Vierzehntes Capitel
Zum Lebewohl

[2305] Der schmerzliche Accord, der durch unsre ernster tönende Erzählung fährt, lautete:

»O es ist wol eine der herbsten Entbehrungen, Helene, die sich der Mensch auferlegen kann, wenn er sich dem Arme der Liebe entwindet. Ich habe lange gerungen, mich von den grauen und düstren Vorstellungen, die mein Gemüth umschatteten, zu befreien. Ich kann nicht anders; ich bin den finstern Mächten der Überlegung verfallen und was ich auch beginne, mich wiederaufzuschwingen zu einem großen, vorurtheilslosen, freien Blicke über das Leben hin, ich kann es nicht. Ich erfülle mein Schicksal.

Was mich zu dir führte, geliebte Helene, hab' ich oft dankend gestammelt. Es war nicht deine Schönheit allein, nicht die Güte deines Herzens, die sorgsame Liebe und Sorgfalt, ja leidenschaftliche Vergötterung Dessen, was du einmal in das Heiligthum deines Herzens eingeschlossen hattest, es war ebensoviel von meinem eignen innern Drange, gerade Das, was ich in dir fand, gerade Das zu besitzen. Ich Ärmster hatte der Liebe so wenig gefunden im Leben! Liebe ist das behagliche Glück der reinsten[2305] Menschlichkeit. Liebe ist das stille Ausruhen an einem Platze, wo es allen Sinnen, den innern und äußern, wohlergeht. So glücklich war ich zwei mal! In Lyon und in Enghien!

In Paris verlor ich Louison. Ich verlor diese Liebe an Paris selbst. Es gehört zur Liebe ein schlummernder Mensch, der wenig bedarf, wenig begehrt, viel träumen kann. Ein solcher war ich nicht mehr, als ich die große Weltstadt sah, das Gewühl der Menschen, die von Interessen und Meinungen durcheinander gejagt werden. Louison's liebliche Gestalt reichte bis zu den Phantasieen nicht mehr hinauf, die mich in der großen Weltstadt zu umgaukeln anfingen. Und doch wollt' ich entsagen, wollte nicht sein und scheinen was ich war, wollte mich verbergen, lernen, mich bilden. Ich mochte den Begriffen, denen ich in Lyon Treue geschworen hatte, nicht entsagen. Da fand ich Alles, was ich vermißte, in deiner Liebe! Du hast mich geliebt, Helene, wie die Mutter, die sich vom Gatten abwenden muß, ihr Kind anbetet und in reinen Flammen ihre ganze Seele zu läutern glaubt! Du fingst an, dich selbst zu lieben, dir selber zu gefallen, als du deine ganze Kraft der Aufopferung mir dahingabst! Aber auch damals, theures Wesen, warst du mir nur der Widerschein eines innern Bildes, die Befriedigung eines von mir selbst gefühlten Bedürfnisses, ein Gedanke, eine Stufe der Entwickelung, ein Standpunkt zur Anschauung des Lebens. Ach, daß es so ist! Aber wer kann es leugnen? Ich war glücklich, bei dir von einem Irrthume, einer Grille[2306] auszuruhen. Du nahmst mich ohne Ansprüche. Du wolltest nicht, daß ich glänzte, meinen Ruf wiederherstellte. Du liebtest nur mich, die Person, mein Lachen, mein Weinen, mein Hoffen, mein Klagen, den Menschen, den schwachen, träumenden, bequemen Menschen, der mit der Welt grollte, mit den Seinigen gebrochen hatte und über eine Zukunft philosophirte, die er sich nach den Stimmungen des Augenblicks wechselnd und immer anders ausmalte. Die Flamme brannte und nahm den Docht, wo sie ihn fand. Das Zufälligste machte uns glücklich und Unterhaltung fanden wir in uns selbst.

Eine schmerzliche Reue trennte uns. Du weißt, Helene, wie ich mich plötzlich aufgeschreckt fühlte. Ich konnte so, wie sonst, nicht zurückkehren zu dir! Ich hatte Louis Armand wiedergesehen und fand in ihm noch alle die Keime der Gedanken wieder, die ich in mir selbst erstickt hatte. Ich gab dich nicht auf, Helene! Das weißt du wohl. Ich floh nicht vor dir, sondern vor mir selbst. Ich floh vor dem Bilde der Trägheit, der zwecklosen Träumerei, das mir von mir selber vorschwebte. Ich floh vor den Jahren, um die ich den Schöpfer betrogen zu haben glaubte. Unschlüssig über mich selbst kam ich hier an. Louis dachte für mich, handelte für mich. Ich folgte seinen weiseren Anordnungen. Die Reise nach Hohenberg, die Krankheit ist dir bekannt, auch unser Wiedersehen, Helene! Frage den Gott der Liebe, ob es falsche Schwüre waren, die ich in der Seligkeit dieses Wiedersehens gelobte ... sie waren nicht untreu gemeint. Aber ich fühle[2307] es, die Art, in der ich allein noch, was ich damals verhieß, ausführen kann, wird dir nimmer genügen.

Ich habe angefangen, Alles, was ich seit Genf, seit den deutschen Universitäten, seit Lyon und Paris über die Gesellschaft und das Staatsleben gedacht habe, jetzt in ein System zu bringen. Ich muß den Anfang eines männlichen Berufes machen. Ich bedarf jetzt einer unendlichen Freundschaft, kann aber nur sie, nicht die Liebe, erwidern. Ich fühle mich zur Liebe, zur Hingabe ebenso zerstreut, matt, ohnmächtig, wie glühend ich die uneigennützige, blindeste, treueste Freundschaft bedarf. Es ist mir jetzt, als wenn Männer, die etwas Großes wollen, nicht in der Weise, wie es die Dichter besingen, lieben können. Werf' ich dir vor, daß du es verschmähst, von meinen Almosen zu leben, von den Blicken zu zehren, die ich in Sturmeseile einen Augenblick innehaltend dir flüchtig zuwerfe? Wärst du selber ehrgeizig, du begnügtest dich mit ihnen. Aber du bist es nicht. Du willst nur Liebe, das Glück des stillen, ungestörten Besitzes. Du bist eine Lebensdichterin! Ich bin, wenn ich in allen meinen Hoffnungen und Entwürfen einst scheitern werde, höchstens so glücklich, der Gegenstand eines Dichters zu werden, der mich mit einem Gebet für meine Seele, mit einer Entschuldigung für die Welt, in seiner Darstellung einschaufelt.

Du hast dies Leiden gefühlt, Helene, und mir gestern, als ich so grausam, so kalt war, wieder von dem Worte gesprochen, das du schon einmal fallen ließest, du wolltest[2308] mein Weib werden! Helene, daß ein Wort, worin für ein Weib ihre ganze Kraft, ihre ganze Allmacht liegt, hier wie ein Almosen klang, das nicht einmal du gabst, sondern du nahmst! Mein Weib! Helene, du mein Weib! Daß ich verneinend so auffuhr, daß ich so wild stürmte, was war es denn, als daß ich dich für zu hochhalte, um mit dem Bettelpfennig der Ehe die Schuld abzutragen, die du an meiner Liebe zu fordern hast! Soll die Berechtigung der Ehe harren und warten, bis ich geneigt sein kann, gedrungen mich fühle, die starre Form zu beleben und zu beweisen, daß die Ehe nicht das abfallende Saamenkorn der Blüte, sondern die Blüte in ihrer vollsten Schöne und reichsten Entfaltung sein soll? In dem Augenblick, Helene, als du von der Ehe sprachst, da sah ich dich mit einem Blatt Papier und einer Feder in der Hand. Schreibe, daß du mich lieben willst oder kraft dieses Blattes mach' ich dir das Leben zur Hölle! So klang es mir in's Ohr. Mußt' ich nicht fliehen?

Ich bin nun Minister eines großen Staates. Ein Beruf von unsterblicher Bedeutung! Ich habe volle Gelegenheit, mich zu tummeln und werde wenig Abende – von Tagen red' ich nicht – wenig Nächte ganz mein nennen können. Träumen, Helene, wird von dir der erschöpfte Geist. Im Traume von dir werd' ich Erquickung finden. Diese Furcht vor Dem, was mich binden, mich von meinen Geisteszielen entfernen könnte, geht so weit, daß ich auch von Louis Armand für diesen Winter Abschied genommen habe. Er geht nach meinem väterlichen Schlosse Hohenberg.[2309]

Auch die jungen Wildungen, die Beide die Residenz verlassen, lass' ich gern ziehen. Alle Drei sind mir theuer geworden, aber ihre Idealität und träumerische Unbestimmtheit drückt mich. Sie stellen mir Zumuthungen auf den Grund von Voraussetzungen, in denen sie sich irren. Ich habe die Blouse getragen, habe den Hobel geführt, es war keine Grille. Aber, wer sagt denn, daß ich darum die Ordnung der Welt auskehren will? Ich habe mir das Leben selber gestalten wollen: ich mochte vom Schicksal keine Gunst, die ich mir nicht erworben. Allein Das, was mir persönlich zu Nutzen kommt, wird doch nie eine Verbindlichkeit für Andre werden sollen? Ich bin froh, auch von dieser Seite frei zu sein und von einem der fatalsten Übel nicht gepeinigt zu werden, der Behinderung durch freundschaftsberechtigte Rathgeber, vor Denen man Alles vorher erörtern und nachher rechtfertigen soll. Fühl' aus diesen Worten nichts Kaltes, nichts Liebloses heraus! Die Menschheit kann halbe Persönlichkeiten nicht mehr brauchen. Man muß sich ganz einsetzen und für seine Wahrheiten oder Irrthümer allein aufkommen, sagte auch die Welt: dieser Mensch ist ein Dämon.

Ich schreibe dir diese Worte nach einer schlaflosen Nacht in frühester Morgenstunde. Es ist ein Abschied, Helene! Ich kann, ich darf dich vor einem langen Zeitraume nicht wiedersehen. Kehre nach Paris zurück! Such' einen stillen Ort an einem italiänischen See! Bete für mich! Knie an einem Kreuz im Thale und bitte Gott, den Wanderer da oben auf hohem Felsenriff zu behüten![2310]

Ich kann dich in meinem jetzigen Leben – vergib mir den kalten Ausdruck – nicht unterbringen. Versprich mir, ruhig zu scheiden. Versprich mir, wie Einem, der zum Tode geht, ihn durch deine Liebe nicht mehr zu erweichen und zu verhindern, daß er gefaßt und seinen Henkern zum Trotze ohne Thränen sterben kann! Ich bitte dich darum, Helene! Es kommt eine Zeit, ich ahn' es, wo ich wieder Liebe bedarf. Dann werd' ich am Wege liegen, verwundet, verschmachtet und hört' ich dann den Ton deiner Stimme, säh' ich dann den Saum deines Kleides, wie wollt' ich die Samariterin segnen! Jetzt laß mich ziehen! Dank für deine Liebe, Helene! Lebe wohl! Lebe glücklicher, als du durch mich geworden wärst. Bekämpfe deinen Schmerz durch deinen Stolz! Gehöre dem Leben, das du so hold verschönern kannst! Verlaß diese Stadt! Es kommt eine ernste Zeit! Was du auch von mir hörst, verzweifle nicht ganz an mir! Lebe wohl! Nicht auf ewig! Aber für jetzt – Lebe wohl!«

Als Rafflard sah, daß die Gräfin entschlossen war, diesem seltsamen Briefe Gehör zu geben, als er sah, daß sie ausgerungen, ihre Rechnung nach tausend Thränen abgeschlossen hatte, wagte er nichts mehr von den alten Plänen vorzubringen. Er sah seine Hoffnungen vernichtet!

Sie werden reisen? fragte er tonlos.

Morgen in der Frühe ...

Wohin, meine Gnädigste?

Ich weiß es nicht. Schreiben Sie nach Paris. Ich werde[2311] von mir hören lassen, wenn ich weiß, wo ich bleiben soll.

Aber allein wollen Sie –?

Allein! sagte Helene. Ich werde versuchen, mich zu retten!

Indem trat der Diener ein und meldete ein junges Mädchen, das draußen stünde und sich nicht genannt hätte, aber die gnädige Frau zu sprechen wünsche.

Jetzt nicht! Jetzt nicht! sagte Rafflard vorlaut. Und dann sich zur Gräfin wendend:

Das Ministerium ist nicht vollständig. Man sagt jeden Augenblick, der ganze Plan könnte scheitern ...

An solche Trümmer kann ich mich nicht mehr klammern, antwortete Helene gefaßter und sich zum Bedienten wendend sprach sie:

Was will das junge Mädchen? Wer ist sie?

Und in selbem Augenblick ergriff sie der Gedanke an Melanie Schlurck. Von ihr wußte sie, daß Egon sie bei Paulinen sah. Melanie hatte sich in Egon's Phantasie eingeschmeichelt. Er hatte sogar gewagt, von diesem schönen Mädchen in ihrer Gegenwart zu scherzen. Sie war zu stolz gewesen, der Eifersucht Raum zu geben. Sie hatte nur Paulinen vermieden, die ihr zweideutig vorkam. Pauline, die trägt Egon jene Freundschaft an, hatte sie sich gesagt, die er bedarf! Das ist nichts als Bewunderung, nichts als Sklaverei, nichts als Stolz, ihn nur zu haben, zu besitzen, zu benutzen, um sich zu heben! Oft grübelte sie, was Egon nur an Paulinen bände! Einmal[2312] hatte Egon gesagt: Ein Geheimniß! Welches? hatte sie gefragt. Ach, Helene! war Egon's Antwort. Das elendeste und jammervollste! Da mochte sie nicht länger forschen, aber ihre Eifersucht auf Melanie wuchs. Jeden Abend, hörte sie von Heinrichson, der nicht mehr zur Geheimräthin ging, daß Melanie noch bis elf, zwölf Uhr bei der Geheimräthin, die keine großen Gesellschaften mehr gab, mit Egon zusammentraf. Und nun dachte sie: Die da jetzt zu mir kommt, ist Melanie! Auch sie ist geopfert, auch sie ist elend! Sie kommt, um ihre Thränen mit den meinen zu mischen!

In dem Augenblick trat aber ein kleines, verschleiertes Mädchen, das dem Diener gefolgt war, ohne Zögern herein und stürzte auf die Gräfin zu, sie zu umarmen.

Wer sind Sie? fragte diese erschreckend und trat ablehnend zurück.

Es war nicht Melanie; aber es war ein Mädchen, das weinte.

Warum weinen Sie? Kann ich Ihnen helfen?

Das junge elegant gekleidete Kind, in schwarzer Seide, weißem Hute und feinem türkischen Shawl schlug den Schleier zurück.

Die Gräfin kannte sie nicht. Auch Rafflard nicht.

Wer sind Sie, mein Kind? Sie sind unglücklich! Was haben Sie?

Rafflard winkte dem Diener zu gehen. Das junge, schöne, blasse Mädchen mit seelenvollen Augen, vergeistigtem hoheitsvollen Blicke sammelte sich und sprach:[2313]

Ich heiße Olga!

Sie küßte die Hände der Gräfin ...

Olga? sagte Helene erstaunt. Olga? Sie sind ...

Das Mädchen hielt die Gräfin umschlungen und antwortete nicht.

Sie sind Olga Wäsämskoi, Adelen's Kind –

Ma chère tante! sagte Olga schluchzend und liebkoste sie.

Der Augenblick brach Helenen's ganzes Herz. Sie weinte mit dem Kinde.

Engel! Himmlisches Kind, rief Helene, was führt dich zu mir, zu deiner Tante, die du lieben willst? Was ist dir?

Olga schwieg ...

Du suchst Hülfe? Olga! Liebst du mich? Liebst du deine Tante?

Olga sah bittend und zutraulich in die Augen Helenen's.

Man verfolgt dich? Die eigne Mutter – ha, ich verstehe – ich weiß es – Siegbert Wildungen – ...

Olga verhüllte ihr Angesicht an Helenen's Herzen. Der Hut entglitt ihr. Rafflard hob ihn auf. Helene war so gerührt, daß sie mehr über die Thränen des Kindes, als über sich selbst weinte.

Rafflard, erschreckend über diese Annäherung und diese neue Gefahr für das Vermögen des Grafen und die Besorgnisse seiner Mutter, ergriff das Wort und sagte heuchlerisch:

Rudhard, Ihr Erzieher, mein Fräulein, hat die Absicht, eine Reise mit Ihnen zu machen?[2314]

Als Olga diese Frage mit stummer Gebehrde bejahte, sagte Helene mit überquellendem Gefühl und in ihrem eignen Schmerz die Größe des fremden Leids ermessend:

Arme, liebevolle Olga! Ich weiß Alles, Alles! Olga, du liebst Siegbert Wildungen – die eigene Mutter gönnt dir das Glück deines jungen Herzens nicht – du sollst fort – mit den Geschwistern fort – Rudhard soll Euch entführen, damit der Mutter allein das Glück deines Lebens bleibt ...

Olga bejahte Alles und schluchzte.

Ha! rief Helene begeistert. Du bleibst zurück, ich schütze dich, du bleibst!

Helene sprach diese Erklärung mit der ganzen Entschiedenheit, deren ihr Herz in leidenschaftlichen Aufwallungen fähig war.

Nicht bleiben, Tante! sagte Olga. Ich darf nicht! Fort! Fort! Er ist da –

Wer ist da?

Wer, wer, mein Kind? sagte Rafflard, schmeichelnd, zudringlich, ängstlich, als Olga schwieg.

Otto von Dystra! sagte Olga tonlos.

Während Rafflard hin und her combinirte und im Geiste sich schon vergegenwärtigte, daß der alte Plan, einst das Vermögen des Grafen d'Azimont an die Kinder der Familie Wäsämskoi zu bringen, jetzt durch eine merkwürdige Wendung des Geschickes und die entstehende Liebe Helenen's zu diesem Kinde in vollster Entwickelung war und alle seine Hoffnungen für die alte Gräfin d'Azimont scheiterten, besann sich Helene und sagte rasch:[2315]

Otto von Dystra! Was soll er? Aus Amerika! Der Sonderling? Er ist verwachsen – der Freund des Fürsten – ein Äsop – ein Narr – was soll's?

Olga hauchte die Erklärung hin, daß die Mutter verlange, sie müsse sich mit Otto von Dystra verloben.

Helene starrte.

Gestern Abend fuhr er vor, sagte Olga. Heute sollten wir entweder mit Rudhard reisen oder ich soll mich erklären, daß ich mich mit diesem Ungeheuer verbinde ...

Das war genug, um Helene d'Azimont zu elektrisiren. Die heldenmüthige, liebesstarke, verlassene Frau, die in Olga ihr ganzes Ebenbild gefunden hatte, rief:

Und du?

Ich floh zu dir!

Olga! Warum zu mir?

Das Mädchen schwieg. Dann sagte sie durch Thränen lächelnd, zuversichtlich, treuherzig:

Weil du lieben kannst!

Wie Olga diese Worte fest und sicher gesprochen hatte, stürzten auf's neue die Thränen aus Helenen's Augen. Sie umarmte stürmisch das junge Mädchen, riß ihr den Hut fort, den sie in der Hand hatte, nahm ihr den Shawl ab und sprach in äußerster Exaltation:

Noch heute reisen wir! Du bist mein, mein Kind, meine Olga! Wir Beide sind verbunden durch den Schmerz der Liebe! Gehen Sie, Rafflard, besorgen Sie unsre Pässe. Schicken Sie sie uns nach. Wir reisen so, wie wir hier sind! Fort! Fort! Fort! In die Welt! Wir müssen uns retten,[2316] Mädchen, vor diesem Elend des Lebens, vor dem Frost des Winters, der sich auch an die Herzen ansetzt! Auch Siegbert hatte den Muth nicht, dich sein zu nennen! Entblättert sich dir schon so früh der schöne Glaube an diese Männerseelen? Ha! Du bist von meinem Blute, Mädchen! Dein Herz schlägt wie meines! Fort! Fort! Wir bedürfen andre, südliche Luft! Nach Italien! In diesem Norden erfrieren wir.

Damit drängte sie Rafflard, der vernichtet dastand, hinaus.

Rafflard stand noch unschlüssig und wollte verdrießlich werden.

Aber Gräfin! Was beginnen Sie? Welche neue Verirrung?

Rafflard! rief Helene. Kein Wort der Entgegnung! Ich hasse Egon! Ich bleibe meinem Gatten treu! Desiré d'Azimont ist ein Engel! Olga ist meine Seele! Olga jetzt mein Leben! Olga, in dir find' ich mein Glück, meinen Reichthum, meine Zukunft, mein Alles! Ein Kind, ein Kind gewonnen durch den Schmerz des gleichen Schickals. Olga! Laß uns die Welt sehen und unser Leid verbergen! Ich, ohne Hoffnung für das ganze Leben, Du für Siegbert Wildungen aufblühend in meiner Pflege, wenn er dich verdient! Ich, deine Mutter! Dein Schutz gegen Rudhard, gegen Dystra und wenn Sie wagen, Rafflard, wenn Sie wagen, Adelen zu sagen, wohin ihr Kind sich flüchtete ...

Gräfin! Was denken Sie?[2317]

Postpferde! rief Helene und Rafflard war hinaus.

Er überlegte, was zu thun. Sollte er vor's Thor eilen und die Fürstin von der Gefahr, ihr Kind zu verlieren, unterrichten?

Während er so auf der Treppe stand, kam Heinrichson ...

Sie kommen gerade recht, sagte er diesem.

Wozu?

Die Gräfin will nach Italien und noch heute.

Heinrichson stand wie vom Blitz getroffen.

Das ist eine Trennung! sagte Rafflard bitter.

Nein, antwortete Heinrichson lächelnd, ein Wiedersehen. Ich selbst wollte der Gräfin sagen, daß ich in einigen Tagen nach Rom zu reisen gedenke ... Sie weiß es ... ich sprach immer davon ...

Rafflard stand voll Erstaunens. Er überblickte, daß Heinrichson die Gräfin liebte. Anzunehmen, daß die Gräfin schon von ihm für die Idee einer italiänischen Begegnung gewonnen war, hatte er keinen, auch nicht den mindesten Grund. Aber dennoch erstarrt, ergriff er die Gelegenheit, die ihm von der Gräfin gegebenen Aufträge abzuschütteln.

Leisten Sie ihr für diese schnelle und übereilte Abreise hülfreiche Hand! sagte er zornig. Ich für meinen Theil bin zu beschäftigt, um ihren Aufträgen nach Wunsch zu genügen.

Heinrichson in glückseligster Geschäftigkeit ging zur Gräfin, Rafflard hustete noch lange die Straße entlang.[2318]

Unten überfiel ihn die verdrießlichste Stimmung, wie nun all' seine klugberechneten Pläne umsonst gewesen und die Menschen mit ihren Leidenschaften weit über alle Schlingen und Netze des Verstandes hinauswachsen.

Diese Familienbeziehungen erschienen ihm gering, armselig. Er spitzte im Geist schon die Feder, um auf den Quai d'Orsay in Paris einen epigrammatischen Brief zu schreiben, dessen Thema so lauten sollte:

In der Komödie der Liebenden darf man nur mit seinem Herzen, nicht mit seinem Verstande mitspielen.

Verdrießlich über Das, was er sich Alles seither an größerer Geltendmachung seiner Mission hatte entgehen lassen, wie er Zeit, Mühe, List, eigene kleine Unterhaltungen den Interessen einer vornehmen Familiencoterie geopfert hatte, überfiel ihn sein alter rheumatischer Husten so heftig, daß er an der nächsten Straßenecke stillstand, in einen Fiaker stieg und mit den dem Kutscher zugerufenen Worten davonfuhr:

An's Komödienhaus bei der katholischen Kirche! Zum General Voland von der Hahnenfeder!

... Noch in der Nacht gegen ein Uhr rollte ein Wagen mit Helene d'Azimont, Olga Wäsämskoi, einem Mädchen und einem Diener zum Thore hinaus. Es war das, das nach dem Süden führte.


Ende des sechsten Buches.[2319]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 2305-2321.
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