Funfzehntes Capitel
Der Schrein

[1454] Die Lauschenden vernahmen erst das Kläffen eines Hundes, das jedoch nicht aus dem Zimmer des Justizrathes selbst emporscholl, sondern aus dem vor ihm befindlichen und auf die Hausflur hinausgehenden Wartezimmer.

Dann hörten sie, daß der Justizrath Etwas zu rücken schien ...

St! sagte Bartusch. Er versteckt den Schrein mit dem Kreuze! Das eigentliche Mark, den Kern, die Blume hab' ich doch wol hier in Händen!

Er zeigte auf die alten Papiere, die er in der Hand hielt. Schlurck hatte sie liegen lassen.

Wieder bellte der Hund. Wieder brummte der Papa etwas Unverständliches, dann rückte er an den Stühlen, schloß das Fenster, stellte die Klingel auf dem Bureau zurecht und schloß nun erst von innen die Thür auf, um aus dem Vorzimmer die Besuche hereinzulassen ...

Ein noch gewaltigeres Kläffen war jetzt vernehmbar.

Bello, zurück! hörte man scharf sprechen und ein lautes Schreien des Hundes ließ annehmen, daß sein Besitzer[1454] oder sonst Wer ihn vielleicht beim Hals gepackt und in das Vorzimmer zurückgeworfen hatte.

Das ist das lahme Thierchen! sagte Melanie flüsternd;

weißt du, das ihm nachgefahren wurde. Es war nicht sein. Er pflegte es wie ein krankes Kind ...

St! sagte die Mutter. Er spricht!

Ja, er ist's, wisperte Melanie, es war seine Stimme!

Ihr Herz bebte ...

Ruhig, Fräulein! flüsterte Bartusch höflich, daß man hören kann, ... wenn's erlaubt ist.

Bartusch war in dem Grade mit den Angelegenheiten des Hauses vertraut, daß seine Anwesenheit hier eher gewünscht wurde, als hinderte.

Herr Justizrath! erscholl jetzt Dankmar's volle tönende Stimme, wollen Sie erst diesen braven Mann abfertigen, der sich melden will, für Ihren kranken Kutscher einzutreten?

Das hat Zeit, antwortete Schlurck sehr verbindlich, höchst geschmeidig und liebenswürdig. Was steht zu Diensten, mein Herr! Ich erkenne ja mit Vergnügen in Ihnen den jungen Mann wieder, den ich im Heidekrug so frei und treffend über die Politik reden hörte.

Umsomehr, Herr Justizrath, begann Dankmar mit plötzlich ziemlich starkem Nachdruck, umsomehr muß ich auf's Höchste entrüstet sein, daß ich in Ihrer Vorstellung für nicht viel mehr oder weniger als ein Spitzbube gelte ...

O! Urtheilen Sie nicht so rasch, mein junger Freund –[1455]

nicht wahr, Herr Dankmar Wildungen? sagte Schlurck sich zusammennehmend.

Dankmar und Siegbert heißen die beiden Brüder, fuhr Dankmar fort, die heute früh von einem Ball, auf den sie der Zufall verschlagen mußte, nach Hause kommen und sich unglücklicherweise von den singenden Vögeln, dem frischen, anmuthigen Anbruch des Tages, dem goldenen Lichte der Morgensonne verlocken ließen, statt um vier, erst um halb sechs Uhr ihre Schwelle zu betreten, die inzwischen von dem schändlichsten Attentate entweiht worden war ...

Ei, ei, ei, ei!

Zwei Hallunken, von denen ich nicht glauben kann, daß sie mit einer gesetzlichen Vollmacht erschienen, untersuchten unterdessen unsere Wohnung, erbrachen unsere Schränke, öffneten unsere Commoden und stahlen wie die Raben hinweg, was mit der Angelegenheit, wegen der sie zu kommen vorgaben, nicht in der geringsten Verbindung stehen kann ...

Was Sie in diesem Falle wieder bekommen werden, mein Lieber! Es ist unglaublich, was eine solche gerichtliche Requisition rasch geht. Sie waren gar nicht zu Hause, meine Herren? Sie sahen die Sonne aufgehen?

Schlurck that, als wär' er voll innigster Theilnahme und reizte dadurch Dankmarn nur noch mehr.

Ich stürzte, sagte Dankmar, in meinem gerechten Zorn über dieses Attentat zum Oberkommissär Pax und hörte dort zu meinem Erstaunen, daß Sie selbst, Herr Justizrath[1456] Schlurck, Sie, den ein glücklicher Zufall zum Finder eines mir zugehörigen Schreins machte, Sie, der Sie mich in den Zeitungen auffordern, mich zu melden, Befehl gegeben haben, gegen mich auf so abscheuliche, ehrverletzende Art einzuschreiten. Mein Herr, wie kommen Sie zu dieser Gewaltthat?

Bitte! Bitte! Nicht zu rasch! Sie verwechseln die Momente ...

Die Momente? Welche Momente? Zum Henker, Herr -Herr Wildungen – Ich – ich ersuche Sie, leiser zu sprechen, wär's auch nur des Hundes draußen wegen, der sich von Ihrem Lärm zu einem unaufhörlichen Accompagnement ermuthigt fühlt ...

Schlurck konnte sich nicht ganz bemeistern. Denn in der That Bello gab keine Ruhe. Das Thier schien außer sich, kratzte an der Thür und gebehrdete sich so unmanierlich, daß sich Dankmar selbst unterbrach und die Thür öffnen wollte, um Peters zu bedeuten, seinen Hund besser in Obacht zu halten ...

Ums Himmelswillen nicht, schrie Schlurck, machen Sie nicht auf! Die Bestie springt herein. Ich fürchte sehr, daß ich einen Kutscher, der so zudringliche Hunde hat, nicht brauchen kann.

Und an die Thür gehend, rief er in der Gegend des Schlüsselloches:

Gehen Sie, bester Mann, die Stelle ist schon vergeben! O! Herr Justizrath, sagte Dankmar gemäßigter, wie kann Das möglich sein? Im Gegentheil, ich ersuche Sie[1457] selbst, diesen Kutscher zu nehmen. Er ist brav, sehr ehrlich und Sie haben Etwas an ihm gut zu machen.

Wie so? Was? Ich gutmachen?

Es ist Dies jener arme Fuhrmann, der so unglücklich war, mir den Schrein zu verlieren, den Sie so glücklich waren zu finden. Ich gestehe Ihnen, nach diesem abscheulichen Attentat auf meine Wohnung, von dem wir später sprechen wollen, bin ich in der That begierig, zu hören, auf welche Art Sie zu meinem Eigenthum gekommen sind?

Eigenthum? sagte Schlurck lächelnd, aber schon mit ganz abgestorbener Stimme.

Die Anwesenheit jenes verunglückten Fuhrmanns von der Plessener Schmiede und des ihm nun plötzlich erinnerlichen Hundes war ihm, verbunden mit dem heftigen Tone des jungen Mannes, fast wie ein Überfall, und es gereichte ihm sehr zur Beruhigung, als er merkte, daß seine Leute vielleicht oben über der Wendeltreppe lauschten.

Mein verehrter Herr Wildungen, sagte Schlurck nach einer Pause der Sammlung und während auch Bello schwieg – man konnte annehmen, daß sich Peters mit ihm entfernt hatte – lassen Sie mich zuvörderst Etwas zu meiner Vertheidigung sagen. Sie kennen den Prozeß über die St.-Johannes-Güter ...

Ich arbeite selbst in ihm, sagte Dankmar.

Weiß ich jetzt. Um so mehr! ... Ich bin der Advokat der Stadt. Man schreibt mir, als ich in Hohenberg bin, auf dem alten Tempelhause in Angerode wäre von einem jungen[1458] Rechtsgelehrten ein Archiv entdeckt worden mit wichtigen Papieren. Herr Dankmar Wildungen, statt den Behörden davon Anzeige zu machen, eignet sich seinen Fund selber zu, läßt einen Schrein durch einen bereits gerichtlich vernommenen Schlosser erbrechen und reist mit seiner widerrechtlichen Aneignung in die Residenz. Der Schlosser gibt eine Beschreibung des Schreins. Selbst Ihre Mutter, die Witwe des Predigers Wildungen, kann nichts gegen diese Entdeckung den städtischen Behörden einwenden. Da macht mich der Zufall zum Zeugen jenes Unglücksfalles an der Schmiede zu Plessen. Ich sah einen zusammengestürzten Frachtwagen, dessen lose gepackte Güter abgeladen werden müssen, um den Wagen wieder herstellen zu können. Ich finde jenen Schrein, erkenne das genau angegebene Signalement, das Zeichen des Kreuzes mit dem vierblättrigen Kleeblatt, das Sie auch auf diesem Hause erkannt haben werden – ich lege Beschlag auf den Schrein, weil ich wußte ...

Gerichtlichen Beschlag?

Eine weitläuftige Prozedur war im Augenblick nicht möglich; denn am Morgen nach dieser Entdeckung fuhr ich von Hohenberg ab ... Verteufelter Hund! Gibt das Thier wol Ruhe?

Dankmar trat an die Thür und rief zum Schlüsselloch hinaus:

Peters, gehen Sie zum Teufel mit Ihrer Bestie! Sie stört uns! Der Justizrath wird Sie behalten, er muß es thun. Der Justizrath fühlt zu edel, um nicht zu begreifen, wie[1459] grausam er gegen Sie gehandelt hat. Er fand Ihren Verlust, freute sich des gelungenen Werkes und ließ Sie jammern, verzweifeln, blieb taub bei Ihren Klagen; arme Seele, er wird Sie schadlos halten. Gehen Sie auf die Hausflur hinaus und machen Sie dem Gekläff der Satansbestie ein Ende!

Darauf wurde es still.

Der Justizrath blieb in seinem künstlichen Humor und seiner erzwungenen Selbstbeherrschung.

Das muß ich gestehen! rief er. Sie wissen die Menschen in Angriff zu nehmen. Sie disponiren vortrefflich über mich! Entschädigung für die arme verletzte Seele eines Fuhrmanns! Wenn Sie darauf bestehen? Warum nicht? Ei! Sie gefallen mir ... Bravo! Bravo!

Sie aber, Herr Justizrath! sagte Dankmar mit schwächerer und wenn auch scherzender, doch sehr entschiedener Stimme; Sie gefallen mir noch gar nicht. Ich will Ihnen die glücklich bestandene Probe eines polizeilichen Entdeckungstalentes in Plessen an einer gewissen Schmiede verzeihen. Was geschieht nun, da Sie hier ankommen? Schickten Sie zu dem rechtmäßigen Besitzer Ihres Fundes? Oder hatten Sie den Namen vergessen, den Sie schon in Hohenberg wollen gewußt haben?

In der That hatt' ich Das! Ich ließ Sie in der Zeitung auffordern, sich zu melden ...

Zwölf Stunden vor dem Attentat auf meine Wohnung? Die Anzeige sollte eine Falle sein?

Die Anzeige war in der Frühe des gestrigen Tages in[1460] die Zeitungsbureaux gesandt worden. Inzwischen kamen von Seiten meiner Vollmachtgeber die ärgsten Anklagen gegen Sie und die erneuerte Nennung Ihres Namens. Sie arbeiteten selbst in diesem Prozeß! Sie kannten die Geschichte desselben und eignen sich durch Einbruch die Urkunden des alten Tempelhauses an!

Zum Henker, Herr, dies alte Tempelhaus ist die Wohnung meiner Eltern gewesen. Welches Gericht will mir verwehren, in meinen eignen vier Pfählen eine hohlklingende Wand zu untersuchen?

Hör' ich da den Juristen sprechen? Unmöglich! Gestehen Sie, daß Sie sich von dem Interesse, das Ihre Person, Ihre Familie an diesen Urkunden nehmen muß, haben verleiten lassen, eine unerlaubte Handlung zu begehen!

Meine Person? Meine Familie? Was wissen Sie –

Glauben Sie, daß ich den Inhalt des Schreines nicht kenne?

Sie haben ihn –

Wieder öffnen lassen, wie billig. War ich als Anwalt der Stadt nicht in meinem Rechte? Sie haben wahrscheinlich noch mehr entwandt ... dies Mehr mußte bei Ihnen gesucht werden ...

Dankmar schwieg, weil ihm die furchtbarste Aufregung die Worte raubte.

Der Justizrath setzte ruhig hinzu:

Die in Angerode gelegenen Besitzthümer der protestantisch gewordenen Johanniter sind eine Dependenz der hiesigen St.-Johanniskirche. Der Schrein mit dem[1461] Kreuz gehört zu unserm Archiv und wird in unserm Prozeß eine Rolle zu spielen haben.

Das hoff' ich! sagte Dankmar mit großem Nachdruck. Ich begreife nun vollkommen, daß man mir, einem Hülfsarbeiter dieses Prozesses, zugetraut hat, ich hätte mir eigenmächtige Eingriffe in den Gang desselben erlauben wollen ...

So ist es, Herr Referendar ...

Man gibt mir vielleicht Schuld, ich hätte im Interesse des Staates, dem ich diene, gegen die Stadt Etwas unternehmen wollen ...

Sie treffen das Richtige!

Aber Sie haben in den Papieren gelesen?

Geblättert ...

Entdeckten Sie meinen Namen?

Wildungen? Er ist seit dreihundert Jahren oft genug in diesem Prozesse genannt worden.

Fanden Sie nicht Urkunden, die Ihnen auf den ersten Anblick zeigten, daß ich ein sehr begründetes, persönliches Recht für meine Familie an diesen Akten gefunden habe?

Daß ich ... nicht wüßte ... stammelte unentschlossen Schlurck.

Nun, Herr Justizrath, ich hoffe Ihnen noch in Zukunft beweisen zu können, daß ich die entschiedenste Absicht hatte, nichts von meinen Entdeckungen zu unterschlagen, sondern sie zu einer ganz neuen Diversion der großen Streitfrage zwischen dem Fiskus und der Stadt-Kämmerei,[1462] zwischen dem Fürsten und den Bürgern, öffentlich zu benutzen!

Sie überraschen mich ...

Ihr Mistrauen, das Mistrauen Ihrer Clienten hat Sie zu weit geführt. Sie haben geglaubt, noch mehr Eroberungen aus dem Archiv von Angerode bei mir anzutreffen –

Allerdings ...

Ich fehlte darin, daß ich wußte, Sie haben meinen Schrein gefunden und nicht gestern schon bei Ihnen vorsprach –

Es erweckte Verdacht ...

Nun wohlan! So bitt' ich jetzt um zwei Dinge. Erstens –

Nehmen Sie doch Platz! Regen Sie sich doch nicht so auf, mein Verehrtester!

Erstens: Die Diener der hier so sonderbar eiligen Hermandad haben sich ein Bild, ein mir und andern Personen sehr theures Bild angeeignet ...

Das zum Angeroder Archiv gehörte?

Die Dummköpfe müssen Das geglaubt haben ...

Oder Ihre Instruction war zu allgemein. Was ist das für ein Bild?

Ein Bild, das einer Person gehört, die Ihnen selbst sehr theuer sein sollte, dem Prinzen Egon von Hohenberg.

Wie kommen Sie ...

Ich brachte es von Hohenberg ...

Ei! ei! Ein Bild! Geheimrath von Harder wird das vermissen. Sie wissen doch, daß ihm die Verlassenschaft der Fürstin Amanda nach der Residenz zu führen aufgetragen[1463] war. Doch thut Das nichts. Die Familienportraits, wenn es eins derselben war, bin ich beauftragt, dem Prinzen zurückzustellen.

Der Oberkommissär Pax, bei dem ich eben war, behauptet auch in der That, in dem Bilde eine Reclamation des Geheimraths von Harder entdeckt zu haben und schickte es Diesem zur Recognition ...

Es ist der kürzeste Weg, es in meine Hand und dann in die des leider erkrankten Prinzen Egon von Hohenberg zu bringen.

Aber Sie wissen nicht, daß sich an dieses Bild Geheimnisse knüpfen, die das Interesse der ganzen Hohenbergischen Familie betreffen. Sie sind der natürliche Anwalt dieser Interessen ...

Sie überraschen mich ...

Wenn eine unberufene Hand ...

Geheimnisse? Ein Bild? Fürchten Sie doch nichts!

Alles! Alles! Auf dies Bild hat im Auftrage der seligen Fürstin Amanda nur Ein Mensch auf Erden die gerechtesten Ansprüche, der ehemalige Erzieher des Prinzen Egon, der frühere Pfarrer Rudhard ...

Pfarrer Rudhard? Ich kenne ihn. Ich weiß, daß er hier ist, mit der Fürstin Wäsämskoi! Aber ich staune ... Der? Welche Ansprüche? Was ist damit?

O Gott! Jede Minute der Verzögerung, jeder Augenblick, wo dies theure Bild in den Händen einer Pauline von Harder ist, kann die Quelle ewigen Leidens für den Prinzen Egon werden ...[1464]

Ich zittere. Bester Freund, wie dank' ich Ihnen! Da soll eiligst – Aber geben Sie mir Aufklärung!

Rudhard soll sie Ihnen geben. Schicken Sie so gleich zu Herrn von Harder, fordern Sie alle Familienbilder zurück! Sie wissen nicht, welcher unsägliche Aufwand von Schalkheit, List und Charakter angewandt wurde, um dahin zu gelangen, wo wir jetzt uns befinden, an der Gefahr, eingestehen zu müssen, daß Alles vergebens war!

So schick' ich sogleich zum Geheimenrath! Warten Sie einen Augenblick!

Schlurck schellte.

Es kam ein Diener seines Bureaus. Er schrieb, während oben die drei Lauscher sich bedeutsam und hoffnungsvoll anlächelten, einige Zeilen an den Geheimenrath, siegelte sie, nachdem er sie Dankmarn hatte lesen lassen. Dieser war, eben so von der verlorenen Nacht, wie von den gewaltigen Eindrücken des Morgens, erschöpft und saß fast abgespannt im Sessel ... Schlurck wurde immer freundlicher und zuthunlicher. Seine Geistesgegenwart verließ ihn keinen Augenblick. Als der Diener sich entfernt hatte und Melanie durch die eingetretene Stille und die Erwähnung des Bildes, an dem sie so ernstlich betheiligt war, sich auf eine gemüthlichere und wärmere Wendung des Gespräches gefaßt machte, begann Schlurck:

Und nun: Ihr gefälliges Zweitens? Sie sprachen doch von –

Zweitens, sagte Dankmar, ich wünschte nun zu wissen, wo ich den nur mir gehörenden, in der Wohnung meiner[1465] Eltern gefundenen Schrein mit dem Kreuze und seinem wichtigen Inhalte wiederfinde? Wo ist er? Ich muß ihn haben ...

Der Justizrath machte hier eine große Pause.

Deutlich hörte man, daß er auf die Dose klopfte und sich zu einem vertraulicheren Gespräche rüstete.

Bello war still.

Melanie, die Mutter und Bartusch hielten den Athem zurück.

Lieber Herr Wildungen, sagte Schlurck, erholen Sie sich. Sie haben die Nacht durchwacht. Sie sind erschüttert von den Erlebnissen des Morgens. Ich gestehe, daß ich ungern dem Drängen meiner Clienten nachgab. Sie glauben nicht, wie reizbar über diese Angelegenheit die ganze Commune ist und wie leidenschaftlich sich einige der eifrigsten und hitzigsten Verfechter ihrer Interessen über die Angeroder Archiventdeckung und Ihr, läugnen Sie es nicht, eigenmächtiges Verfahren ausgesprochen haben. Sie frühstückten noch nicht, lieber Herr Wildungen, darf ich–?

Bitte! Bitte!

Ich freue mich wahrhaft, Sie wiederzusehen. Ahnte Das nicht im Heidekrug, als Justus so wohlbehäbig sein dummes Juste-Milieu auftischte und der kecke Handwerksgesell am Fenster schnarchte! Ahnte auch nicht, daß Sie meiner Familie so viel Liebenswürdigkeit erwiesen ...

O Herr Justizrath! Sie kehren die Rolle um. Ich bin der[1466] verpflichtete Theil. Man war sehr liebenswürdig gegen mich.

Nein! Meine Frau hat mir nicht genug erzählen können von Ihrer Artigkeit, Ihrer Zuvorkommenheit ...

Es ist sehr komisch, ja! Man war höchst charmant gegen mich. Nur Schade, man hielt mich für den Prinzen Egon.

Schlurck lachte überlaut.

Mein altes Faktotum, sagte er und griff in seine Dose, mein alter Bartusch will immer schlau sein und von dem vielen Ohrenspitzen wachsen die Ohren auch manchmal zu hoch und aus einem Fuchs wird ein Esel.

Bartusch zuckte oben, als er diese Anzüglichkeit hören mußte, mitleidig die Achseln.

Sie verwundete ihn nicht im geringsten, so laut sie auch Schlurck hervorhob, um sie ihm anzuhören zu geben.

Schlurck wußte, daß oben gelauscht wurde.

Ich hätte schon gestern Ihren Damen meine Aufwartung machen sollen, sagte Dankmar gelassener. Ich bitte, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Sie waren sehr gütig gegen – gegen den Prinzen Egon.

Melanie biß sich auf die Lippen, was ihr immer ein sehr leidenschaftliches Ansehen gab.

Essen Sie heute bei mir! Was? Hm? Was? Wollen Sie? schmunzelte der Vater.

Ich danke ... war Dankmar's kalte Antwort.

Meiner Frau haben Sie's angethan, Herr Wildungen ...[1467]

und Melanie ... nun, Das werden Sie besser beurtheilen können. Sie haben Menschenkenntniß, Mann!

Worin?

Schlurck blinzelte mit den Augen.

Nun, sagte er mit künstlichem Lachen, ich versichere Ihnen, meine Frauen sind fast verletzt, daß Sie gestern nicht schon kamen. Ich lebe in zu dürftigem Zusammenhange mit den Meinigen – Hätt' ich Sie schon gestern wiedergesehen, wie leicht würde man sich verständigt haben! Ihr Feuer, Ihre Offenheit, das sind unwiderstehliche Sieger, die sich den Eingang zu jedem Herzen zu bahnen wissen.

Der Justizrath war dem jungen Manne, den er zu seinem Schwiegersohn haben wollte, so nahe gerückt, daß er ihm mit Vertraulichkeit auf die Kniee klopfen konnte.

Dankmar rückte seinen Sessel zurück und stand auf.

Herr Schlurck, sagte er, ich bedaure, daß ich nun für's Erste aufbrechen muß, um meinen Bruder zu beruhigen, der zu Rudhard geeilt ist. Wollen Sie mir nun nicht sagen –

Sitzen Sie doch noch! Ei was, zu den Geschäften ist noch immer Zeit. Referendar? Hm! Hm! Ein Bruder? Rudhard? Wie alt sind Sie denn, Herr Wildungen?

Vierundzwanzig Jahre, Herr Schlurck.

Vierundzwanzig Jahre! Hören Sie, da war ich noch nicht halb so weit wie Sie! Das heißt, an Witz und Verstand. Im Avancement freilich – Wollen Sie denn die Richtercarrière –[1468]

Bin noch unentschlossen, wozu ich mich ... doch genug, ich ...

Das geht so. In diesen Zeiten! Ja, ja, Politik, Das wäre ein Feld für Sie! Nur schlimm, daß man zuviel einsetzt, wenn man freimüthig sein will, und die Zeit ist nicht reif für uns; ein freimüthiger junger Beamter ist bald abgenutzt. Und dem loyalen geht's kaum anders. Man belohnt ihn mit dem Bewußtsein seiner erfüllten Pflicht. Der Teufel auch! Wär' ich jung, ich hielte mich immer links und nur Einmal paßt' ich auf den rechten Moment, um nach Rechts zu springen. Wetter! Warum lassen Sie sich denn nicht wählen? Von vierundzwanzig Jahren kann man jetzt ein Perikles sein und ich glaube, Pitt und Fox waren noch jünger, als sie in's Parlament kamen ...

Es gibt bessere Kräfte als die meinigen!

Also auch bescheiden! Bravo! Bravo! Wissen Sie, daß ich den Vorfall von heute früh recht bereue? Aber diese Fanatiker des Egoismus! Was haben sie mich gequält! In den Ohren lagen sie mir wie die Verzweifelnden. Ja! ja! Sie sollen bei den Gerichten in dieser Sache recusirt werden. Man will Sie entfernt wissen aus der zweiten Abtheilung des Obergerichts. Ja, ja! Das Alles geht vor ... Wissen Sie's schon?

Da ich bald selbst Partei in diesem Prozesse sein werde, so kann ich natürlich für eine andre nicht mehr arbeiten -ich finde Das in der Ordnung.

Selbst Partei? Wie so? fragte Schlurck gespannt.[1469]

Herr Justizrath, ich muß aufbrechen. Wollen Sie mir also nun nicht –

Ei, sitzen Sie doch! Ein Glas Champagner? Was? Sie waren auf einem Ball: da will der Magen eine Anregung. Es ist heiß. Dieser Hundstagssommer! Ich klingle – na? Ein Glas Madeira? Portwein?

Sie sind zu gütig, Herr Justizrath! Auch meine Nerven laufen nicht zum Feinde über. Sie bleiben mir treu und sagen: Danke!

O sehr fein! Sehr schlau! O ich wußte es ja! Melanie war entzückt von Ihnen ... Ja, Sie Tausendsasa! ... Meine Tochter zum ersten Male gesehen?

Zum ersten Male, Herr Schlurck. Ich sprach schon im Heidekrug bedauernd davon, daß ich nicht früher die Ehre hatte.

Im Heidekrug? War etwas verwirrt im Heidekrug! Ja! Ja! Ich besinne mich. Was war's doch?

Sie erwähnten Egmont ...

Aha! »Freudvoll und leidvoll«?

Nein! »Du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war!«

Richtig! Geldermann-Deutz! Reubund! Nun weiß ich Alles ... Was doch Ideen-Association thut! Ja, ja, mein Töchterlein ... Etwas keck, wild, nicht wahr? Sie ist hübsch, sagt man. Sie hat's von der Mutter! Die schlanke Taille ist von mir; ich bin mager, spindeldürr. Aber eine Taille muß sein wie bei einer Wespe. Die Neigung zu compakteren Formen kommt erst in spätern Jahren, junger Mann! Wie sagt Heinrich Heine? »Kolossale Gliedermassen« ...[1470] oder wie? Ah! Es gab eine Zeit, wo ich meinen Heine auswendig konnte. Ein gutes Mädchen, besser als sie sich gibt, meine Melanie. Haben Sie sie reiten sehen?

Sie wollten im Heidekrug nicht, daß Ich von Fräulein Melanie als einer Amazone sprach.

Ah, ja! Ah, ja! Ich entsinne mich – Richtig! ... Nun, wissen Sie ...

Wahrscheinlich dachten Sie an Herrn Lasally ...

Das war's! Sehen Sie, Sie kennen meine Empfindungen ... Ja, dieser Lasally! Das ist auch so ein Thema, wo der Mensch ...

Mein Bruder bewundert Ihr Fräulein Tochter, wie ich es that, wie Alle!

Ihr Herr Bruder? Haben einen Bruder? Ja, ja, ich besinne mich; aber hören Sie, nicht Alle! Wozu Alle? Einer und der Rechte, der die Zügel kurz zu fassen versteht. Das wäre mir lieber ... ein Mann! Ein Eroberer! Ein rechter Held!

Herr Lasally! sagte Dankmar boshaft. Der versteht sich auf kurze Zügel.

Als Melanie diese Äußerung hörte, war es ihr, als drehte sich ihr das innerste Leben um.

Sie fühlte einen Schmerz zum Aufschreien.

Mit einem erstickten Ah! ließ sie die beiden andern Lauscher stehen und schlich sich halbohnmächtig hinweg.

Dieses letzte Wort war zu grausam gewesen. Schon die kalten Antworten, die Dankmar vorher gab, durchrieselten[1471] sie; aber dies letzte: »Herr Lasally! Der versteht sich auf kurze Zügel!« ging über das Maß Dessen, was ihr Stolz, ihre unleugbare Liebe ertragen konnte, hinaus.

Schlurck hörte oben eine Thür gehen und verstand, daß einer der Lauscher sich entfernt hatte ... wer anders, als der wichtigste, ihm wie sein Leben liebste ...

Sie gibt die Partie auf! sagte er zu sich selbst mit Schmerz; hier ist keine Freundschaft möglich, hier ist kein Bundsgenosse für mich!

Noch einmal versuchte er noch, an Dankmar's Herz zu klopfen. Noch einmal sagte er:

Heirathen Sie nur nicht zu früh! Ein junger Mann, der eine bedeutende Zukunft erstrebt, darf nicht in die Knäuel der Strickstrümpfe gerathen ...

Ich danke Ihnen, Herr Schlurck, antwortete Dankmar kalt, für diese Rathschläge, die ganz mit meinen eigenen Empfindungen zusammenstimmen. Mein Herz ist glücklicherweise derjenige Muskel meines Körpers, dem ich seit frühester Jugend, vielleicht durch zeitige Übung, eine große Kraft verlieh. Dieser Muskel besitzt viel Elastizität und ich habe ihn darin mit einem guten Magen auf eine Linie gestellt, ich fühl' ihn nicht zu lebhaft.

Ein Weiberfeind?

Geist und Schönheit können mich fesseln ... doch nur vorübergehend ... flüchtig.

Und diese Erfahrung machen Sie überall?

Bis jetzt überall! Ich habe einen zu kalten Verstand. Ich durchschaue zu bald die Eitelkeit und die Schwäche der[1472] Frauen, und wenn mich etwas entzückt hat und ich sehe dann, daß Das, was mich blendete, doch nur ein flüchtiger Schimmer ist und keine Grundsätze, keine Bürgschaften für die Zukunft geboten werden, und ich nun erst selbst, als Mann, ich Schwankender, ich Egoistischer, ich Grausamer, nur auf mich und meine Eitelkeit ohnehin Bedachter ... doch was verschwend' ich die Zeit! Der kleine Kläffer, Bello, mahnt schon wieder, daß wir ein Ende ma chen ...

Damit stand Dankmar auf und Schlurck wußte nun entschieden, daß er für Melanie nichts zu hoffen hatte.

Er wurde ernst und nahm sich zusammen und fiel in seinem Zorn erst auf Bello.

Sie haben Recht, das Thier ist unerträglich, sagte er, und schien zu erwarten, daß sich Dankmar empfahl.

Nun – sagte aber dieser staunend ... und der Schrein? Die Dokumente?

Schlurck antwortete kalt:

Sind im städtischen Archiv. Die Papiere werden bei den Akten figuriren.

In der That! Wirklich? O, Das ist seltsam!

Schreiben Sie diese Unannehmlichkeiten dem Ihnen wohlbekannten Gange der Gesetze zu!

Wer hat die Aufsicht des städtischen Archivs!

Einer unserer gefeiertsten Alterthümler, dem wir die treffliche Abhandlung über die allmäligen Veränderungen unseres Stadtwappens verdanken ... Propst Gelbsattel!

Dankmar stampfte zornig mit dem Fuße auf.[1473]

Er fühlte sich zu unglücklich über diese ihm unerwartete Wendung der Dinge.

Er sah den Schrein im Geiste geöffnet, die Dokumente, die für ihn und seine Familie sprachen, vernichtet. Wer konnte ihn schützen?

Sie sahen die Papiere nicht? rief er. Wissen nicht, daß ich in der Lage bin, Das, was etwa fehlen sollte, mit Aufopferung meines Blutes zurückzuverlangen und daß ich beschwören würde, Die, die etwa gewisse Papiere unterschlagen hätten, gehörten als Schurken und Bösewichter an denselben Pranger, der an der Ecke dieses Rathhauses durch eine eiserne Kette bezeichnet wird?

Ich weiß nichts, was Veranlassung zu so gewaltsamen Reflexionen gäbe; antwortete Schlurck kalt.

In furchtbarer Aufregung und wie von dem raschen Entschlusse, zu Gelbsattel zu eilen, getrieben, öffnete Dankmar die Thür, ohne ein Wort des Abschieds.

Bello, der längst schon mehre Mal wieder an die Thür des Vorzimmers gekratzt und sich nicht hatte beruhigen lassen, sprang nun wie wüthend in das Zimmer und faßte, ungehindert durch sein lahmes Bein, in grimmiger Verbissenheit die Zipfel von Schlurck's seidenem Schlafrocke, zerrte und kratzte an ihnen herum, daß der geängstete Justizrath im Zorn den in der Thür stehenden und die Mütze bescheiden in der Hand haltenden Peters anfuhr:

Die Bestie fort! Zum Haus hinaus! Zum Haus hinaus! Ihr Gesindel![1474]

Dankmar stutzte, biß die Zähne zusammen und sagte zu dem verdutzten Peters:

Der Schrein ist verloren!

Bello aber, das treue, wachsame Thier, hatte eine andre Fährte, als dem menschlichen Organe möglich war. Schon zehn Jahre war das kleine Thier ein treuer Wächter auf den Güter-Wägen seines Herrn gewesen. Es schien den Duft von Angerode, ja den Duft des Strohes zu erkennen, mit dem man in Thüringen die Frachtgüter verpackt. Winselnd und wie lustig und ausgelassen kläffend war es in eine Nische des dunklen, nur von einem Hoffenster erleuchteten Zimmers gesprungen, hatte eine Tapetenwand fast umgeworfen und Peters schrie schon lachend:

Nichts verloren! Da ist das Kreuz!

Bello, ist's möglich? Rief Dankmar.

Aufgeladen! sagte Peters, der den vorigen ganzen Streit gehört hatte, zu sich selbst, und in demselben Augenblicke schon hatte der treue Fuhrmann sich gebückt, den Schrein gepackt, und war im Begriff, das gefundene Gut auf die Schulter zu heben.

Das war zuviel für den Justizrath. Er stand todtenbleich, hatte aber doch noch den Muth, rasch die Hand des Fuhrmanns zu halten ...

Dankmar sprang hinzu, riß den Deckel auf, griff in den Schrein, fühlte, daß er voller Schriften war, fühlte die Siegel der Pergamente und im Triumphe faßte er an, schleuderte den Justizrath zurück und hob den eroberten Schatz auf Peters' markige Schultern.[1475]

Schlurck war einer Ohnmacht nahe ....

Er klingelte. Bartusch fühlte, daß es Zeit war, ihm beizuspringen.

Er gab die allein wichtigen Papiere, die er in den Händen hatte, rasch der Mutter, die von Alledem nichts begriff und nur zu Melanie eilte, um ihr zuzuschreien: Schließ die Papiere ein! ... und stieg polternd die Wendeltreppe hinab ...

Ah! rief der Justizrath und athmete auf. Bartusch, Sie werden eine neue eigenmächtige Handlung des Herrn Wildungen bezeugen. Mein junger Mann, ich warne Sie ernstlich! Sie werden Ihre Vermessenheiten bitter bereuen!

Und Sie Ihre Lügen, Ihre Verstellungen, Ihre Heucheleien, Ihre Sittenlosigkeit! rief Dankmar, als Peters schon vorausschritt und mit der rechten, freien Hand seinen Bello liebkoste.

Welche freche Stirn! antwortete Schlurck, der die verletzenden Erfahrungen von gestern in seinem eignen Hause nicht wieder erleben wollte.

Die Stunde wird schlagen, sagte Dankmar noch im Vorzimmer sich umwendend, für Vieles, was schlummerte! Die Zeugen gegen Ihr Haus mehren sich! Die, die auf dem Krankenlager liegen, werden genesen! Die, die bei der Nacht wandeln, werden noch auf andre Namen, als den Namen »Fritz Hackert« erwachen. Das geweihte Kreuz auf dieser Truhe wird reinen Händen den Muth zu einem Kampfe geben, dessen Schlachten mehr erschüttern sollen als nur die Ruhe eines gewissenlosen Notars![1476]

Damit ging Dankmar und suchte die Luft der Straße, um seine furchtbar klopfende Brust zu erleichtern.

Bartusch aber flüsterte rasch dem entfärbt und erschöpft in seinen Voltaire-Sessel sinkenden Justizrath zu:

Beruhigen Sie sich! Die Papiere, die doch der Rahm an der Sache scheinen, liegen ja oben!

O wären sie mit ihm gegangen! sagte Schlurck vernichtet. Wären sie in dem Schrein geblieben! Ich fühle mich nicht stark, solche Scenen zu ertragen! Ich bin kein Schurke! Ich bin kein Dieb! Weg von mir Bartusch! Weg! Weg! Ihr Alle seid mein Verderben! Meine Schwäche ist mein Elend! Ihr treibt mich auf schlimme Wege, die mir fremd sind. Ihr treibt mich in die Schande! Tragen Sie ihm die Dokumente nach! Fort! Fort!

Nimmermehr! rief Bartusch. Justizrath! Besonnenheit, Muth! Bedenken Sie, was der Propst sagen würde! Mann! Warum haben Sie Heimlichkeiten vor mir, vor Ihrem treuesten Anhänger, vor Ihrer linken Hand, wenn Ihnen die rechte zu müde wird, ja vor Ihrer rechten, wenn Sie mich schalten ließen und Farbe halten könnten! Justizrath! Justizrath! Wir unterschlagen diese Papiere! Wir vernichten, wir ver brennen sie!

Schlurck schwieg. Er war seiner selbst nicht mehr bewußt. Ein Bild stand vor ihm, das grauenhafteste, das Bild seiner Schande!

In Todesangst griff er nach seiner kalten Stirn und flüsterte:

Welche Bahn wandl' ich![1477]

... Ein guter Genius fügte nun aber Folgendes:

Peters öffnet schon das Thor und tritt mit dem Schrein auf die Straße. Dankmar liebkost den auf seinem lahmen Beine tänzelnden Bello und wirft im Gehen einen flüchtigen Blick auf die mit Bildern gezierte Treppe, die hinaufführte zu Melanie, zur Tochter eines solchen Vaters, zu ihr, der süßen, himmlischen Melanie; zu ihr, die im Mondenschein in seinem Arme lag! Zu ihr, die ihn noch in diesem Augenblicke wie ein Zauber umstrickte, trotzdem, daß sein sittliches Gefühl sie verläugnen mußte!

Da hört' er Geräusch, wie von einer leicht von einem Felsen herunter springenden Gazelle.

Er erstarrt ... Es ist Melanie!

Freundlich und holdselig, wie in Hohenberg, ruft sie ihm von den letzten Stufen, von denen sie sich herabbeugte, zu:

Sie böser, undankbarer Mann! Das Bild, das ich Ihnen mit so vieler Mühe erobert habe, ließen Sie sich wieder rauben. Ist Das wahr?

Melanie! sagte Dankmar stammelnd und sprachlos.

Hier, fuhr sie fort, hier, was ich Ihnen jetzt bringe, halten Sie Das fester. Gehört es nicht Ihnen?

Dankmar nahm, was sie ihm darreichte ...

Es waren, auf flüchtigen Blick sah er's, diejenigen Papiere, auf die in seiner Angelegenheit Alles, Alles ankam, die einzigen wichtigen, die entscheidenden Papiere!

Sein Schreck über die Möglichkeit, ohne sie gegangen zu sein, die Überraschung, Melanie nun wiederum als eine[1478] treue, aufopfernde, hingebende Freundin zu erkennen, wirkten so mächtig auf ihn, daß er sich nicht sammeln konnte und in ihrem Anblick verloren dastand ...

Nun, sagte Melanie harmlos, es sind doch die Ihrigen, Wildungen?

Wohl! Wohl! Wie soll ich Ihnen danken! stammelte Dankmar und griff nach ihren Händen, um sie beide zugleich zu küssen.

O! sagte sie, sich leise entziehend; lassen Sie's, sehen Sie diese Hände! Voller Staub! Voller Moder! Es ist meine Schuld nicht, daß Sie mir immer solche tolle Aufträge mit alten Bildern und Papieren geben. Sie! Lassen Sie!

O Melanie, wie tief beschämen Sie mich! rief Dankmar und gab die Hände nicht her, er küßte sie und drückte sie an sein Herz wie ein Verzückter.

Was wollen Sie denn? fragte sie mit Lippen, die ihr furchtbares Beben durch scherzhafte Laune vergebens zu beherrschen suchten. Grüßen Sie Ihren blonden Bruder! Lassen Sie sich nichts von ihm vorreden, was ich ihm für Sie aufgetragen hätte! Er ist nur eifersüchtig auf mich, weil ich den alten Professor Berg mit den schönen, weißen Locken mehr liebe als ihn und Alle – Euch Alle!

Melanie! rief Dankmar, mußte Das so kommen? Nach jener Nacht in Hohenberg? Die wenigen Tage sind wie Monden.

Er konnte sich nicht trennen.[1479]

Hüten Sie die Papiere besser wie das Bild! sagte Melanie. Was wird nun mit dem Portrait, das der schönen d'Azimont ähnlich sieht? Ja, die ist schön. Kennen Sie sie? Die sollten Sie sehen! Die würde Sie bezaubern ...

Ein, ein Bild nur, das Ihrige, Melanie, lebt in meinem Herzen! rief Dankmar und sah tief in die zitternden, braunen Augen des Mädchens.

Die Mutter sagte mir, Sie hätten dem Vater böse Dinge gesagt, fuhr sie fort. Versprechen Sie mir, ihm einige Zeilen zu schreiben und ihn um Verzeihung zu bitten? Wollen Sie Das? ... Sie zögern? ... Selbst Das nicht? Wildungen?

Melanie, ich will zu ihm zurück, ich will ihm zu Füßen fallen, ihm danken ...

Das nicht! Das nicht! Jetzt nicht! Sie schreiben ihm und bitten um Verzeihung? Thun Sie's meinem Kindesherzen zu Liebe! Ja? Weiter nichts! Nur Achtung, Schonung, nur ein Wort der Bitte um Verzeihung!

Ich thue es ... Melanie! rief Dankmar willenlos. Sie gehen? Sie bleiben nicht? Melanie? Sie steigen die Stufen hinauf ... Sie fliehen ... Immer eine Staffel weniger zu meinem Glücke und meine Seele folgt Ihnen? Melanie?

... Dankmar stand noch eine Weile, sich besinnend auf Das, was er erlebt hatte.

Melanie war verschwunden.

Tief erschüttert steckte er nun die wahren Beglaubigungen[1480] der Ansprüche seiner Familie zu sich und gab Peters, der am Thorwege wartete, ein stummes Zeichen, voranzugehen.

Er folgte schwankend. Er stand still ...

Er wagte aber nicht, noch einmal aufzusehen zu den Fenstern, wo diese Zauberin wohnte, die ihn so mächtig überrascht, so plötzlich auf's neue in den Bann ihrer Liebenswürdigkeit und Schönheit eingeschlossen hatte. Er bedurfte des ganzen Hinblickes auf die große Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf die neue und eigenthümliche Anwendung, die er im Interesse seines Vaterlandes und des ringenden Geistes der Freiheit und der Menschheitserlösung von dem gehofften glücklichen Erfolge seiner geltend gemachten Ansprüche auf ein großes Besitzthum versuchen wollte, um sich von diesen rasch aufeinander folgenden Schlägen des Schreckens und der Freude zu einem klaren Bewußtsein und der ihm eignen ruhigen Selbstbeherrschung wieder zu sammeln.

Schlurck aber, der sich mühsam die Wendeltreppe zu den Seinigen hinaufgeschlichen hatte und von der zornfunkelnden Mutter, von dem die Hände entrüstet zusammenschlagenden Bartusch, dann von Melanie selbst hören mußte, daß sein Kind soeben dem »abscheulichen« jungen Manne die Papiere übergeben hatte, deren ihm höchstwahrscheinliche Entscheidung ihm auch den zweiten Anhalt seiner heitern, bisher so sorglos gewesenen Existenz rauben mußte.. Schlurck zürnte nicht ... nein, er umarmte sein Kind, drückte es wie seinen Rettungsengel an's Herz,[1481] war sprachlos, zitterte vor Freude und konnte sich vor Wehmuth nicht mehr fassen ...

Die Mutter wollte verzweifeln, Bartusch wollte zanken ...

Melanie aber sagte:

Seid doch ruhig! Es ist noch nichts verloren ... Seht, der Vater weint!


Ende des vierten Buches.[1482]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 1454-1483.
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