Familie mit unendlicher Güte und Milde ausgleichenden Dechanten zu St.-Zeno, einem alten, reich dotirten Stifte, einem der wenigen, die in ihrem alten Glanze durch die neuen Zeitläufe deshalb unberührt geblieben waren, weil der Kaiser von Oesterreich einen Theil der Patronatsrechte besaß, siedelte sich der Oberst Ulrich von Hülleshoven zunächst[102] an und man versuchte nun von dort aus, soweit es der schroffe, düstere und der Aussöhnung wenig geneigte Sinn desselben gestattete, die so gewaltsam zerrissenen Familienbande wieder anzuknüpfen. Hedemann war nach Westerhof und dem Institut der Englischen Fräulein entsendet gewesen, um den Onkel Levinus und die Tante Benigna zur Aussöhnung, Armgart aber zu einem Besuch des Vaters, den sie nie gesehen und der seinerseits aufgesucht sein wollte, zu bewegen. Statt der Aussöhnung und statt Armgart's brachte Hedemann, der mit Benno von Asselyn, dem von ihm fast erzogenen Adoptivsohn des verstorbenen Max von Asselyn, in der Residenz des Kirchenfürsten zusammengetroffen und von diesem nach Kocher am Fall auf dem Dampfboot und zu Fuß begleitet worden war, einen Brief der Lehrerin Angelika Müller an den Dechanten. Was er enthielt, wußten Hedemann und Benno nicht, der ihn für die Dechanei an sich nahm. Als jener dem jungen Kinde gesagt hatte, der Vater nähme Anstand, sie in Lindenwerth selbst zu besuchen, so sehnsüchtig er nach ihr verlangte, er wünsche und hoffe aber, daß sie, wenn nicht ihn, doch den Onkel Dechanten, wie Franz von Asselyn in allen diesen Familien hieß, besuche; da hatte Armgart nichts erwidert als daß sie zwar von namenlosester Sehnsucht zu ihrem nie gesehenen Vater erfüllt wäre, jedoch erst mit dem Pfarrer zu Drusenheim in dem der Insel Lindenwerth gegenüberliegenden Enneper Thale, dann mit den beiden Englischen Fräulein, dann mit Angelika Müller, dann vor allem mit ihren wahren Aeltern, Tante Benigna und Onkel Levinus, über einen so wichtigen Schritt Rücksprache nehmen müßte. Mit[103] schwärmerisch andachtsvollem Emporblick hatte Armgart hinzugefügt: Auch meine arme Mutter hat Rechte auf meine Liebe und ich glaube nicht, daß meine Bitte für sie zur seligsten Jungfrau unerhört an der Gnadenreichen vorübergeht! … Ihre Mutter, Monika von Hülleshoven, lebte zu Wien noch vor kurzem in einem Kloster, in das sie sich, aus Unmuth, ermüdet vom Kampf mit ihrer Familie, entsagend selbst auf das eigene, aus Strafe ihr geraubte Kind, vor zwölf Jahren zu einer Freundin geflüchtet hatte … Armgart begleitete bis an die Maximinuskapelle mit dem ganzen Institute den guten Hedemann (der Wunderdinge von den Wilden und den Wäldern und Wasserfällen Canadas, auch bei der Hinreise nicht oft genug eine große Rettungsthat des Vaters, die einem jungen, im Institut durch Verwandte bekannt genug gewordenen Kaufmann aus der nahe gelegenen handelsreichen Residenz des Kirchenfürsten gegolten, wiederholen konnte – auf der Rückreise war er schweigsamer geworden –); dort aber war sie freilich von ihrer löblichen Absicht, ganz und allein nur den Fragen nach Vater und Mutter zu leben, abgekommen; denn am Ufer und schon am vielbesungenen Hüneneck sah sie Benno und den noch dazu zum ersten mal in Uniform! Benno war erst als Student dem Kinde bekannt geworden. Sieben Jahre später wurde er von Westerhof aus gebeten, sich um die nach Lindenwerth zu den Englischen Fräulein gegebene Armgart in sorgsamer Obhut zu bekümmern; er wohnte dafür nahe genug in der Stadt, wo er bei Dominicus Nück, dem großen Rechtsgelehrten, arbeitete. Seit sechs Monaten sah er sie fast jeden Sonntag;[104] heute aber zum ersten mal im bunten Rock, der alle Mitpensionärinnen an ihre Brüder und Vettern erinnerte. Da gab es Vergleiche, Erkundigungen, Erinnerungen für diese glückliche junge Welt und so viel wurde nach dem 40., 36., 22. Linieninfanterieregiment, nach den Jägern, Husaren, Premier-, Secondelieutenants und Fähnrichen und der Dauer der diesmaligen Uebungen und den in einfachen Gemeinenuniformen steckenden Assessoren, Referendaren, Doctoren und Kaufleuten gefragt, daß das eine der beiden Englischen Fräulein, die das Institut dirigirten, den Verlust der Sammlung zur Andacht in der Kapelle befürchtete und dann nur noch Armgart gestattete, über ihre Familienangelegenheiten, dans ses affaires, wie sie sagte – sie war eine Strasburgerin –, mit dem so ehrbaren oder doch seinen Humor unter Ernst versteckenden Freiwilligen sich zu necken und auszuscherzen. Diese Freiheit war dann auch vollständig von Armgart benutzt worden bis zum Abschiede, den Lucinde gestört hatte. Benno brauchte sich nicht zu stolz zu dünken auf Armgart's Vertraulichkeit. Sie liebte im Grunde nur ein Wesen, ihre für sie ganz seraphische, immer nur wie in Marienkränzen, die durch weiße und rothe Wolken gingen, eingerahmte Paula. Benno sah das aufs neue an der augenblicklichen Erkennung eines Wesens, von dem ihr Paula nur erzählt hatte! Von ihrer eigenen Anwesenheit auf Schloß Neuhof wußte sie nichts mehr – Hühner und Tauben und Schwäne und türkische Enten konnten in Armgart's Seele nicht haften bleiben, das mochte geringere Naturen fesseln. Armgart hatte im Stift Heiligenkreuz eine fast klösterliche Erziehung genossen.[105] Frühzeitig hatte diese auch sie zur Traumwandlerin gemacht; nicht so, wie man bei Gräfin Paula in Wirklichkeit gefürchtet, daß sie's bis zum Wandeln im Schlafe bringen könnte – seitdem sie das Streckbett verlassen, waren der Hochschlaf und die Sehergabe entschwunden – nein, nur figürlich; Armgart sah auf jeder Wolke einen Heiligen ruhen, sah in jeder Blume einen Elfen schlummern, sprach mit dem Monde, mit der Welle, mit dem Steine, womit nicht alles, ohne doch darum dem Lachen und Necken abgeschworen zu haben! Es war ein Duft um Armgart her, soviel Unwiderstehlichkeit, daß Benno sie auch bis zum Erobernmüssen geliebt und angebetet haben würde, wenn ihn nicht zwei Mächte zurückgehalten hätten. Einmal die Freundschaft für den jungen reichen Kaufmann Thiebold de Jonge, dem in Canada Armgart's Vater und Hedemann das Leben gerettet hatten und der, jetzt in seine Vaterstadt, die Residenz des Kirchenfürsten, zurückgekehrt, zu Armgart von einer wahrhaft leidenschaftlichen Liebe verzehrt wurde. Dann aber zweitens die tiefste Verstimmung über sein eigenes Lebensschicksal selbst, die dunkeln Anfänge seines Daseins, mancherlei Erfahrungen von frühester Jugend her, das bittere Gefühl, immer nur durch Andere und Fremde erhalten worden zu sein und eine darauf sich gründende Welt- und Lebensauffassung, die eine völlig negative und alles, was bestand, in Nichts auflösende war. Auch die Religion war ihm Menschenwerk. Wenn Benno gegen Grützmachern opponirt zu haben schien und von den Vorkommnissen innerhalb seiner Kirche mit warmer Theilnahme sprach, so war es nur aus politischen Gründen und um der Abneigung[106] gegen das ganze damals herrschende Regierungssystem willen.

Während Benno schon von der lieblichen Armgart träumte, noch ehe er entschlief, glaubte Hedemann nach ihm rufen zu hören.

Er richtete sich auf und sagte:

Hedemann! Wünschen Sie noch etwas?

Hedemann murmelte nur …

Wieder drückte Benno seinen militärisch kurzgeschorenen, »ihm selbst wie nicht angehörenden« Kopf in die Kissen. Waren aber auch seine Augen bald geschlossen, so gaukelte doch Armgart vor ihnen, wie wenn sie wachten. Armgart hatte die Elasticität des Rehes und schelmisch standen ihr vorzugsweise drei Dinge. Am Kinn ein Grübchen; zwei wunderlich ein wenig hervorstehende Zähne, die man nur dann nicht sah, wenn der Mund ganz fest geschlossen war, die aber sonst immer ein klein wenig mit ihrem blendenden Email hervorblitzten; drittens die weder römische noch griechische, sondern weit eher stumpfe, aber höchst schelmisch geschwungene Nase. Ihre Augenbrauen waren so dunkel wie das Haar, auch die Augensterne dunkelbraun mit schwarzen Punkten … Und nun tönten immerfort die dummen Worte, wie: »Hören Sie doch, Benno!« oder »Was meinen Sie, Asselyn?« oder »Sie Vaterlandsvertheidiger, was glauben Sie, gibt es Krieg?« oder »Warum wollen Sie denn nicht General werden?« oder »Was? In unserer Armee gibt es keinen einzigen katholischen Obersten?« oder »Wie sieht mein Vater aus?« oder »Ich sticke ihm einen Cigarrenbecher, aber sagen Sie ihm nichts, Benno!« geradezu wie Musik in sein Ohr, bis er jetzt[107] wirklich eingeschlafen wäre, wenn er nicht den wunderlichen Hedemann nun allerdings noch ganz laut hätte reden hören.

Hedemann hielt sein Nachtgebet. Doch wußte er dabei schwerlich, daß es Benno hören konnte.

Hedemann sprach:

O du mein Herr und Heiland! Erleuchte meinen Sinn und laß mich wandeln, wie dir wohlgefällig ist! Thu abe von mir die Werke der Finsterniß und laß mich kämpfen den guten Kampf des Glaubens!

Benno sagte sich:

Den haben die Engländer schön in der Mache gehabt!

Nun entschlief auch er …

Die Sonne schien schon hell auf sein Lager, als er erwachte.

Er sprang auf und fand das Lager seines Mitschläfers in der Kammer bereits leer.

Seine Kleider hingen schon gereinigt vor ihm über einem Stuhl …

Rasch schlüpfte er in sie hinein und staunte beim Waschen und Haarbürsten über die Unruhe im Orte …

Er kannte doch die tägliche Lebensordnung in St.-Wolfgang und erkundigte sich durch ein Hinabrufen im Hause nach der Ursache der Bewegung.

Von Hedemann, der schon fertig angezogen eintrat, von Renaten, die hinter diesem her ihn schon lange mit dem Frühstück zu erwarten erklärte, erfuhr er, daß wirklich in der Nacht der Friedhof entweiht worden war.

Grützmacher hatte Recht gehabt! Man hatte das Grab aufgegraben, den Sarg heraufgezogen, ihn erbrochen,[108] die Leiche geradezu hinausgeworfen und gierig das Stroh durchwühlt, auf dem sie gebettet gewesen.

Von einer ganzen Bande sprach man und von gefundenen Schätzen und Grützmacher war dem Knechte nachgeritten, der Lucinden gestern geführt hatte, und andere waren den Italienern nach, die die Nacht in einem Orte eine halbe Stunde weiter campirt hatten, und der Ortsgensdarm Müller war von Stockhofen drüben bereits requirirt worden und alles, hieß es, forsche und jage und suche und renne …

St.-Wolfgang war in wildester Bewegung und wie im Aufruhr.

1

Märkisches Mitleidswort für »armes Ding«.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 2, Leipzig 1858, S. 72-109.
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