8.

[199] Die Beraubung des Grabes auf dem Friedhof zu St.-Wolfgang war inzwischen in der Dechanei, wie in ganz Kocher am Fall bekannt geworden.

Grützmacher war auf schweißgebadetem Roß zurückgekehrt, hatte aber den muthmaßlichen Thäter nicht ergriffen.

Auch daß Bonaventura vielleicht noch den Abend in der Dechanei eintreffen würde, war durch Hedemann bekannt geworden, der auf einen Augenblick daselbst vorsprach und die von Angelika Müller erhaltenen, von Benno, dem zu sehr in Anspruch Genommenen, wieder zurückempfangenen Briefe für den Dechanten an Windhack übergeben hatte.

Kein Oberst, kein Benno, kein Thiebold, niemand sonst ließ sich vor Antheil an den Vorgängen in der Stadt sehen, sodaß Lucinde der Frau von Gülpen die räthselhaften Vorgänge allein erzählen mußte, ja wiederholen, mehrfach wiederholen, da die Theestunde geschlagen hatte und einige Freundinnen der gastfreien Frau schon im lebendigsten Mittheilungsgenuß um den siedenden Kessel versammelt saßen.

Zur Justizräthin von Nietnagel, zum Stiftsfräulein von Minnerich und wie sie alle hießen, die entweder in[200] Kocher selbst wohnhaft waren oder zu jener Landeswohlthat (nach andern Landesplage) gehörten, die die Reihe herum immer auf der Wanderschaft bei ihren Lieben und Guten begriffen sind und das schöne Talent des Sich-Einwohnens und Nothwendigmachens des Jahres bei einem halb Dutzend Familien schon seit dreißig Jahren besitzen, gesellte sich zuletzt auch der tieferschütterte Dechant.

Auch er erfuhr nun die unheimliche Kunde und gab dadurch Lucinden Gelegenheit, ihren Bericht zum fünften oder sechsten mal zu wiederholen, sich aber auch zugleich in lebhafter Weise ihm selbst zu empfehlen. Lucinde, die das Wohlgefallen des Greises an seinem wiederholt prüfenden Blick sogleich bemerkte – sie war zwar noch in ihren Reisekleidern, hatte aber manches Krägelchen, manchen Spitzenschmuck zur Hebung ihrer Erscheinung zu benutzen verstanden und besonders schön stand ihr die eigenthümliche thurmartige Krone ihres stattlichen Haares –, suchte sich den Schein der größten Ungefährlichkeit zu geben. Sie wollte sich nur nützlich machen. Sie servirte den Thee wie eine Dienende. Schon erntete sie manchen heimlichen Wink des Beifalls, den Frau von Borchardt an Frau von Nietnagel, diese wieder an Fräulein von Minnerich und Fräulein von Minnerich an die »treue Freundin«, Frau von Gülpen selbst weiter gab. Windhack erinnerte an die Briefe, die Hedemann gebracht; der Dechant wollte jetzt nichts davon wissen, er wollte ruhig »seine Tasse Thee« trinken, d.h. die Gestalt und den ausdrucksvollen, den Kenner der Antike fesselnden Kopf derjenigen bewundern, die den Thee credenzte.

Windhack konnte, da er Grützmachern gesprochen hatte,[201] von der vergeblichen Verfolgung des Knechtes aus dem Weißen Roß berichten.

Oben auf der Höhe des St.-Wolfgangsberges, erzählte er, hatte ihn Grützmacher und seinen Wagen fast erreicht. Da aber springt der Mensch herunter vom Wagen, läßt alles im Stich, flüchtet in den unwegsamen Wald und Grützmacher hat halt mit seinem Gaul vorläufig das Nachsehen …

Nun kam die Majorin Schulzendorf. Auch sie kam in der ganzen Eile und Aufregung, die nichts zu versäumen wünschte und vor Thatsachen, die sie so lange zurückgehalten hätten, sich nicht zu lassen wußte …

Erst der Leichenräuber und – ei – ei, daß sie fast vergessen hätte, dem liebenswürdigen Dechanten für das wunderschöne, prächtige Obst zu danken – –

Bitte! Bitte!

Köstliche Birnen … Na heute Abend, der große Zapfenstreich …

Der Leichenräuber? …

Nun, nicht wahr? Aber mein Mann vermuthet schon einen gewissen Bickert, einen Menschen, der jahrelang in Frankreich im Zuchthause gesessen hat, dann über die Ardennen herübergekommen ist, bald da, bald dort herumstreift, mit einer ganzen Bande zusammen im Hundsrück die Roßtäuscherei getrieben hat, rotzkranke Pferde für gesunde aufputzt … danke, danke, meine Liebe! der Thee macht mir noch zu heiß! Ein Stückchen von Ihrem Kuchen – Delicat!

Auf dem Lande und in kleinen Städten gewöhnen sich die Menschen an alles Natürliche und Thatsächliche. Sie[202] können von Krankheiten der Thiere mit demselben Interesse reden hören, wie man in großen Städten nicht einmal von den Krankheiten der Menschen spricht. Der Major war selbst Pferdehändler. Seine Gattin spann seine Vermuthung über die Gefährlichkeit dieses Bickert selbst bis auf eine Schilderung der Künste aus, wie man den sogenannten Rotz auf einige Tage scheinbar beseitigen kann.

Mitten in diesem Fragen, Berichten, Wundern kam auch der Major …

Es war eine hagere, mehr bureaukratische als militärische Erscheinung. Er trug Uniform, doch saß sie ihm nicht so stramm und geschlossen, wie man hier in den militärischen Kreisen sich zu zeigen gewohnt ist. Als Candidat der Theologie war er 1815 unter die Fahnen seines Königs getreten und hatte eine Carrière gemacht, die jetzt gewissermaßen wieder in ihre frühere moralische, wenigstens civile Bestimmung zurücklenkte. Als Lieutenant von der Armee abgegangen, war er bei den Gensdarmen allmählich bis zum Major gestiegen und griff nun in Gesetz und Ordnung als Chef eines rings zerstreuten, den Landräthen und Regierungsämtern zur Verfügung gestellten Gensdarmeriecorps ein. Man sollte kaum glauben, daß ein ehemaliger Lateiner so ganz im Berittenen, namentlich im Pferdehandel, aufgehen konnte, wie Schulzendorf, obgleich er immer noch etwas Gelehrsamkeit in Bereitschaft hielt. Seine grauen Augen bekamen oft ein lebhaftes Feuer; um die spitze Nase legten sich aufs blasse Antlitz zwei lange mephistophelische Furchen; der Bart auf der Oberlippe zuckte in allen seinen dünnen grauen Härchen; das Kinn, das in der Mitte gespalten war,[203] streckte sich mit einer Entschiedenheit, die ganz in seinen Charakter des Schlauen und Gekniffenen paßte.

Sogleich warf er einen scharfen und prüfenden Blick auf die ihm als Nichte der Frau von Gülpen vorgestellte Lucinde.

Waren Sie schon früher in unserm Kocher hier? fragte er sie, als sie ihm den Thee credenzen mußte.

'S ist das erste mal! antwortete sie, den Blick niederschlagend.

Sie finden eine kleine Stadt, in der leben zu sollen Ihnen sehr langweilig vorkommen wird! warf artig der Dechant ein.

O! bemerkte Frau von Gülpen, acht Tage läßt es sich schon in Kocher aushalten!

Lucinde wußte bereits, daß alle Nichten anfangs sogar nur auf drei Tage kamen.

Die Majorin verzog ein wenig spöttisch die Miene. Der Major aber, in jener beflissenen Weise, die den Ghibellinen im Lande der Welfen nur zu oft ihre Schreckhaftigkeit nimmt, ging ganz auf die Aeußerung der Frau von Gülpen ein und sagte, wenn auch mit einer etwas anzüglichen Betonung:

Die Kirchen hier sind uralt; noch älter ist aber die Synagoge, die Sie sich einmal ansehen müssen! Die Stadt Kocher ist schon vor Pontius Pilatus angelegt gewesen und gewiß eine jüdische Colonie! Ursprünglich hieß sie ohne Zweifel Koscher, die Reine!

Hielt der Major Lucinden für eine Jüdin?

Alle Anwesenden fixirten Lucindens Erscheinung …

Indessen lenkte der Major auf andere Fährte. Er[204] kam auf das Interesse, das nach solchem Ursprung gleich die ersten Christen für Kocher gehabt haben müßten und führte die kirchliche Bedeutung der Stadt bis auf die neuesten Erscheinungen herab.

Lucinde hatte ihr goldenes Kreuz nicht angelegt. Sie begriff sehr wohl, daß der Major auf ihren Uebertritt anspielen wollte und senkte den Blick wie eine Fromme.

Sie ist fromm! war nun das einstimmige Gefühl aller Anwesenden und, seltsam genug für die Wohnung eines Geistlichen, Lucinde verlor plötzlich bei Frau von Gülpen sowol wie bei Windhack. Nur dem Dechanten gewährte diese Entdeckung einen neuen Reiz. Eine Fromme hatte ihm die langjährige alte Freundin noch niemals vorgestellt.

Man verlor sich indessen in Klagen über Wilddieberei, Unsicherheit der Gegend, Aufsätzigkeit der Landbewohner und, wie das dann geht bei einem Damenthee, man fand das Uebel lediglich in den Dienstboten.

Die gleichfalls dann in ihrem Einfluß auf das Volk angeschuldigten Juden rechtfertigte der Dechant mit den Worten:

Warum läßt unser Leben so viel Lücken offen, daß ein Verschmitzter überall hineinschlüpfen kann! Die Juden sind durch uns selbst ein Volk geworden, das seine Tugenden darin finden muß, unsere Fehler zu benutzen! Wir sind, soweit man die Geschichte überblickt, die Opfer ihrer subtilen Rache geworden und werden es noch immer mehr werden!

Sie sprechen fast wie Grützmacher! sagte der Major. Der kann nie entdecken, wo die Hasen-Jette ihre Rebhühner und Hasen herbekommt![205]

Indem bekam Frau von Gülpen von dem immer nur leise und behutsam auf den trotz des Sommers ausgebreiteten Teppichen hin und wieder gehenden Windhack eine Meldung ins Ohr geflüstert.

Sie flößte ihr einen ersichtlichen Schrecken ein.

Was ist? fragte man allgemein und voll Theilnahme und Spannung.

Frau von Gülpen stockte, sagte dann aber mit einem Blick der Besorgniß auf den Dechanten:

Treudchen Ley will nach Hause … der Mutter wäre es schon wieder … Chère nièce … gehen Sie doch zu Treudchen und erkundigen Sie sich in der Geräthkammer – oder ich will doch lieber selbst gehen …

Treudchen Ley schien alle zu interessiren und wohl vermuthete man: Windhack hatte eigentlich gemeldet, Treudchens Mutter läge im Sterben. Der Dechant war der Beichtvater der Kranken. Die Arme schleppte sich schon lange mit der Zehrung; ihr Ende stand ihr näher bevor, als sie es selbst und die Ihren ahnen mochten. Jetzt sah Frau von Gülpen, wie angegriffen der Dechant schon war von dem unruhigen Tage und seinen wechselnden Eindrücken – sie gönnte ihm die Erquickung eines ungestörten Abends – nun sollte er noch –

Aber schon erhob sich der Dechant. Wenn ihm auch die Bequemlichkeit über alles ging, so kannte er doch die Schicklichkeiten seines Amtes.

Ich werde zu der Armen gehen! sagte er.

Allgemein aber mußte man der Frau von Gülpen, die in die Geräthkammer gegangen war, Recht geben, daß sie noch geäußert hatte, diese Schreckensbotschaft von der[206] guten Frau Ley wäre ja schon so oft gekommen und immer hätte die Dulderin sich wieder erholt, ja sogar es bereut, als sie in einem ähnlichen Anfall schon einmal die Wegzehrung erhalten und dann doch nicht gestorben wäre. Spendet auch die Kirche diese letzte Wohlthat gern in der Voraussetzung, daß sie nicht den Tod, sondern die Genesung erleichtre, so sparen sich die Sterbenden doch gern die hülfreiche Rüstung zum Eintritt in den peinvollen Vorhof des Himmels zu dem Augenblick, wo sie deren wirklich bedürftig sind.

Also rieth man dem Dechanten zu bleiben und Windhack, der der Frau von Gülpen in die Weißgeräthkammer, wo ein liebes zartes Kind, Treudchen Ley, den ganzen Tag über an neuen feinen Hemden gesteppt hatte, nachgegangen war, kam schon mit der Beruhigung zurück, Treudchen wäre zwar gegangen, hätte aber hinterlassen, sie würde sogleich schicken, wenn es nöthig würde.

Geschwister hat sie genug dafür! sagte Frau von Gülpen, die schon zurückkam … Sie sagte dies ganz voll Mitleid, aber scheinbar ohne die mindeste Erregung.

Der Dechant beruhigte sich also.

Wissen Sie wol, lenkte er in ein inzwischen vom Major begonnenes Gespräch über Wilddieberei ein, wissen Sie wol, das Schmerzenslager unserer guten Frau Ley ist eine Folge der Wilddieberei?

Man wußte nur Einzelheiten davon. Während Lucinde den fortgesetzt forschend auf ihr ruhenden Blick des Majors bald fragend suchte, bald erschreckend vermied, erzählte der Dechant:

Ehe noch die Juden in Kocher am Fall den Muth[207] gehabt hätten, an Christen von ihrer eigenen Metzgerkunst mehr zu verkaufen als Gänseblut …

Allen Bewohnern von Kocher war gegenwärtig, daß die Hasen-Jette, Frau Henriette Lippschütz, die jetzige Wildprethändlerin, die Witwe eines einst auch von Christen stark in Nahrung gesetzt gewesenen jüdischen Metzgers war …

Und ehe noch, fuhr der Dechant fort, die Blume der ganzen Judenschaft in Kocher am Fall, mein unvergeßlicher theuerster Busenfreund Dr. Leo Perl, zu unserer Kirche übergetreten war – er hat einst in Borkenhagen unsern guten Bonaventura getauft … Sieh, sieh! unterbrach sich der Dechant selbst, – käme Bona noch, der Wunsch der Frau wenn sie stürbe wäre erfüllt; von ihm hätte sie am liebsten die letzte Zehrung empfangen …

Frau von Gülpen stellte die Nothwendigkeit einer schon so nahen Gefahr und die Erfüllung jenes Wunsches, den Lucinde schon vorgestern aus dem Munde Grützmacher's kannte, wiederholt in Abrede …

Kurz, vor langer Zeit schon, nahm der Dechant seine Erzählung auf, war der angesehenste Metzger hier im ganzen Orte Treudchens Großvater, der alte Petrus Ley. Als ich hierher an den Dom kam – auf Veranlassung hauptsächlich jenes, so früh dahingegangenen Seltensten der Menschen Leo Perl –, stand niemand unter seinesgleichen höher im Ansehen als Herr Petrus Ley. Eine Freude war's, den Mann in seinem stattlichen Hause unten am Fall zu sehen, wie er, über der Brust die weiße Schürze und mit dem Messer im Brustlatz, an seiner Schranne stand! Den Mann plagte aber plötzlich das[208] Wohlleben, der Müßiggang und mit ihm, wie es auf dem Lande geht, die Jagdlust. Hatten entweder, wenn er über Land zum Einkauf von Schlachtvieh reiste, seine Hunde die Neckerei, Hasen aufzustöbern, die sie ihm zuschleppten – so erzählte er später selbst den Ursprung seiner Jagdlust – oder reizte ihn sein bürgerliches Wohlbefinden, er pachtete eine Jagd und wurde ein so leidenschaftlicher Jäger, daß ihm sein eigenes Gebiet nicht mehr genügte. Die Kugel, einmal im Lauf, sagt unser großer Schiller, ist verhängnißvoll! Sie fuhr auch für Petrus Ley heraus, wenn die Grenzmarke seines Geheges längst überschritten war. Ich mag nicht leiden, wenn ein Bäcker, der für tägliches Brot, meinetwegen Sonntags für Kuchen zu sorgen hat, sich zu feinern Näschereien versteigt. Ein Metzger, der dem Wild nachstellt und das dann zwar nicht aufhängt unter seine Rindsviertel und gespaltenen Lämmer, aber unter der Hand doch auch verkaufen muß, begeht fast eine Untreue an seinem Beruf. Ich will nicht sagen, daß sich sein Beruf rächte, aber Petrus Ley erlebte das Unglück, nach einer heißen Jagd, die ihn nicht wenig mitgenommen hatte, auf freiem Felde von einem Unwetter überfallen zu werden. Der Regen goß in Strömen. Kein Baum, kein schützendes Gestein. Das Wetter endete nicht. Darüber brach die Nacht an; die Nebel umspannen vollends die Gegend. Voll Unmuth wirft sich der reizbare, zum Jähzorn geneigte Mann auf die Erde und bleibt liegen bis zur Besinnungslosigkeit. Das Winseln seines gleichfalls halbtodten Hundes machte einen vorüberfahrenden Bauer aufmerksam; Petrus Ley wurde mit seinem Hunde vor dem immer fortströmenden Regen unter dem Stroh des[209] Wagens geborgen. Herr und Hund kamen nach Hause, Ley aber wurde todtkrank und behielt von dem Tage an die Gicht in einem Grade, der sich aufs höchste steigerte und ganz unheilbar wurde. Der vermögliche Mann reiste in die Bäder und kam immer kränker zurück. Fast gelähmt an allen Gliedern, hatte er Schmerzen, die den Unglücklichen zum Gegenstand des allgemeinsten Mitleids machten. Wie oft hab' ich für ihn die Fürbitte gehalten! Fast immer im Bett liegend, mußte er die Führung seines Gewerbes seinem Sohn überlassen, der in keiner Hinsicht ihm ähnlich war. Ein träger und bequemer Mensch, hatte Joseph Ley die Früchte der Anstrengungen seines Vaters geerbt, liebte aber die Gesellschaft, das Kartenspiel, den Wein und vernachlässigte so sehr die ihm nun ganz allein übertragenen Geschäfte, daß sie zurückgingen und der zusammengekrümmte, auf seinem Lager stöhnende alte Vater Verwünschungen über Verwünschungen über den Buben, wie er ihn nannte, ausstoßen mußte. Joseph hatte selbst schon lange ein einst vermögendes Mädchen geheirathet, die Tochter eines angesehenen, nur mit zu viel Kindern gesegneten Landwirths. Das immerhin beträchtliche Eingebrachte derselben war bei dem Zurückgehen des Geschäfts bald verbraucht; die Kundschaft verminderte sich, die Concurrenten machten bessere Einkäufe. Alledem sah der von der Gicht krummgezogene Alte, der inzwischen Großvater geworden war, von seinem Lager mit Verzweiflung zu. Innerer und äußerer Schmerz folterten den Greis, der nicht mehr gehen und stehen konnte. Hörte man wilde und laute Verwünschungen aus dem einst so stattlich gewesenen, jetzt die Spuren des Verfalls tragenden[210] Hause, so wußte man schon nicht mehr, waren es die Ausbrüche des Zankes mit seinem Sohn oder die Klagerufe des von seinen Schmerzen Gepeinigten. Dieser Zustand dauerte einige Jahre. Die Verlegenheiten wuchsen; das Haus gehörte schon nur den Gläubigern; Pfändungen folgten auf Pfändungen, und wie es zu gehen pflegt, das Verderben wird unaufhaltsam und wird es auch innerlich für den Charakter des davon Betroffenen. Joseph Ley verkaufte und versetzte ein Stück nach dem andern; die Frau, eine redliche, brave, treue Seele, mühte sich mit der Befriedigung des letzten Restes von Kundschaft, um nur die Kinder erhalten und erziehen zu können. Die Vergünstigungen der Armuthspenden in Empfang zu nehmen, war man noch, schien es, zu stolz. In der Nebenstube des Wohnzimmers, aus dem hinaus man in die jetzt fast immer leere Verkaufsflur trat, stand ein Bett mit Kattunvorhängen; rings von diesen eingeschlossen, um das Licht abzuhalten, das die trüben, rothen Augen des Alten blendete, lag der Alte. Da rückte man ihm eine Fleischbank hin, auf der er Speck und geräuchertes Fleisch schneiden half und Wurst hackte. Eines Tages fand man die Vorhänge sorgsam zugezogen; man öffnete; Petrus Ley hatte sich mit dem großen Messer, das immer in seiner Nähe lag, erstochen. Nun vollends war der Segen des Hauses dahin! Die blutige Gestalt des Großvaters verscheuchte jeden der letzten Kunden, auch die, die aus Mitleid noch gekommen wären. Mit Grauen und Ekel ging man an dem Hause eines Metzgers, der sich selbst erstochen hatte, vorüber, und sah man auch manchmal an der Thür noch ein einziges[211] junges Lämmchen hängen mit ausgebreiteten, an Stecken befestigten Füßen, – die gute unglückliche Frau Ley putzte und scheuerte hellgelb die Haken, an denen einst die schweren Rinderviertel gehangen, die Wagschale blinkte so sauber durch die Fensterscheiben der Hausflurthür wie sonst, – drinnen sah es doch öde und leer aus. Joseph saß dann bald nur noch im Wirthshaus, trank und spielte. Die geistlichen Vermahnungen halfen nichts; es lag wie ein Fluch auf dem Hause, dessen gänzliche Verödung nur das Mitleid um die rechtschaffene Frau abwandte. Das haben wir ja alle erlebt, wie diese unheilvolle Kette an verderblichen Ringen immer reicher wurde! Die kleinen Kinder wuchsen herauf, halfen da und dort; der Vater hatte Augenblicke, wo er sich zusammenraffen wollte. War dann einmal ein Thier gekauft worden, war das ein Jubel von Frau und Kindern! Sie liefen in die ganze Nachbarschaft ringsum und verkündeten die frohe Mär: Der Vater hat ein Schwein geschlachtet! Was ließ sich dann thun? Man mußte den jüdischen Metzger Lippschütz, an den man sich unten am Fall schon gewöhnt hatte und zu dessen Praxis ohnehin diese eine Thiergattung nicht gehörte, übergehen und die arme Frau Ley glücklich machen, die dann freilich erleben mußte, daß der Mann, gleichsam um sich von einer einzigen großen That, dem Schlachten und Zurichten und Verputzen eines einzigen Thieres, auszuruhen, dann wieder im Wirthshause saß und durch erkünstelte Bravaden seine innere Zerfallenheit zu übertrotzen suchte. Sein Blick wurde wilder und scheuer, man mied ihn und je mehr die Theilnahme für die Mutter und die Kinder zunahm,[212] desto vereinsamter fühlte sich ihr Mann, der Joseph. Die arme Frau lief oft sechs Stunden Weges zu Fuß über Land, um irgendeinen Ankauf zu machen; die Kinder folgten, und zu rührend war der Anblick, wenn sie dann ein Lämmlein oder ein taumelndes Kälblein die Landstraße dahertrieben und den Vater aus dem Wirthshause abriefen, damit er an dem auf Borg oder für ein Geringes Eroberten seine Kunst zeigte. Wir wissen alle, daß eines Tages am Pfosten des Schlachthauses nicht ein solches kunstgerecht ausgeweidetes Lämmlein, sondern der Joseph selber hing! Wie sein Vater war auch er aus der Welt gegangen; jener Selbstmord war aus Ungeduld und Stolz, dieser aus Furcht und Scham entstanden; sein Trotzen war eben nur, wie es geht, ein falsches Spiel gewesen. Dann wurde Meister Lippschütz Herr der ganzen Kundschaft bei den Gerbern und Färbern unten am Fall, bis auch der starb und seine Frau die Metzgerei nicht fortführen konnte. Das, Fräulein Schwarz, ist nun unsere Hasen-Jette, die Sie sehr oft auf unserer Dechanei sehen werden! Sie ist eine vortreffliche Frau, wenn auch der Major ihren geheimen Lieferanten nicht traut … Nun stirbt die gute Frau Ley! Ich muß doch hinunter in die Stadt! Man kommt nicht wieder … Gute Nacht!

Der Dechant erhob sich allen Ernstes. Sein gutes Herz hatte über die Bequemlichkeit den Sieg davongetragen.

Sein Entschluß wurde aber von einem heranrollenden Wagen unterbrochen.

Der Pfarrer von St.-Wolfgang! rief alles und Frau von Gülpen trat ans Fenster.

Es war aber nicht diese heiß von ihr ersehnte Ablösung[213] für den Dechanten, sondern es waren die geistlichen Herren vom Diner und von der Conferenz. Windhack kam schon und berichtete: Sie hätten ihre Ueberkleider, Bücher, Regenschirme noch in der Dechanei zurückgelassen und wollten sich, da sie jetzt erst abreisten – bis um acht Uhr hatten sie Gelegenheit genug gefunden sich in Kocher am Fall zu zerstreuen –, alles in den Wagen nachreichen lassen.

Frau von Gülpen fürchtete, daß man nicht jedes da, wo sie es hingelegt hatte, finden würde und schickte auch noch Lucinden mit den nöthigen Anweisungen hinunter.

Windhack war schon vorangegangen. Ohnehin war er im Aufdecken begriffen. Nach dem Thee pflegte man in der Dechanei immer noch ein Nachtessen einzunehmen, das bereits aufgetragen wurde … Man drängte inzwischen den Dechanten, die Botschaft Treudchens erst abzuwarten und sich zu beruhigen.

Bald hörte man, daß nach wenigen Augenblicken auch schon der Wagen unten wieder abgefahren war.

Eben machte der Major einige Glossen über die Anhäufung geistlicher Versammlungen, über die Unbesonnenheit, mit der man Zwecke zur Schau trüge, die böses Blut nach oben setzen müßten, über die fanatischen Schwärmereien des Stadtpfarrers, der sogar allerlei Abenteurer ins Land riefe, jetzt die Italiener, die diesmal Heiligenbilder verkaufen müßten zu Spottpreisen, wie ihnen durch einen Verein ermöglicht würde; ja, auch den »Kirchenboten« hätte er heute wieder so scharf geschrieben gehabt, daß man ihn in der Censur von Anfang bis zu Ende gestrichen hätte …[214]

Er kannte die Spannung zwischen der Dechanei und dem Stadtpfarrhause und sagte ganz offen:

Man möchte fast glauben, der fanatische Mann hat die Herbstmanöver abgewartet, um seine bekannten Anschuldigungen der Regierung besser unter die Leute zu bringen!

Schon sprach man dem Mahle zu, schon füllten sich die Gläser … Man erörterte die heutige Conferenz. Der Dechant zuckte die Achseln und schwieg zu des Majors Besorgnissen … Man sprach von dem ausbleibenden Benno, der wahrscheinlich durch seine Kameraden gefesselt war, und bemerkte endlich die auffallende Nichtwiederkehr der Nichte der Frau von Gülpen.

Der Dechant war der erste, den ihr Außenbleiben störte.

Eine Erörterung über sie, eine Kritik über ihren Eindruck ließ sich noch nicht anknüpfen; man konnte annehmen, daß sie eben eintreten würde.

Ihr Couvert blieb aber leer. Sie kam nicht …

Jetzt fragte man Windhack, der servirte …

Windhack wußte keine andere Auskunft, als daß »Fräulein von Schwarz« ihm noch vor einer halben Stunde draußen geholfen hätte, den Herren in ihren Wagen die verlangten Sachen nachzureichen. Da hätte sie ein Licht gehalten und plötzlich wäre ihr das Licht aus der Hand entfallen und dann, als der Wagen fort war, hätte er sie gar nicht mehr gesehen …

Frau von Gülpen fand das Fallenlassen des Lichtes »doch auch sonderbar« und nun öffnete sich manche verhaltene Schleuse …

Die Freundinnen schickten zuerst das größte Lob voraus[215]  – nach dem System der Sheridan'schen Lästerschule war dies gleichsam das Einkaufungsrecht, hinterher desto schärfer tadeln zu können.

Flüsternd nur und sehr discret fand man die junge Dame außerordentlich interessant, mit andern Worten höchst unheimlich und kein Vertrauen erweckend; man fand sie wunderbar schön und majestätisch, mit andern Worten zum Dienen nicht im mindesten geschaffen; man bewunderte ihre Augen und fand sie außerordentlich klug, d.h. gefährlich und Vorläufer mancher Beunruhigungen der Dechanei und der Stadt.

Die Frau Majorin schwieg vollends – was bei ihrer Zungenfertigkeit das am meisten Sagende war – und der Major knöchelte nur ein kaltes Huhn aus und legte die Reste so hieroglyphisch vor sich auf den Tellerrand, als wollte er damit das bekannte Räthselspiel einer verwundenen Bandschnur lösen …

Jetzt fragte ihn Frau von Gülpen geradezu, worüber er denn heute eine so ganz extrafeine Miene machte … und der Majorin sagte sie schon:

Unsere Familie ist so groß, daß ich oft erschrecke, ihre nähere Bekanntschaft zu machen!

Und als nun gar Fräulein von Minnerich die Anspielungen des Majors auf den jüdischen Ursprung der Stadt Kocher in Verbindung brachte mit einem gewissen orientalischen Air der Nichte und die Tante darüber in Verlegenheit gerieth, konnte der Major nicht mehr umhin zu sagen:

O Beste, nein! Ich wollte nur auf ihre hohe Religiosität anspielen … sie ist ja eine Convertitin …[216]

Feierliches Schweigen …

Man sah sich um, ob Lucinde kam.

Da sie ausblieb, ermunterte Frau von Gülpen, die diese Eigenschaft ihrer Nichte nicht gekannt hatte, den Major, ganz offen sich auszusprechen.

Sie wissen, sagte sie, ich bin schon so oft von meinen Angehörigen getäuscht worden! Noch unser letzter Besuch, Fräulein Angelika Müller –

Ich habe einen Brief von ihr auf meinem Zimmer liegen, sagte der Dechant und wünschte offenbar damit das Gespräch abzubrechen … ihm gefiel Lucinde … er wäre gern auf einen andern Gegenstand übergegangen.

Grützmacher, sagte aber der Major, sah sie schon gestern beim Pfarrer von St.-Wolfgang …

Wir hatten sie dorthin empfohlen, bemerkte Frau von Gülpen, um ihre Sicherheit zu beweisen.

Sie kannte Herrn von Asselyn schon seit Jahren …

Sie kommt aus der Stadt, wo er geweiht wurde …

Nun, wir werden ja sehen …

Sehen? hieß es allgemein.

Ich verschweige Ihnen nicht, gestand jetzt der Major ganz offen, die Dame ist uns zur Aufsicht anempfohlen worden …

Zur Aufsicht?

Als Emissarin! Ihre fanatische religiöse Gesinnung …

Bei dem Worte »Emissarin« verschüttete fast Frau von Gülpen den Inhalt der goldenen Dose, die der Dechant suchte und die sie ihm, selbst in größter Aufregung jede seiner Mienen, jedes seiner Bedürfnisse beobachtend, hinreichte und öffnete …[217]

Dem alten Windhack schien es geradezu Spaß zu machen, Frau von Gülpen so gleichsam immer mehr in die Lüfte gehoben zu sehen. Er schenkte dem Major sein Glas mit 24er Mosel-Auslese ebenso oft voll, wie dieser es leerte. Dadurch kam die Mittheilungslust desselben in Gang und nicht zwanzig Minuten währte es, so wußten, natürlich nur in gemüthlichster Andeutung, alle, daß Lucinde Schwarz kaum viel mehr als eine Abenteurerin war, schon einen sehr verwickelten Lebenslauf gehabt hätte, ja auf Schloß Neuhof beim Kronsyndikus von Wittekind gewesen war, damals namentlich als vor sechs bis sieben Jahren jener Theilungscommissar so räthselhaft getödtet wurde, der Vater eben jenes Mönches, der jetzt Pater Sebastus hieß und vielleicht in diesem Augenblick unter den unten angefahren gewesenen Geistlichen sich befunden haben konnte … Ja, bis zu Lucindens erstem Anfang gingen die Mittheilungen zurück, bis zum Hause des Stadtamtmanns und sogar bis zu ihren ersten Abenteuern mit einer alten Frau Hauptmännin von Buschbeck …

Längst hatte von Kocher her der Zapfenstreich sich vernehmen lassen …

Der Dechant stand schon bei dem Namen »Schloß Neuhof« auf …

Frau von Gülpen folgte seinem Beispiel bei dem Worte »Buschbeck«.

Lucinde war nicht wiedergekehrt …

Die Freundinnen besaßen Takt genug, nachzufühlen, daß dieser Abend gestört war, und den Zapfenstreich hatte eigentlich niemand versäumen wollen …[218]

Major Schulzendorf hatte Lucinden keineswegs anklagen wollen. Er hatte nur das Interesse, das sie vollkommen einflößen durfte, genauer motivirt. Nicht im mindesten durften er oder seine Gattin annehmen, daß seine immer den Rücksichten des Hauses und den vortrefflichen Speisen und Weinen desselben Rechnung tragende Mittheilung irgendjemanden hier verletzte.

Man trennte sich wie mit dem Gefühl allgemeinster Befriedigung …

Frau von Gülpen aber fiel, als sie mit dem Dechanten allein war und ihr scharfes Ohr die letzten Schritte der Gäste verklingen gehört hatte, geradezu in eine Ohnmacht …

Der sanfte Mann that alles Mögliche, sie zu beruhigen.

Nicht vierundzwanzig Stunden länger bleibt sie im Hause! hauchte die Freundin mit einer ihr fast vergangenen Stimme.

Die Haube löste sich, die schönen kastanienbraunen Scheitel kamen in Unordnung …

Und plötzlich raffte sie sich auf und klingelte.

Was thun Sie? Was soll das? fragte der Greis.

Windhack, der die Gäste hinausbegleitet, kam zurück.

Das Fräulein –

Die Stimme versagte … versagte um so mehr, als der Dechant sich einer sofortigen Citation Lucindens entschieden widersetzte.

Windhack berichtete, er hätte oben geklopft und die Antwort bekommen, sie wäre müde und wünschte allein bleiben zu dürfen …[219]

»Wünschte! Allein bleiben zu –«! lachte Frau von Gülpen förmlich auf, wie über eine Prätension der höchsten Anmaßung …

Beruhigen Sie sich, liebe Freundin! unterbrach der Dechant wiederholt und mit Entschiedenheit. Verurtheilen Sie nicht wieder zu schnell! Morgen wird sich alles finden! Ich bitte sehr darum! Windhack, leuchte! Ich habe noch Briefe zu lesen. Keine Störung! Keinen Tumult! Ruhe und Friede! Ich bitte darum! Gute Nacht, liebe Freundin!

Damit ging der Greis erregt, wie seit lange nicht, auf sein Zimmer.

Die Schnurrenthüren nebenan bei Frau von Gülpen beruhigten sich aber noch bis tief in die Nacht nicht, so oft gingen sie auf und zu und so oft zu und auf …

Nie noch konnte eine Tante über eine Nichte in größerer Aufregung gewesen sein.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 2, Leipzig 1858, S. 199-220.
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