Elftes Capitel
Der rothe Domino

[1344] Welch' ein Gegensatz zu jenem rauschenden Gewühl der Sinnenlust, der Vergnügungswuth und des gedankenlosen Übermaßes der Freude die dicht daneben befindliche große Willing'sche Maschinenfabrik!

Am Tage rauscht es, lärmt es und tobt es auch hier.

Da steigen schwarze Wolken aus zehn thurmhohen Schornsteinen, die Eisenhämmer dröhnen aus den gewaltigen Werkstätten, in den Glühöfen siedet es, der große Ventilator, mit dem gegen hundert Schmiedefeuer zu immer lichterloher Gluth geblasen werden, stößt ächzende, singende Töne aus und zu dieser Musik der menschlichen Arbeit und des die Materie bewältigenden Gedankens wiehern die Rosse, die achtspännig die hier gebauten Locomotiven in die entferntesten Gegenden führen, um Kunde zu geben von der gewaltigen Thätigkeit vereinter Menschenhände und der gefesselten Naturkräfte.

Aber auch ein schlafender Riese schnarcht nicht wie ein gewöhnlicher Mensch.

Die Hämmer wurden zwar jetzt um zwölf Uhr in der Nacht nicht geschwungen, die furchtbaren Raspeln dröhnten[1344] nicht markerschütternd in den Werkstätten, der helle Metallklang der hohlen Cylinder erscholl nicht dazwischen, vielleicht wohllautend für das abgestumpfte Ohr, und doch war der Riese in seiner gewohnten Thätigkeit nicht ganz erstorben. Er schlummerte nur, um neue Kraft zu sammeln. Auch im Schlummer hielt er seine starke Hand geballt und zuckte zuweilen mit den Augenliedern, als träumt' er von neuen Heldenthaten. Sein Schnarchen war wie das lebendige Athmen gewöhnlicher Menschen.

In den Schmelzöfen ging die Gluth die ganze Nacht nicht aus. Die langen Schornsteine durften nicht kalt werden. Die große Dampfmaschine, die das Gebläse zu den Cupolöfen der Eisengießerei trieb, ruhte nicht. In langsam feierlicher Bewegung gingen ihre Hebel und Stempel auf- und abwärts und hielten jene furchtbare Kraft gleichsam in gelindem Athem, die in der Frühe um sechs Uhr wieder gewaltig ausholen und wie mit vollen Lungen vereint die Kraft von tausend Menschen ersetzen sollte. Die Nachtarbeiter lösten sich ab. Bei den Vorräthen der Coaks, der Steinkohlen, der Holzkohlen fanden sich Wächter ebenso wie in der angrenzenden Gasanstalt, durch deren unterirdische Röhren die ganze Fabrik in Winterabenden durch tausend Gasflammen erhellt war und auch im Sommer für die Nächte die Bewachung erleichtern mußten. In den Schmelzöfen und an dem Druckwerk des großen Ventilators ... überall kauert sich ein Wächter, der gelinde und langsam das Tagewerk vorbereitet[1345] und die gewaltigen Kräfte nicht zu völliger Ruhe kommen läßt.

Dicht an einem riesigen Krahnen vorbei, an einem Brunnen, der aus einem großen viereckigen Thurme, dem großen Wasserbehälter, fließt und nur ein Zeichen der vielen Wasserarme ist, die hier unterirdisch in alle Werkstätten fließen und überall nur durch einen umgedrehten Hahn jeder einzelnen Thätigkeit dies immer nothwendige Element zuführen, erhebt sich ein freundliches Gebäude mit großen, bis zur Erde herabgehenden Fenstern.

Hier im Mittelpunkt des Ganzen ist das Comptoir, wo die Bestellungen angenommen, die Bücher geführt, die Zahlungen geleistet werden.

Durch die großen Glasfenster kann man von allen Seiten die gewaltige Anlage übersehen. Hier liegen nur die Glühöfen in der Nähe, nicht die Werkstätten, wo das Eisen seine tausendfachen Formen empfängt und der Lärm zu groß gewesen sein würde, um nicht die Arbeit der Feder, die die Arbeit der Hand und des Dampfes hier zu controliren hatte, zu stören. Hier war der Unternehmer Willing von Technikern und Buchführern umgeben und beherrschte durch eine einfache, freundliche, besonnene, nicht im Mindesten diktatorische oder sich in die Brust werfende und doch mächtige Persönlichkeit das große vulkanische Reich.

Auch in dieser Nacht, während in der Fortuna die Trompete schmetterte und die Pauke ihre Wirbel schlug,[1346] war es zwar ruhig auf den vom Sternenlicht matt erhellten großen Höfen der Fabrik, aber im Innern heute lebendiger als sonst in der Nacht.

In jenem Comptoir, beschienen von dem blutrothen Abglanz der danebenstehenden in Thätigkeit erhaltenen Esse sitzt eine Anzahl Männer in verschiedenen Gruppen zusammen.

Es ist ein Uhr Nachts und zwei Gasflammen brennen noch so rein und hell auf einem grünen Tisch, daß sie die Vorstellung etwaigen baldigen Erlöschens nicht erwecken.

Einige Flaschen Wein, von denen zwei geleert, stehen auf dem Tisch, auch Braten, auch Brot, auch feineres Gebäck, als hätte sich ein Leckermund hierher verirrt.

In einem Nebenzimmer, dem abgeschlossenen Cabinet des Herrn Willing brennt gleichfalls eine Gasflamme über einem großen grünbezogenen Stehpult, vor dem eben Herr Willing selbst auf einem emporgeschraubten Drehsessel jetzt sitzt, um sich nicht zu übermüden.

Er raucht eine Cigarre nach der andern, während er rechnet und von einer Menge vor ihm ausgebreiteter Zeichnungen bald diese, bald jene genauer betrachtet und in ihrem Kostenanschlage zu taxiren scheint.

In dem großen Raume vorher sitzen an dem grünen Tische bei dem einfachen Nachtimbiß zwei Männer, der Eine jünger als der Andre, und sind in einem warmen, angeregten Gespräche begriffen.

Auch der Jüngere raucht. Der Ältere aber, ein hoher[1347] stattlicher Mann, spielt mit einem silbernen Crayon, das er aus einer neben ihm liegenden Brieftasche gezogen zu haben scheint. Noch liegen viele Zeichnungen, auch einige englische Bücher mit eingedruckten Kupfern neben ihm ...

In einem Winkel liegen drei schwarzrußige Feuerarbeiter auf dem Boden und sind vom halben Schlafe befangen. In einer Stunde schon werden sie wohl aufspringen und ihre Kameraden an dem Glühofen ablösen müssen, dessen Schein lebhaft ihr Lager auf Matratzen erhellt und einen andern dunkeln Winkel des großen Zimmers, wo auf einem Sopha ein Knabe eingeschlummert liegt, mit dem wie magisch vom Hofe hereinbrechenden Lichte überglüht.

Am Eingange der großen Glasthür steht ein einspänniger ziemlich bepackter Wagen mit aufgerichteter Gabel, ohne Pferd.

Der jüngere Mann, der eben aus der dritten Flasche einschenkt und von der Cigarre die Asche am Stuhlrande abdrückt, blickt aus einem scharf geschnittenen, sarkastischen, zusammengetrockneten Antlitz mit Augen, die so hell blitzen, daß es uns gar nicht wundern würde, wenn er nach einer wie es scheint jetzt vollbrachten späten Arbeit noch auf den Fortunaball ginge. Er strich sich sein struppiges, etwas langes Haar und den großen, blonden Knebelbart, den er bis zu einer solchen Länge trug, daß er ihn leicht hätte in Knoten schürzen können. Es war dies der Maler Max Leidenfrost.[1348]

Sein Gegenüber, der noch immer sinnend und nachdenklich seinen silbernen Crayon wiegt und zuweilen nach dem schlummernden Knaben auf dem rotherleuchteten Sopha blickt, ist Ackermann ... Selmar hatte in jenem Winkel dem Schlafe nicht widerstehen können.

Das hat lange gedauert! sagte Ackermann. Ich glaubte nicht, daß uns die Garret'sche Hebelsäemaschine so lange aufhalten würde.

In die hab' ich mich leichter gefunden, sagte Leidenfrost, als in Ihren tollen Cincinnatipflug. Mit dem müssen Sie ja in die Erde hineinschneiden wie mit einem Rasirmesser in frische Butter ...

Es kommt auf den Boden an, sagte Ackermann. Überall würde er nicht zu gebrauchen sein, wie denn überhaupt die Landwirthe darin fehlen, daß sie theoretische Verbesserungen für überall anwendbar halten. Der Cincinnatipflug soll mir auf moorigem Grunde vortreffliche Dienste thun, während ich für kalkige Gegenden mit der Zeichnung 14 besser fortkomme.

Darf ich Ihnen einschenken, Herr Ackermann?

Ich danke! Wenn ich in geistiger Anregung bin, ist mir eigentlich das Element des Wassers lieber ...

Sie sprechen über die Bestimmung dieser Maschinen, die Ihnen Freund Willing liefern soll, so feierlich, daß auf ihnen ein Segen ruhen muß. Gebe der Himmel, daß Sie sich nicht täuschen!

Leidenfrost schüttete ein Glas hinunter.

Amen! sagte Ackermann.[1349]

Mir hat es immer einen wehmüthigen Eindruck gemacht, fuhr Leidenfrost fort, wenn ich eine Maschine fertig sah und mir ihre Anwendung dachte. Sie kommt an den Ort ihrer Bestimmung. Macht sie Menschenhände brotlos, so wird sie betrachtet wie ein ruchloser Eindringling. Mit tausend Flüchen beladen geht sie an ihre Thätigkeit und leider haben wir die Erfahrung gemacht, je geistvoller sie zusammengesetzt ist, je größer die Vortheile sind, die sie zu versprechen schien, desto mislicher die Enttäuschung. Man sollte große Werkstätten, sei's nun im Ackerbau oder in der Technologie, von Staatswegen nur deshalb anlegen, damit auf allgemeine Kosten vorher untersucht wird, ob ein solcher theoretischer Traum sich auch der Anwendung lohnt und bewährt. Ich gestehe Ihnen, wenn ich mir denke, daß alles Das oder nur ein Theil von Dem, was Sie so wahrhaft neu und erfinderisch uns heute hier angegeben haben, sich nicht nach Ihren Wünschen machte, mir Das wahrhaft leid thun würde. Denn Sie sehen an der späten Nachtstunde, mit welchem Vergnügen ich Ihren gedankenreichen Angaben gefolgt bin.

Was verlangen Sie da vom Staat! sagte Ackermann. Selbst erforschen auf eigne Gefahr und Kosten, was Andern schädlich oder nützlich sein könnte? O mein Gott –

Geschieht Das nicht wenigstens in Amerika?

Auch da nicht! Das Leben ist uns Menschen gegeben wie ein roher Block, den wir auf eigene Gefahr zu formen und zu gestalten haben! Wer seine Wünsche erreicht, wohl[1350] ihm! Wer an ihrer Erfüllung scheitert – sein Beispiel ist belehrend für Den, der auf seinen Trümmern weiter baut!

Gräßlich ist's doch!

Das ist's.

Ließ' es sich bessern?

Annähernd.

Warum nicht ganz?

Weil alle unsre Staaten egoistisch sind. Die eingefleischtesten Ich-Staaten sind erst die asiatischen. Nach ihnen kommen die europäischen und ich weiß nicht, ob nicht noch in Asien mehr Garantie des allgemeinen Wohles vorhanden ist! Denn die Dynastieen morden sich da und können die Staaten nicht auf die Dauer für ihr Eigenthum in Anspruch nehmen.

Aber Amerika?

Da ist man wenigstens verschont von dem Glauben, daß die Staaten die Emanationen irdischer Fürstenerscheinungen, die nothwendigen Existenzbedingungen noch nothwendigerer Dynastieen sind. Aber jede Gesellschaft, wenn sie auch auf das Interesse der allgemeinsten Wohlfahrt begründet wäre, bekommt auf die Länge ihre Traditionen, ihre besonderen Überlieferungen, die sich festsetzen, Form und Gestalt gewinnen und Gesetze aufstellen, die mit der Zeit mächtiger werden als das allgemeine Bedürfniß. Das schaffende Individuum vollends wird sich immer erst seinen Weg bahnen müssen und durch seine eigenen Unglücksfälle weise werden. Ist's im Moralischen nicht auch so?[1351]

Sie haben eine trübe Lebensauffassung! bemerkte Leidenfrost.

Ich erheitre sie mir durch die Natur und die Arbeit ...

Ihrem Knaben werden Sie zuviel Philosophie mit auf den Weg geben. Man liebt als Kind die Väter sehr, die zu leiden scheinen, aber sie fördern uns nicht. In's praktische Leben damit! Mir ist's so gegangen. Ich habe nicht gewußt, was Vater und Mutter ist. Ich bin in einem polnischen Nonnenkloster erzogen, obgleich ich gar nicht katholisch bin. Da wurde ich anfangs wol verhätschelt und verzärtelt. Dann gab man mich in Warschau in ein Priestercollegium, ich sollte convertiren, Mönch werden. Ich brachte mit Nichtsthun, mit Beten, Singen, Lesen, Schreiben, Administriren beim Hochdienst (obgleich ich evangelisch war) bis in mein fünfzehntes Jahr zu. Da sollt' ich zu den Weihen vorbereitet werden.. es war in Warschau.. ich entfloh, ward erst Bedienter bei einem reichen russischen Diplomaten, einem gewissen Otto von Dystra, einem geistreichen, buckligen Mann, der mich nur aus Lust an dem Abenteuer und um die Mönche um eine Seele zu prellen mitnahm ... dann ...

Otto von Dystra, sagte Ackermann ... er ist jetzt russischer Consul in Amerika?

Sie kennen ihn ...

Von Washington her ...

Nun wohl! Wir reisten damals von Warschau bei Nacht und Nebel davon. Hier angekommen, sagte er: Mein lieber Max, hier hast du hundert Louisd'ors! Zum Mönch bist du[1352] zu verschmitzt, zum Bedienten zu dumm, lerne etwas und tummle dich! Als Kind schon hatt' ich Heilige geschnitzt und den Erlöser aus Brotkrumen gedreht ... ich ging also bei einem Drechsler in die Lehre. Bald macht' ich einiges Aufsehen durch meine Bildhauerarbeiten von Holz.. ich war damals so geschmacklos, sie zu bemalen ... Aber weil die protestantisch- und ästhetischgesinnten Leute hier sie nun nicht mehr mochten, glaubt' ich, es läge an mei ner Unkenntniß der Farbe.. so wurd' ich Maler.. die Malerei hab' ich dann mit Leidenschaft erfaßt ... bin aber doch Alles durcheinander und ich kann wol mit einigem Stolz sagen ... in keinem Dinge, das ich ergreife, ein ganzer Pfuscher. Die Erziehung soll uns das Rüstzeug für gute und schlechte Zeiten geben. Ich besitze durch fremde Güte und Liebe einiges Vermögen ... ich lasse es stehen, wo es steht ... ich will es erst in Anspruch nehmen, wenn diese Hände lahm, diese Füße müde sind.

Ich danke Ihnen für diese interessante Biographie! sagte Ackermann voll Theilnahme und gab Leidenfrost die Hand. Sie meinen, daß ich melancholisch bin, weil ich so wenig Wein trinke? Darauf schenken Sie ein und stoßen an. Es lebe ... das Leben!

Das Leben! Das bunte Leben! Die Schule des Lebens! sagte Leidenfrost und ergriff die Flasche, um Ackermann's Glas bis an den Rand zu füllen.

Als sie angeklungen hatten, erhob sich Leidenfrost, der sehr aufgeregt war und ging zu Willing hinein, der zu ihm, ohne aufzublicken, lachend sagte:[1353]

Da bist du nun schön angekommen! Wärst sicher lieber auf dem Fortunaball drüben und mußt hier Zeichnungen machen und meine Calcüls vergleichen bis nach Mitternacht!

Ein wunderlicher Mensch, dieser Amerikaner, sagte Leidenfrost mit gedämpfter Stimme; aber so seltsam wie ein Prophet. Er hat mich gefesselt und ich bleibe so lange, bis du zusammengerechnet hast, was alle diese Angaben etwa kosten würden. Ich will seine Miene sehen, wenn du eine Garantie verlangst ...

Wär' ich reich, sagte Willing und müßt' ich nicht mit fremdem Gelde arbeiten und soviel arbeiten, um nur arbeiten zu lassen, ich könnte mich entschließen, ihm auch auf Treu und Glauben diese Maschinen auszuführen. Der Verlust brächte immer noch den reichen Gewinn der Belehrung für meine Techniker. Wie er in dem Einspänner vorfuhr und mit der ruhigen Haltung eines Ministers fragte, ob ich Zeit hätte, ihm Maschinen zu bauen, und ich Ja! sagte, Zeit genug, wenn es keine Locomotiven und nur kleine Sachen sind! ... Wie er dann sagte: Ob ich ihm den Abend schenken wollte, um seine Pläne anzuhören und ich dann antwortete: Gern, aber ich muß zu meinem besten Zeichner schicken –

Leidenfrost wollte eben das ihm gespendete Lob ablehnen, als Ackermann näher trat. Er hatte einen kurzen Gang durch das große Zimmer gemacht, einen theilnehmenden Blick auf seinen schlummernden Selmar geworfen und stellte sich, die Hände auf den Rücken gelehnt, an[1354] die Eingangsthür, die in das kleine Cabinet des Fabrikanten führte.

Es läuft wol hoch hinauf? sagte er gespannt, als Leidenfrost schwieg und er ein Gespräch nicht zu stören glaubte.

Es ist nicht leicht, sich jeden Anschlag ganz zu vergegenwärtigen, antwortete Willing. Wenn Sie noch eine halbe Stunde Zeit haben –

Ich raube Ihnen die Nacht. Ich schäme mich, Ihnen zudringlich zu erscheinen.

Wenn Sie sagen, daß Sie Eile haben – und noch diese Nacht reisen wollen ... Bestellungen, die auf mehr als tausend Thaler gehen, nimmt man auch bei Nacht an.

Während Willing fortrechnete und sich Ackermann und Leidenfrost vom Cabinet entfernten, sagte der vielseitige Maler:

Warum eilen Sie so? Bietet Ihnen die Hauptstadt Ihres Vaterlandes, nach so langer Trennung, nicht mehr Zerstreuung, nicht mehr Gelegenheit, das inzwischen entstandene Neue zu besichtigen? Und wenn Sie nicht für sich bleiben, bleiben Sie für Ihren Jungen da!

Ich habe gleich bei meiner Ankunft, sagte Ackermann bewegt, einen für mich sehr empfindlichen Schmerz angetroffen, die Krankheit eines mir sehr theuren Menschen, des jungen Prinzen Egon – kennen Sie ihn?

Er ist seit kurzem von Paris angekommen.. Ich kenne ihn nicht ...

Er liegt am Nervenfieber so heftig darnieder, fuhr[1355] Ackermann fort, daß ich die fernere Entwickelung dieses Leidens nicht abwarten mag. Seine Güter gerade sind es, die ich in Pacht genommen habe und auf denen ich meine Erfahrungen geltend zu machen hoffe. Nichts ist unterwühlender, als von der Pein einer ängstlichen Spannung täglich gefoltert zu werden. Gefaßt auf das Äußerste, unvermögend zu helfen, geh' ich. Auch weiß ich nicht, ob Sie mich darin verstehen. Wenn Jemand jahrelang von der Heimat abwesend war und er sieht sie in der Absicht wieder, sich nicht blos der Erinnerung gefangen zu geben, sondern auf ihrem Boden auch zu wirken und zu schaffen, so soll man der Erregung des Gemüthes keine zu lange Herrschaft einräumen. Ich brauche meine Vorsätze. Sie sind meine Stütze. Ich brauche meine Lebensauffassungen, wie ich sie mir nun einmal gebildet habe. Sie sind meine feste Anlehnung. Soll ich nun hier all' den Menschen begegnen, die ich von früher kenne ... ja liebe, achte ... aber ... ich fürchte, mich an sie und sie an mich zu verlieren. Such' ich den Einen, so wär' es lieblos, nicht auch den Andern zu suchen. Thät' ich nun Das, so fänd' ich kein Ende und von meinen ernsten Aufgaben käm' ich ganz ab. Deshalb hab' ich mich entschlossen, dies Wiedersehen und Wiederbegrüßen, dies Erinnern und Gedenken, auf eine Zeit aufzusparen, wo ich mich schon wieder fester in dieser alten Welt eingewurzelt fühle. Ich will rasch, ohne Zögern, an die Aufgabe gehen, die mir für's Erste die wichtigste ist.Leidenfrost konnte nicht umhin, diese Absicht vollkommen[1356] zu billigen und zu erklären, daß er im gleichen Falle ganz ebenso handeln würde.

Sie sind also Maler, hör' ich mit Erstaunen, bemerkte Ackermann, als sie sich wieder gesetzt hatten..

Daß Sie aber auch mehr als Ökonom sind, glaub' ich gleichfalls errathen zu können, antwortete Leidenfrost.

Allerdings, sagte Ackermann; ich bin meines Zeichens ein Stubengelehrter, ein gelernter Jurist, dann Philosoph, Politiker – ich habe Vieles, wie Sie, durcheinander studirt, bis ich von allen meinen idealen Flügen auf die alte Muttererde zurückkam. Allein zu allen Zeiten bin ich doch immer nur sozusagen Eins gewesen. Sie arbeiten aber à deux mains..

Doch nicht! sagte Leidenfrost. Ich war immer Künstler, wie Sie vielleicht immer Denker. Ich habe, als ich im Kloster unter den Nonnen war, schon Häuser von Pappe gebaut, Kästchen für die kleinen zierlichen Ostereier, die die Damen vom Herzen Jesu mit Seide umspannen und mit Goldfäden ausschmückten. Dann gab mich Äbtissin Sibylle, damit ich ein Pole und ein Katholik würde, nach Warschau in ein Mönchskloster, wo ich Musik trieb und die alten Gebetbücher abschreiben lernte, wobei ich zuerst mein Zeichnentalent in den bunten geschnörkelten Initialen zu erkennen gab. Bei gewissen geistlichen Passionen, die wir in der Charwoche und zur Weihnachtszeit aufführten, war ich Schauspieler. Die Zeit, wo ich Dichter war, überspring' ich. Es ist die Zeit einer hoffnungslosen Liebe. Auch meine Bedientenrolle bei Otto von Dystra[1357] war eine Kunstaufgabe. Ich wollte nur aus Polen entfliehen, unbekannt sein und meine Verzweiflung im Elend ersticken. Der bucklige Baron war ein Sonderling ...

Er ist es noch ... sagte Ackermann.

Er liebte alle möglichen Raritäten, für die er ein ungeheures Geld verschwendete. Damals hatte er es mit der vor funfzehn Jahren etwa zum ersten male auftauchenden Phrenologie zu thun. Wo er einen interessanten Schädel entdeckte, hätt' er am liebsten den Kopf gleich abgeschlagen und mitgenommen ...

Wie er in Niniveh die alten Tempeltrümmer mitnahm.. ergänzte Ackermann, der diesen berühmten Reisenden Otto von Dystra genau zu kennen schien.

Da sich diese Scharfrichterei aber nicht gut ausführen ließ, fuhr Leidenfrost fort, so formt' ich ihm die Köpfe rasch aus Thon. Er gab mir die hundert Louisdors, um Bildhauer zu werden; ich war bescheiden und wurde erst Drechsler, bis sich der gährende, brausende Künstlerdrang nicht mehr halten ließ und ich plötzlich Bildhauer, Maler, Architekt, Mechaniker war. Die Maschinenbaukunde verträgt sich vollkommen mit meiner Natur, die in der Kunst nichts Träumerisches, sondern etwas Reelles sieht ... Wir haben zu vielen Dingen zu gleicher Zeit Talent. Der Mensch hat viel mehr, als an jeder Hand nur fünf Finger; er sieht sie nur nicht alle.

Das ist wahr; antwortete Ackermann sehr befriedigt von dieser Bemerkung. Es juckt uns oft in Fingern, die wir nicht haben und wenn ich schlechte Musik hörte,[1358] kribbelte es mir in allen Nerven, bessere zu machen, obgleich ich nur etwas Klavier spiele und auf einer italienischen Reise Guitarre klimperte. Jedoch die mechanische Fertigkeit der fünf Finger, das ist etwas Anderes. Das läßt sich doch nur an diesen allein üben und deshalb erstaun' ich, daß Sie Maler und zugleich Techniker sind.

Ich besuche Sie einmal auf Ihren Dörfern und wenn die Maschinen anschlagen und es abwerfen, bau' ich Ihnen noch eine Villa nach meinem Geschmack ...

Ich halte Sie beim Wort! sagte Ackermann erfreut. Allein Eins nimmt mich doch Wunder. Wie machen Sie es bei solcher Vielseitigkeit mit Ihrem Horizonte? Die Anschauung eines Kunstateliers ist doch auch für's Leben eine andere, als die einer Maschinenfabrik.

Glauben Sie Das nicht! sagte Leidenfrost. Unsere Maler sind nur meist so toll, sich einen ganz kleinen Horizont abzuzirkeln, zu dem sie aufblicken. Den nennen sie das Ideal. Woher käme denn anders die eunuchenhafte Erfindungslosigkeit unserer Schulen, wenn die jungen Bursche, die Leinwand vollklexen, nicht mit Gewalt in eine kleine Treibhauswelt eingepfercht würden, wo sie immer vom Schönen, vom Schönen sprechen und es nur in ein paar Begriffen finden?

Die Bibel z.B. ist doch ein großer Begriff ... sagte Ackermann.

O ja! die Begriffswelt dieser Maler ist sogar noch ein klein wenig größer: denn zur Bibel kommt noch bei ihnen ein deutsches Legendenbuch, ein paar Volksbücher, die[1359] Nibelungen, Petiskus' Mythologie – voilà tout! Ist Das nun wirklich das Leben?

Gut, erwiderte Ackermann, sagen Sie, daß dieser Horizont klein ist, aber er ist rein, er ist edel, ungeschwärzt! Nicht die Weite der Anschauungen ist es, die den Künstler beglückt, sondern ihre Durchsichtigkeit und Klarheit. Sind Sie nun z.B. in dem Qualm einer Feueresse derselbe Mensch, der Sie mit der Palette in der Hand sein sollten?

Ich heize ja hier nicht die Öfen ... meinte Leidenfrost lachend.

Sie zeichnen hier nur! Aber Sie haben mathematische Anschauungen. Geht denn die trockene Mathematik in den Kopf eines Malers?

Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer waren große Mathematiker und wohl dem Maler, dem man ansieht, daß er weiß, was wage- und lothrecht ist.

Nun wohl! sagte Ackermann und bot Leidenfrost die Hand; ich streite nur, um zu streiten. Ich fühle mich vollkommen hinein in Das, was Sie denken. Ich habe Deutschland zu einer Zeit verlassen, wo die Romantik alle unsere Anschauungen mit einer Art Heiligenschein umgab. England und Amerika boten mir dagegen so viel Realismus, so viel Ernüchterung, daß ich manchmal den Versuch machte, in meinen alten romantischen Verklärungsdämmer wieder zurückzukommen. Es ist aber wahr, man kann bei gesundem Sinne nicht zu lange in ihm verweilen ...

Indem schlug es bereits ein Uhr an einer im großen Wasserthurme angebrachten Uhr.[1360]

Die Thür, die vom Hofe führte, öffnete sich nun und drei rußige, kräftige Gestalten traten mit einem sehr frühen: Guten Morgen! herein, während die Drei, die auf der Matratze geschlafen hatten, sich anschickten, statt der Angekommenen hinauszugehen.

Es war eine Ablösung der Wachen.

Einen Trunk erst! rief Leidenfrost und schenkte den abgehenden Männern ein.

Diese leerten Jeder ein Glas und empfahlen sich freundlich ohne Kriecherei und unverdrossen.

Nun Alberti, sagte Leidenfrost zu einem der Neuangekommenen, der sich eben etwas zu ruhen ausstreckte, es macht wol verdammt heiß bei den Coaks? Soll morgen viel in die Schmelze?

Funfzehn Centner Roheisen – antwortete der Angeredete. Aber ich wette, fuhr er scherzend fort, drüben in dem großen Saale der Fortuna haben sie's fast eben so heiß. Zwei Tausend Menschen sollen da den Spektakel heute mitmachen.

Sind wol aus der Fabrik welche drüben? fragte Leidenfrost.

Glaub' ich doch nicht.. sagte Alberti.

Es hat einen Grund – setzte lachend der Zweite hinzu.

Nun, Heusrück, welchen denn? fragte Leidenfrost.

Übermorgen ist erst Zahltag!

Deswegen nur? erwiderte Alberti. Welcher brave Maschinenarbeiter wird solche Narrenspossen mitmachen?[1361]

Wer Zeit hat des Abends, geht in den Verein. Die alten Tanz- und Juchhei-Zeiten sind vorbei ...

Das wollt' ich auch meinen ... sagte der Dritte, eine große, wunderlich geformte Gestalt, ganz ärgerlich über Heusrück's Annahme, daß Maschinenarbeiter auf den Fortunaball gingen. Da mögen Bediente, Pferdeknechte, Schneider, Lohnlakaien und Stiefelputzer hingehen. Selbst die Barbiere sind aufgeklärter und wollen sich von den Friseuren unterscheiden. Wenigstens darf mir keiner an den Hals, der von einer durchtanzten Nacht das Zittern in der Hand hat.

Ei, Danebrand, sagte Leidenfrost, das ist ja löblich! Glatter Bart und moralische Grundsätze! Aber wie kommt's denn, daß Ihr so lange nicht im Verein war't?

Kann ja nicht! antwortete der seltsame Mensch, der zu groß war, um ihn nur breitschulterig und stämmig zu nennen, aber bei seinem schlanken Wuchse doch unverhältnißmäßig hohe Schultern hatte. Muß ja so lange für den Eisold einstehen, bis sein Karl heran ist und die Stelle des Vaters einnehmen kann ...

Braves Haus, das Ihr seid, Danebrand! fiel Leidenfrost ein und wandte sich zu Ackermann, der zuhörte. Dieser gute Danebrand, sagte er so laut, daß Danebrand es hören konnte, ein Schleswiger, wie Sie nach seiner sanften, flötenden Lispelsprache vernommen haben werden, dieser brave Junge mit dem Simsonskörper und dem zarten Stimmchen, das ihm auch in seinen zu hohen Schultern sitzen geblieben scheint, ist die Menschenliebe[1362] selbst. Er arbeitet erstens für sich und Das muß nicht wenig sein, wenn Sie bedenken, daß Freund Danebrand einem schleswigschen Stiere den Appetit streitig macht. Zweitens arbeitet er noch in Gemeinschaft mit einem jungen Lehrling, Namens Eisold, so viel, als früher zusammen der verstorbene Vater des jungen Eisold allein arbeitete.

Warum thut er Das? fragte Ackermann freundlich zu Danebrand hinüber blickend.

Weil er dem jungen Eisold die Stelle des Vaters offen halten will, bis er sie allein ausfüllen kann. Arbeitete er nicht für den todten Vater mit, so würde man schon jetzt die Stelle des Verstorbenen besetzen. Das wird vielleicht Eure Schultern schmaler machen, Danebrand! Ihr werdet viel schanzen müssen.

Alberti und Heusrück lachten. Danebrand aber streckte sich auf die Matratze an der Erde und sagte, den riesenhaften, blondhaarigen Kopf zur Ruhe auf die Arme legend, die, wie die ganze Gestalt mit Ruß und Dampf geschwärzt waren – auch das Gesicht ließ sich vor Kohlenschwärze nicht erkennen –:

Was wird der Herr von mir denken? Er wird mich für einen Narren halten, wenn Sie ihm nicht sagen, warum ich Das für den Karl Eisold thue?

Nun, weil er sechs Geschwister hat! antwortete Leidenfrost, der von den Verhältnissen dieser Arbeiter wie ihr Freund unterrichtet war.

Liebe Zeit, sagte Danebrand, es gibt der Arbeiter, die[1363] an der Cholera gestorben sind und sieben Kinder hinterließen, die nun betteln müssen, genug ...

Aber es gibt gewiß nur einen Danebrand! sagte Ackermann, den die Bescheidenheit des misgestalteten Feuerarbeiters rührte.

O Herr, antwortete dieser mit seinem spitzen schleswigschen Stimmchen, ablehnend, das ist ja ganz natürlich. Das war vor anderthalb Jahren, als ein großes Dampf-Pochwerk probirt werden sollte. Die Maschine ist schon im Gange und ich weiß es nicht ... Der Dampf steigt aus dem Kessel und das Ding fängt zu arbeiten an, ehe ich mir's versehe. Donner! ich liege unten an den Stempeln und will sie blos nur noch blanker putzen. Jesus! schreien die Leute, Danebrand! Schon neigt sich von oben der furchtbare Hammer von zwanzig Pferdekraft nieder – so muß einem Menschen zu Muthe sein, über dem ein Berg zusammenbricht – Alle schreien und nur Einer springt hinzu und reißt das Ventil auf. Zischend fährt der Dampf heraus wie ein Ungewitter: der Hammer bleibt an der Spitze meiner Haare stehen und der Arbeiter, der das Ventil aufgerissen hatte, war selbst dabei gefallen und hatte sich eine Sehne zerrissen, daß er sechs Wochen nicht gehen konnte. Das war Eisold, der vor soviel Monaten mit seiner Frau an der Cholera gestorben ist. So arbeit' ich nun so lange für ihn mit, bis sein Karl so weit ist wie der Vater ...

Gott segne Sie für diese dankbare Aufopferung! sagte Ackermann gerührt und zu Leidenfrost's Freude, dem der[1364] wohlthuende Eindruck, den die Erzählung auf den Fremden machte, gefiel. Doch war er zu sehr Humorist, um eine Rührung zu lange andauern zu lassen. Er wandte die Sache gleich in's Scherzhafte und sagte:

Wetter, wenn der Danebrand sich immer so weiß waschen könnte, wie er's eben gethan hat und sein Barbier ihn rasirte, auf dem Fortunaball liefen ihm alle Mädchen nach. Die Wahrheit hat er erzählt. Der Hammer war eben im Begriff, ihm von den Schultern das große Stück herunterzuklopfen, das er zuviel hat. Aber geflunkert hat er doch! Was Heusrück, Alberti, hat er nicht geflunkert?

Freilich hat er geflunkert, sagte Heusrück. Er hat was ausgelassen ...

Was hat er denn ausgelassen? fragte Ackermann mit freundlicher Theilnahme.

Daß er seit Eisold's zerrissener Sehne in seine Tochter bis über die Ohren verliebt ist; ergänzte Alberti.

Danebrand brummte etwas und warf sich auf die andere Seite.

Ist es nicht wahr, Danebrand? rief Leidenfrost. Jetzt thut er, als wenn er schlafen wollte. Danebrand, ein Glas Wein! Hier auf Louise Eisold! Was! Was? Thut Ihr nicht Bescheid auf Louise Eisold?

Indem hatte Leidenfrost eingeschenkt.

Als Danebrand zögerte, trank Alberti das Glas.

Als es Leidenfrost noch einmal gefüllt hatte und Danebrand wieder zögerte, trank es Heusrück ...[1365]

Und als Danebrand auch das dritte Glas ausschlug, war Leidenfrosten fast der Muth entsunken, ihn zu fragen, was er gegen Louise Eisold hätte?

Danebrand schien so verdrießlich, so mißmuthig über diese Erinnerung, daß er aufstand und sagte, er müsse drüben noch etwas am Ofen nachsehen.

Damit ging er hinaus.

Als die Andern der gewaltigen, kolossalen Figur, die aber in den Schultern wirklich etwas von einem Buckligen hatte und mit dem ungeheuren Kopfe tief im Nacken saß, nachsahen, fragte Leidenfrost, was Das denn mit dem Danebrand wäre. Er fänd' ihn überhaupt seit einiger Zeit verändert. Liegt ihm sein meerumschlungenes Vaterland am Herzen? Überarbeitet er sich? Was hat er? fragte Leidenfrost die beiden andern Arbeiter.

Er ist unglücklich aus Liebe, sagte Heusrück lachend.

Das ist nicht zum Lachen; bemerkte Ackermann mit freundlichem Vorwurf.

Wie so denn aus Liebe? fragte Leidenfrost.

Ei, erklärte Alberti, Louise Eisold ist ein feines und sehr gebildetes Mädchen, erst neunzehn Jahr alt. Seitdem Danebrand bei den Verbänden, die sie am Fuße ihres Vaters machte, sie sah, hat er den Muth gehabt, um sie anzuhalten. Er ist gar nicht ohne Mittel, hat wohlhabende Bauern zu Eltern und wäre längst weiter gewandert, wenn ihn Louise nicht »gefesselt« hätte, wie man zu sagen pflegt. Sie gab ihm kein Versprechen, denn bei Gott, so ein braver Kerl er ist ...[1366]

Zum Lieben ist er nicht gegossen – sagte Heusrück.

Warum? entgegnete Ackermann. Die Liebe hat seltsame Augen und ein treues Gemüth macht Jeden schön.

Leidenfrost blickte bei dieser Bemerkung nachdenklich nieder und seufzte ...

Es schien auch so eine Zeit lang, fuhr Alberti fort. Sie gingen Sonntags mit einander, wenn die Eltern dabei waren und Danebrand kann ganz charmant sein, trotzdem, daß ein tanzender Bär mehr zum Lachen, als zum Lieben ist. Da starben die Eltern. Nun glaubte Danebrand Louischen die Hand anbieten zu müssen und zu dürfen, aber sie schlug's ihm rund ab. Sie bat ihn mit Thränen um Verzeihung, aber es kam dann bald heraus, daß ihr etwas Anderes im Herzen spukt –

Ist Das wirklich wahr? fiel Leidenfrost ein; was man von einem Menschen erzählt, der bei ihr wohnt? Ich war neulich dort, um den Karl Eisold zu sprechen, dem ich Bücher gebe, sich mehr zu bilden ...

O Das nicht! entgegnete Alberti –

Wohnt der Schreiber nicht etwa bei ihr? fiel Heusrück ein.

Bei ihr? Nun ja! Er wohnt bei ihnen Allen! Sie haben zwei Zimmer vermiethet, und den Einen, einen schlimmen Burschen wie man sagt, soll sie gern haben und da hat uns noch neulich Einer, der in dem selben Hause wohnt, erzählt, daß es ihr mit dem so geht wie dem Danebrand mit ihr.[1367]

Er mag sie nicht? fragte Leidenfrost auf Alberti's freundliche Vertheidigung.

Während sich Heusrück eben anschickte, das Verhältniß noch anders zu erzählen, bemerkte Alberti und Leidenfrost, daß Ackermann sich plötzlich umgewandt hatte und in einiger Unruhe schien. Er sah bald auf den Tisch, bald unter den Stuhl, wo er gesessen; er schlug an seine Taschen und schien etwas zu vermissen.

Leidenfrost trat näher.

Suchen Sie etwas? fragte er.

Mein Portefeuille! antwortete Ackermann. Noch vor wenig Minuten sah ich es auf dem Tische –

Als ich einschenkte, fehlte es nicht –

Es muß sich finden –

Mein Himmel; es wird kostbare Papiere enthalten?

Geld, und manches Werthvolle ...

Es fehlt seit – Danebrand?

Eben wollten die Arbeiter, erschrocken über diesen entsetzlichen Verdacht, aufspringen, als aus der dunklen Ecke, wo Selmar schlief, eine zarte Stimme rief:

Vater! Hier!

Es war Selmar selbst, der die Brieftasche emporhielt.

Kind, sagte Ackermann, was machst du für Streiche.

Ei, warum gebt Ihr nicht Acht? antwortete Selmar und sprang vom Sopha auf. Während Ihr da im wärmsten Gespräch waret, hab' ich geträumt, die Locke wäre fort und in meiner Angst steh' ich auf, ihr seht und hört nichts, und habe nachgeschaut, ob die Locke noch da ist.[1368]

Indem trat Danebrand ein.

Ruhig und still ging er zu seinen Kameraden und legte sich auf das harte Lager.

Es lag eine gewisse Feierlichkeit in diesem Momente der Rechtfertigung eines edlen Menschen ... der erste Verdacht war gleich gegen ihn gerichtet gewesen, er stand in der Möglichkeit eines schlimmen Unternehmens da und wie er nach dem sofort entdeckten Irrthume ruhig durch die Glasthür trat, lag auf ihm, trotz seines schmuzigen Aussehens und seiner misgeformten Gestalt, fast der Schimmer einer Verklärung.

Die beiden Arbeiter fühlten Dies auch mit wahrem Stolz und Ackermann und Leidenfrost mit Beschämung.

Das Gespräch über Louise Eisold war ohnedies abgebrochen und Ackermann begann gegen Selmar einige ernstliche Verweise auszusprechen.

Vater, vertheidigte sich dieser, ich weiß ja kaum wie mir Das geschah! Ich lag und träumte von unserer Locke. Bald war sie eine Schlange geworden mit einer funkelnden Krone auf dem Haupte. Bald sah ich ein anderes Ungethüm, das Härchen für Härchen an der schönen Ringellocke zerzauste. In der Angst um unser liebes Angedenken an den armen leidenden Freund wacht' ich auf, tastete noch wie halb träumend nach den Lichtern hin, trug die Brieftasche fort, wie in der Furcht, die Locke könnte uns doch noch gestohlen werden!

Und wahrscheinlich einige Tausend Bankzettel dazu, sagte Leidenfrost scherzend, um wieder die frühere Heiterkeit[1369] herzustellen und des Vaters plötzlichen düstern Ernst zu mildern. Aber in der That, hier hat man nur etwa die Metallgeister zu fürchten, nicht die Diebe. Unsere Willing'schen Arbeiter sind die gediegensten von der Welt und sind nicht nur ehrlich aus Instinkt, sondern auch ehrlich mit Bewußtsein, was ich höher stelle. Der politische Miscredit, in dem sie stehen, zwingt sie dazu, über ihre Tugenden nachzudenken.

Ackermann war von der Erwähnung der Locke mehr verstimmt als erfreut. Sie erinnerte ihn ja an den vermeintlichen Egon, an dessen Leiden er ein so tiefes Interesse nahm. Er hatte das Portefeuille eingesteckt und sah ungeduldig zu Willing hinüber, der noch immer mit dem Anschlag nicht fertig war. Selmar aber schien übermäßig ermüdet. Er schmiegte sich an den Vater so innig an, als wollte er in seinem Arme schlummern.

Eine Studie für mich! rief Leidenfrost. Lear trägt Cordelien im Arm! Das möcht' ich zeichnen! Halt! Halt!

Damit wollte er ein Blatt aus seiner Mappe nehmen.

Erschein' ich Ihnen so alt? fragte Ackermann mit freundlichem Scherz.

Die langen im Winde flatternden weißen Locken denk' ich mir hinzu – Selmar ist Cordelia – dazu bedarf es nur eines andern Costümes – aber der Ausdruck Ihres Antlitzes, Ihr Auge – man möchte glauben ... Aber was habt Ihr? Herr, das Kind schläft ja nur, ist ja nicht todt – lassen Sie's doch gut sein, ich zeichne Sie nicht ... Herr Ackermann![1370]

Der Amerikaner hatte wirklich mit einem Ausdruck dagestanden, wie Lear, indem er von seinem »todten Vögelchen« spricht und die Menschen auffodert, mit ihm zu weinen ...

Nehmen Sie wie König Lear eine leichte Flocke, sagte Leidenfrost scherzend, einen Federflaum und halten Sie ihn unter dem Athem des Kindes – es schläft ja nur, Bester!

Ackermann setzte sich erschöpft und sprach mit leiser Stimme:

Schon die Vorstellung, ein theures Kind zu verlieren, kann so überwältigen.

Selmar aber, im Halbschlafe Leidenfrost's Anspielung auf die Federflocke, wie sie Lear bei Cordelien anwendet, misverstehend, fuhr empor und fragte:

Du hast sie doch? Hast du sie?

Kind! Kind! beruhige dich – und mich! sagte Ackermann, Selmar damit zum Schweigen verweisend.

Leidenfrost aber meinte, ob es unbescheiden wäre, nach dieser theuren so ängstlich bewachten Locke zu fragen?

O, sagte Ackermann mit einer Art Selbstbekämpfung, weniger die Locke hat für uns Werth, als die sonderbare Art, wie ich zu ihr kam. Vor einigen Tagen kehrt' ich unterwegs in einem Wirthshause ein, wo mir die Leute mit sonderbarer Angst von einem jungen Manne sprachen, der sich auf der Reise zu uns gesellt hatte. Der Nachtwandler! riefen sie so deutlich, daß ich ihr Grauen bemerken mußte. Bei genauerer Erkundigung hört' ich,[1371] daß der junge Mensch, der sich uns zutraulich und doch scheu angeschlossen hatte, an dieser traurigen Krankheit leide. Es ließ uns die ganze Nacht keine Ruhe. Als ich gegen Mitternacht Geräusch zu hören glaubte, stand ich, halb angekleidet, auf und finde eine sonderbare Scene. Ein junges, wunderschönes Mädchen zeigt bald entsetzt auf den in der Ferne stehenden Nachtwandler, den die helle Mondnacht hinausgelockt hatte. Sie läßt ein Bild aus der Hand fallen, zeigt stumm und starr auf eine Thür und verschwindet voll Entsetzen. Ich hebe das Bild auf und gehe auf den Nachtwandler zu, der aber bei voller Besinnung war, mich anlachte, mir die Besorgung des Bildes empfahl und mit einem sonderbaren Ausdruck Gute Nacht wünschend, in sein Zimmer mehr entfloh als mit gutem Gewissen ging. Ich glaubte mich nicht zu täuschen, wenn ich annahm, daß ich hier einen sehr zweideutigen Menschen kennen gelernt hatte, der sich das Ansehen eines Nachtwandlers gab und vielleicht nur damit einen Vorwand für manchen schlimmen Zweck herauszukehren wußte. Als er später bis hierher mit uns fuhr, war mein Vertrauen vollends gewichen und froh war ich, als wir von seiner peinlichen Gegenwart befreit waren.

Und die Locke? fragte Leidenfrost. Ich hätte gewünscht, jener Nachtwandler hätte Sie nicht getäuscht. Ich hätte gewünscht, er wäre wirklich somnambül gewesen. Ich glaube an elektrische Leiter. Von wem nahmen Sie die Locke?

Vom Haupte eines jungen Mannes, der in dem Zimmer[1372] schlief, wo ich im Auftrag der erschrockenen Dame das Bild abgab. Es sollte ... Aber, wie sagen Sie, ein elektrischer Leiter?

Sie müssen nun schon Alles berichten. Ich will sehen, ob hier eine magnetische Strömung stattfand ...

Der Lockenraub sollte ... eine Strafe sein für Menschen, die schlafen, ohne ihre Thür zu verschließen.

Schade! Schade! Nur eine Strafe? Und daß jener Mensch nicht wirklich nachtwandelte!

Erklären Sie sich deutlicher! Warum wirklich? Warum nicht Strafe?

Denken Sie sich diesen elektrischen Strom! sagte Leidenfrost. Nacht ... Mondenschein ... eine erschreckte junge Dame ... also Schrecken ... ein Sie überraschender Auftrag ... also wieder Schrecken ... ein Nachtwandler ... das Ihnen fremde Zimmer ... der Schlafende ... die Locke! Wenn das Alles so zugetroffen hätte, müßte die Locke mit Ihnen in einem Rapporte stehen, daß diesem Menschen, dem die Locke gehört, jeder Kuß auf sie angenehme Gefühle erweckte und wäre er hundert Meilen weit von Ihnen entfernt.

Selmar wurde blutroth vor Erstaunen über diese Auseinandersetzung, die der Vater mit einem lächelnden:

Glauben Sie an so etwas? aufnahm.

Schade! Schade! wiederholte aber Leidenfrost, daß dieser Mensch ein Spitzbube war! Zweifel, Lüge, Unglaube, Strafe stört die Kette! Die Berechnungen des Verstandes dürfen den Strom der Gefühle nicht aufhalten.[1373]

Nun, lenkte Ackermann mit ernster Miene ein, dann könnte ja noch der Fall eintreten, daß mich vielleicht das Bild selbst furchtbar überraschte –

Auch Das noch? sagte Leidenfrost. Kannten Sie es?

Ich erkannte es. Ich war auf den Tod erschüttert ... Und nicht von Ahnung; nein, es war Gewißheit. Was ich in dem elektrischen Zuge durch die Enttäuschung über den Nachtwandler an Kraft verlor, die Verstandesreflexion, die meine Nervenströmung aufhielt und dämpfte, wurde hundertfach ersetzt durch das Staunen über jenes Bild;

mein ganzer Mensch war ergriffen und so schnitt ich die Locke zur Erinnerung –

Zur Erinnerung? Sie sagten vorhin ... Zur Strafe für den unvorsichtigen Schläfer; Strafe ist Verstandesreflexion, Erinnerung wäre besser. Erinnerung ist Gefühl. Alles gut, Alles gut; aber in die Kette der Überraschungen kam im Momente des Zweifels eine Verstandesthätigkeit, die die glühende Nervenströmung aus den vier lebenden Wesen erkältete –

Der falsche Nachtwandler also?

Schade! schade, daß der Nachtwandler ein Betrüger war!

Es war kein Betrüger! rief in diesem Augenblick eine entfernte Stimme.

Ackermann und Leidenfrost sahen sich um, während Selmar, die Brieftasche an die Brust und die Herzgrube drückend, wirklich wie im magnetischen Schlafe zu liegen schien.[1374]

Der Sprecher war Danebrand, der sich aufgerichtet und zugehört hatte.

Wenn Das auf dem Heidekrug war – sagte er fragend.

Ja! antwortete Ackermann. Es war auf dem Heidekrug.

Wenn der Nachtwandler Hackert hieß –

Er hieß Hackert. Sehr richtig!

So war's ein echter Nachtwandler. Er kann aufgewacht sein, als Sie kamen. Aber es ist ein rechter Nachtwandler ... Das möcht' ich nun wol von Ihnen hören, ob das Nachtwandeln vom Himmel oder von der Hölle kommt?

Während noch Ackermann betroffen von dieser Unterbrechung schwieg, sagte Leidenfrost:

Das sollt Ihr gleich hören, Danebrand! Die Nachtwandler treibt der Teufel aus dem Bett und jagt sie auf die Dächer, aber ein Engel vom Himmel kommt und führt sie so, daß sie sich kein Haar krümmen. Es müssen denn Menschen so weise sein wollen und den Namen rufen ...

Eben wollte Danebrand aufstehen, näher kommen und sich vollständiger über die gespenstige Natur seines glücklicheren Nebenbuhlers unterrichten lassen, als aus seinem Cabinet Willing hereintrat.

Da ist mein Überschlag, sagte der Fabrikherr auf die in seiner Hand befindlichen Papiere zeigend; so gut sich dergleichen im voraus bestimmen läßt, glaub' ich etwa fünftausend Thaler als die Summe bezeichnen zu müssen, die alle diese Geräthschaften kosten würden.[1375]

Ackermann wurde jetzt Geschäftsmann. Er verglich die einzelnen Ansätze, fand sie billig und erbot sich zu einer Anzahlung.

Als Willing bedauerte, diese annehmen zu müssen und Ackermann seinerseits als feste Ablieferungszeit den ersten Januar bedingte, kamen sie zu einer Vorausbezahlung von fünfzehnhundert Thalern überein.

Ackermann nahm Selmarn das Portefeuille aus der Hand, öffnete es und legte diese Summe in Papieren auf den Tisch.

Während darüber die Empfangscheine ausgefertigt und überhaupt Geschäfte verhandelt wurden, zog sich Danebrand auf sein Lager zurück, nicht wenig aufgeregt von den Worten, die Leidenfrost über die Nachtwandler gesprochen hatte.

Selmar hielt sich jetzt mit Entschlossenheit wach.

Der zarte Knabe fühlte, daß er nun seinem Geschlechte Ehre machen, an den Wagen, an das Pferd denken müßte.

Leidenfrost veranlaßte Alberti nach dem Pferde zu sehen, das im großen Stalle der Fabrik so lange untergebracht war.

Alberti unterzog sich diesem Auftrage mit Freuden.

Während dieser Zurüstungen und nach abgeschlossenem Vertrage trat Willing mit Ackermann aus dem kleinen Cabinet heraus und wiederholte dasselbe Befremden, das vorher Leidenfrost über diese außerordentliche Beschleunigung des viel zu kurzen Aufenthaltes in der Residenz ausgesprochen hatte.[1376]

Ackermann wiederholte dieselben Entschuldigungsgründe, indem er noch hinzusetzte:

Ich hoffe nach einem Jahre alle die Lebenden lebend zu finden, auf die ich mich freue; hab' ich doch heute sogar einen wirklichen Todten hier lebend zu finden geglaubt. Nicht wahr, Selmar?

Morton meinst du? sagte der Knabe und nannte einen Namen, den wir schon einmal in Plessen an der Zeck'schen Schmiede von ihm gehört haben.

Ja, denken Sie sich, fuhr Ackermann, der sich zur Abreise rüstete, fort. Ich nehme in New-York von einem Deutschen Abschied, der sich in Amerika Morton nannte. Ich hatte ihn dann und wann in der Union gesehen und als Sonderling schätzen gelernt, obgleich er ein wunderlicher und abstoßender Mensch war. Noch während ich in New-York bin und mich zur Abreise rüste, erfahre ich, daß er sich in einem Anfall von Melancholie, an der er schon immer litt, das Leben nahm. Man fand seine Kleider am Hudson, seine Leiche war ohne Zweifel in's Meer geschwommen. Daß er sich das Leben nehmen wollte, war aus einem Testamente ersichtlich, das sich für mich vor fand und worin er mir aufträgt, seinen Verwandten in Deutschland einige nicht ganz unansehnliche Summen auszuzahlen und seinen jammervollen Tod nicht zu verschweigen, er könnte ihnen als Lehre dienen ...

Das nenn' ich Spleen! sagte Willing, seine Papiere zusammenpackend und verschließend.[1377]

Aber sind wir nicht zu Tod erschrocken, als wir ihn heute auf der Straße zu sehen glaubten?

Er war es nicht, Vater, sagte Selmar. Die große, schwarze Binde am Auge –

Kind, die könnte sehr leicht eine spätere Zugabe sein ... doch glaub' ich wol, daß der alte Grämling im kühlen Meeresgrunde schlummert. Aber ich sage drum, hier würd' ich jetzt mit Todten und Lebendigen zu thun haben und das spar' ich mir auf, bis ich einmal Zeit habe zu einer vollständigen Musterung.

Eine große, schwarze Binde? sagte Leidenfrost. Das ist doch nicht ein Engländer, der – wie nannten Sie ihn?

Morton.

Nein, Murray, besinn' ich mich, hieß der Alte, von dem mir Reichmeyer erzählt. Heut' Nachmittag um sechs Uhr etwa war ein alter hinfälliger Engländer mit einem bekannten, zweideutigen Frauenzimmer zu ihm gekommen und hätte verlangt, er sollte ihm diese anstößige Dame ....

Leidenfrost stockte, weil er nach Selmar sich umsah.

Dieser aber hatte die Thür geöffnet, daß der volle Strom der rauschenden Musikklänge von dem Fortunaball hereindrang.

Nicht aber diese Musik beschäftigte ihn so sehr, an die er in London sich gewöhnt hatte, als das Einspannen des Pferdes, das Alberti aus dem Stalle brachte.

Leidenfrost fuhr also unbekümmert fort:[1378]

Dieser Murray hatte eine große, schwarze Binde über dem einen Auge –

Und? fragte Ackermann gespannt.

Verlangte, Reichmeyer, der ein rascher Portraitmaler ist, sollte ihm morgen in einer einzigen Sitzung, diese mit Gold und Juwelen behangene, große, schöne, aber sehr bekannte Person als Brustbild malen. Als Reichmeyer erklärte, Das könnte er nicht, hätt' er ihm sechszig Guineen geboten .... und Reichmeyer will nun doch wirklich daran. Er ist ein Luca fa presto.

Da bin ich über die Auferstehung meines Todten beruhigt, sagte Ackermann. Dieser Murray mit der schwarzen Binde ist mein alter geiziger Morton nicht. Der Arme liegt im feuchten Meeresschooß! Wer weiß, welche Mühlsteine ihn niederzogen!

Eben schüttelten Willing und Ackermann sich zum Abschied die Hände, eben griff Leidenfrost nach seinem grauen Hut, um auf dem Wägelchen mit in die Stadt zurückzufahren, eben erhoben sich die Arbeiter, um ihre schwarzen Hände darzureichen und Selmar hatte schon die Peitsche ergriffen, die auf das halbe Stündchen der Rückfahrt Leidenfrost führen wollte, als vom Hofe her ein gellender Schrei: Hülfe! Hülfe! ertönte.

Alles sprang erschrocken an die Thür.

Im Sternenlicht sah man eine helle Erscheinung über die von Kohlenschutt geschwärzten Höfe daher fliegen.

Dem Lichte, das aus den Gasflammen durch die Fenster des Comtoirs auf die nächste Umgebung fiel, näher[1379] kommend, entwickelte sich die Hülferufende als ein Weib, das in flatternden Ballkleidern und fast aufgelöstem wirren Haare Rettung vor einer Gefahr suchte, die Niemand erblickte.

Die Klänge der Musik auf dem Ball schwiegen gerade. Von dorther mußte die Schreiende kommen. Wie sie Menschen sah, stürzte sie auf sie zu und wiederholte den Ruf:

Hülfe! Hülfe!

Alberti stand, mit dem Pferde beschäftigt, am nächsten und glaubte sie zu erkennen.

Danebrand! rief er.

Ist Danebrand da? Gott sei gelobt, ächzte die Hülfesuchende und flog in die geöffnete Thür.

Ein junges Mädchen im sonderbarsten Aufzuge stand vor den Männern. Über den armseligsten Anzug, ein nicht gerade verwildertes, aber doch dem Äußern nicht entsprechendes Haar, waren ein glänzendes rothes Ballkleid und eine Florkapuze von gleicher Farbe geworfen. Eine schwarze Maske hielt sie in der linken, in der rechten Hand die Florbehänge, die ihr wild vom Kopfe geglitten waren.

Louise Eisold! sagte Danebrand mit erstarrten Lippen.

Dann sich ihr näher wendend, flüsterte er mit heftigstem Schreck:

Was wollen Sie?

Danebrand! Ich beschwöre Sie um Gottes Willen! Sie schlagen ihn heute todt! Kommen Sie! rief das Mädchen, das jetzt auch Willing erkannte.

Louise Eisold! rief der Fabrikherr mit Entrüstung.[1380]

Ist Das Ihre Armuth, daß Sie den Fortunaball besuchen? Schämen Sie sich!

Verurtheilen Sie mich, Herr Willing! rief das Mädchen, verachten Sie mich, nur Hülfe! Hülfe, Danebrand! Hackert's Leben ist in Gefahr. Ich habe Alles gehört. Lasally's Knechte, den Neumann vom Justizrath Schlurck und eine Horde andrer Bösewichter hat diese teuflische Jeannette aufgehetzt. Hackerten soll sie verdanken, daß sie heute um den Dienst beim Justizrath gekommen ist und Neumann wollte sie heirathen, wenn sie bliebe – was weiß' ich! Gott, was weiß ich! Aber den Unglücklichen – sie schlagen ihn todt. Herr Willing, es ist Alles abgemacht ... Danebrand! Eine von den Wandstablers soll ihn in den dunkeln Garten locken! Jesus! Danebrand! Alberti – Sie Herr Heusrück – helfen Sie!

Der Fabrikherr war im größten Zorn.

Welche Zumuthung, elende Dirne! rief er. Dieser brave Danebrand arbeitet für dich und deine Geschwister! Und du schändest das Andenken deiner Ältern, auf diesen Ball zu gehen? Und für wen soll Danebrand sein Leben einsetzen, für den Burschen, den du seiner treuen Liebe vorziehst? Weißt du, wem sein Leben gehört? Dem Schwur, den er deinen Ältern that, deiner Mutter, als sie im letzten Todesjammer beruhigt auf seine treuen Augen sah! Hinaus Dirne! diese Stelle ist zu rein für dich und deine Schande!

Mit einem Schrei der Verzweiflung sank Louise zurück ...[1381]

Wo sind die Kleider her, die du trägst? riefWilling, nach ihnen langend und die entfallene Maske mit den Füßen von sich stoßend.

Louise antwortete nicht ...

Lumpen unter gestohlnem Flitter! sagte Willing. Ja gestohlen, gestohlen deinen Geschwistern! Elende, wer sorgt für das lallende Kind neben deinem Lager, wenn du in den Nächten deine Gesundheit im Tanze verrasest? Hörst du das Kind um Hülfe schreien – der alte Großvater stirbt vielleicht in diesem Augenblicke ... und wir sollen hören, wenn du Hülfe rufst für einen jämmerlichen Liebhaber? Pfui! Hinweg von diesem Hause!

Furchtbar tobte der Schmerz in des Mädchens Brust. Ihr todtenblasses Antlitz zuckte und ihre Hand faßte nach dem Herzen ...

Das Kind – schläft – stöhnte sie. Gott schützt es -morden Sie mich nicht! Hackert ist elend. Ich lernte ihn kennen, als er schon einmal für todt in unsre Wohnung getragen wurde ... Danebrand – ich verdien' es nicht um Sie – aber retten Sie! Steigen Sie über den Zaun! Noch eine Minute und es ist zu spät!

Willing wandte sich mit der ganzen Strenge ab, die er behaupten mußte, wenn er in einem solchen Arbeiterstaate der Herrscher bleiben wollte.

Von uns hier steigt Niemand über fremde Zäune! rief er. Hinaus hier!

Danebrand aber ging nun zu Herrn Willing näher heran und sagte:[1382]

Herr Willing ... ich habe ... Herr Willing ... ich habe im Buckel einige Knochen zu viel, ... ich will ihr helfen. Was?

Danebrand! rief Louise freudig und sprang wie neubelebt empor von einem Sessel, den ihr die Arbeiter näher gerückt hatten.

Willing sah auf Danebrand, der ihn treuherzig an blickte, voll Zorn ...

Danebrand fuhr getrost fort:

Nicht einmal um dich, Louise! Deine Thorheit zerreißt mir das Herz. Aber unser guter Maler, der hat gesagt, wer in der Nacht wandelt, den treibt der Teufel auf die Dächer, aber ein Engel kommt vom Himmel und hält seine Hand über ihn, daß er nicht falle ...

Damit griff er langsam und wie verstohlen hinterrücks nach einer eisernen Stange, die in der Nähe stand, und sie plötzlich mit der ganzen Gewalt seiner Muskelkraft über'm Haupte schwingend, rief er:

Wer will uns was?

Dann aber, wieder wie bittend sprach er:

Herr Willing!

Willing wandte sich ab.

Nun stürzte Danebrand zur Thür hinaus, über den Hof und rannte wie ein Besessener davon.

Louise folgte ihm, wie ein Blitzstrahl so rasch ihn überholend, um ihm den Weg zu zeigen ...

Willing schüttelte den Kopf und sagte seine Erschütterung verbergend den Andern Gute Nacht!

Ackermann, Selmar und Leidenfrost, bewegt von der[1383] aufregenden, unerwarteten Scene, setzten sich auf den Wagen und fuhren hinaus in die Nacht und mit dem aufrichtigen Wunsche, daß Danebrand's edle Selbstbeherrschung umsomehr von einem glücklichen Erfolge belohnt sein möchte, als das allerdings in ziemlich zweideutigem Lichte hier auftretende Mädchen ohne Zweifel durch Zärtlichkeit und Mitleid an Hackert gebunden war und nicht so aussah, als würde sie ihr Herz einem Manne schenken, der nicht noch die Bürgschaft einer besseren Entwickelung bot.

Alberti aber und Heusrück legten sich nieder auf die Matratze.

Als sie gesehen hatten, daß Herr Willing, nachdem er noch Geld und Papiere in ein Portefeuille gesteckt, es dann mit sich genommen hatte und in einem entlegenen Wohngebäude das Licht eines kleinen Fensterchens ausgelöscht, sich also zur Ruhe begeben hatte, schlichen sie hurtig, sich auch mit Eisenstangen bewaffnend, ihrem Kameraden an den hintern leicht zu übersteigenden Zaun der Fortuna nach.

Nicht um den Nachtwandler ist's! sagte Alberti. Aber um den guten Schleswiger wär's doch Schade, wenn es zum Kampf käme und er ohne Hülfe bliebe![1384]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 1344-1385.
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