Viertes Capitel
Brandgasse: Nummer Neun

[1185] Das Viertel, das zwei Stunden früher Siegbert Wildungen aufsuchte, ist das älteste in der Stadt.

Die Brandgasse selbst ist so schmal, daß in ihr kaum zwei Wägen sich begegnen können, ohne bis dicht an die Häuser auszuweichen. Diese Häuser sind hoch und mit überhängenden Stockwerken so gebaut, daß sie sich von oben mehr nähern als von unten. Alle diese Häuser, aus altem Sandstein und dicken geschwärzten Eichenbalken gebaut, haben eine ungewöhnliche Tiefe und werden meistens noch durch Höfe verlängert, von denen einige neuer sind als die Vorderhäuser, da zu verschiedenen Zeiten in diesem alten Stadtviertel Feuersbrünste wütheten. Ungeachtet der Name dieser Straße daher entstanden sein mochte, daß die Flammen sie öfter heimsuchten als andere; ungeachtet eine allgemeine durchgreifende Zerstörung zum Besten des gesunderen Luftzuges vielleicht für die Stadt selbst zu wünschen wäre, so schreckte man doch bei dem Gedanken zurück, welche große Anzahl ärmster Familien dabei in Lebensgefahr gerathen würde, denn keine Straße war volkreicher als diese Brandgasse.[1185]

Der Verlust an Hab' und Gut würde vielleicht durch die Mildthätigkeit ersetzt worden sein, obgleich doch selbst in diesen dunklen alten Wohnungen mit den Giebeln und Galerien sich mancher stille Sparer versteckt hielt und sich durch weiße Gardinen, Blumenstöcke und Vogelkäfige an seinen kleinen, mit Blei zusammengelötheten Fensterscheiben als ein Wohlhabender verrieth. Freilich alle Blumen und Vogelkäfige vor den kleinen Fenstern in der Gasse selbst und den Hinterhöfen konnte man nicht für ein Zeichen des freundlicheren Lebenslooses halten, denn diejenige Armuth wenigstens, die sich geistig nicht ganz verwahrlost, schmückt sich gern mit Blumen und gibt selbst einem Vogel im Käfig von ihres Daseins spärlichen Brocken ab.

Mehre der ältesten dieser Häuser in der Brandgasse waren mit jenem Angeroder Kreuze der Ritter von St.-Johannes geziert. Doch sah man nur die drei Blätter des Kleeblattes an den Ecken des heiligen Symbols, zum Zeichen, daß diese Bauten noch über den Zeitpunkt hinausreichten, wo die größere Anzahl der Ritter dieses Ordens in den Schooß der evangelischen Kirche überging.

Aber auch diese Häuser gehörten zu jener Verlassenschaft, die man damals dem Ritter Hugo von Wildungen angewiesen, als die unrechtmäßigste und dreisteste Besitzergreifung von der Welt durch die allgemeinen Wirren damaliger Zeit zugelassen und stillschweigend anerkannt wurde. Auch diese Häuser wurden von Sehlurck für die Commune verwaltet und oft genug sah man Bartusch in[1186] seinem grauen Rock hier Trepp auf Trepp ab schleichen und die gerichtliche Execution den Miethern androhen, die ihm von den sogenannten Vizewirthen als saumselige Zahler bezeichnet wurden.

Diese Vizewirthe bewohnten oft die unsauberste Spelunke von allen; aber sie zahlten keine Miethe. Nur mußten sie sich als fleißige, zuverlässige Männer in der Hut des Hauses bewähren und die einzelnen Wochengroschen, die sie von den Bewohnern sammelten, pünktlich in der großen Schreiberei des Notars und Administrators Justizraths Schlurck abliefern.

Der Vizewirth des Hauses Brandgasse Nr. 9 war ursprünglich ein Schlosser, dann aber durch seine Frau halb ein Flickschuster, halb durch seine eigene Brauchbarkeit Polizeidiener. Dieser vielseitige Mann hieß Mullrich. Die Flickereien alter Schuhe und Stiefel – neue zu liefern übernahm Mullrich nicht – besorgte seine Frau, die diese Arbeiten in Pech und Leder von ihrem ersten seligen Gatten gelernt hatte. Der zweite gab die Schlosserei auf, da er in die Lage kam, dem Staate, dem Gerichts- und Polizeiwesen in treuen Funktionen zu dienen, zu deren äußerer Unterstützung sein mürrisches, brummiges Gebahren ihm sehr zu Statten kam. Die Vergünstigung, Vizewirth in diesem Communalhause der Brandgasse zu sein, verdankte er seiner polizeilichen Stellung; denn was gab es hier nicht in diesen Spelunken, in diesen Höhlen des Jammers und Verbrechens zu beobachten! Der ehemalige Schlosser war ein Dietrich der Polizei geworden.[1187]

Seine Freiwohnung bestand aus zwei Stuben, nebst einem Kamin auf einem dunklen Vorplatze, Alles im tiefsten Kellergeschosse des Hauses Brandgasse Nr. 9. Man behauptete, die kinderlosen Mullrichs hätten durchaus nicht nöthig gehabt, in einem Souterrain zu wohnen, das bei den Frühjahrsüberschwemmungen oft unter Wasser gerieth und bei dieser Gelegenheit mit Glück die höhere Rattenjagd zu betreiben erlaubte; allein man nannte dieses würdige Ehepaar geizig, eine Meinung, die wir durch das Wohnenbleiben in diesem Freilogis doch kaum bestätigt finden möchten. Ein Freilogis ist für jeden Stand eine so unschätzbare »Gabe Gottes«, daß sich Frau Mullrich, von der wir diesen Ausdruck entlehnen, hätte der Sünden schämen müssen, wenn sie es aufgegeben hätte; zu geschweigen, daß die Einnahme von ihrem Verdienste als Flickschusterin noch durch die günstige Lage des Ortes und jene Superiorität unterstützt wurde, die der Vizewirth dieses Hauses nicht nur über einige leidlich respectable Einwohner des Vorderhauses, sondern über das ganze Gewimmel von drei großen Hinterhöfen behaupten durfte. Auch in polizeilicher Hinsicht hatte Mullrich durch dies Freilogis, das er im Frühjahr mit den Überschwemmungen und dem Hervortreten des Grundwassers und in allen Jahreszeiten mit den Ratten zu theilen hatte, doch so viele Annehmlichkeiten, daß er die Gelegenheit, hinter manche Diebshehlerei zu kommen und sich in seinem Spionirberufe preiswürdig zu bethätigen, nicht gern aufgab. Frau Mullrich war eine Dame, die die[1188] emsigste Thätigkeit liebte. Wer weiß, ob sie in einem bessern Quartier hätte auf ihrem Schuster-Dreibein sitzen und zugleich durch ein kleines Schiebfenster, das durch die dunkle Hausflur und durch das Kellerfenster, das auf die nicht viel hellere Straße ging, soviel ihre Spürkraft Anregendes entdecken können. Mullrich ohnehin war den ganzen Tag unterwegs und hatte Gelegenheit genug, auf den schönsten Promenaden, wo es Taschendiebe zu beobachten und Steckbriefe zu vergleichen gab, frische Luft zu schöpfen.

In der Regel kam er, wenn es nicht außerordentliche Fänge gab, um acht Uhr Abends nach Hause, verzehrte dann sein Käs und Brot, trank ein hohes Glas des besten, schäumendsten Dünnbieres und legte sich zeitig zur Ruhe, während seine Frau nun erst aufpaßte, wer zu spät nach Hause kam und für das Öffnen der Hausthür einen Pfennig oder Dreier zahlen mußte. Dem Nachtwächter, der eigentlich dies Privilegium des Hausöffnens für die Spätlinge beanspruchte, hatte sie glücklich diese nach Jahresschluß selbst bei den Armen nicht unergiebige Quelle des Erwerbes abzuringen gewußt. Einige Diebstähle, befördert durch den gutwillig hergegebenen Hausschlüssel des Nachtwächters, hatten ihre desfallsigen Auseinandersetzungen vor dem grauen Bartusch unterstützt. Rechnet man nun noch hinzu, daß die vermögenden Einwohner des Hauses Brandgasse Nr. 9 und seiner drei Hinterhöfe einen Hausschlüssel von ihr, für monatlich drei Groschen, miethen konnten und in der That vierzehn[1189] solcher Hausschlüssel im Gange waren, so ergab dies eine Summe, die, wenn man einige unvermeidliche Ausfälle dabei mit in Anschlag brachte, sich immer jährlich auf das stattliche Capital von etwa funfzehn Thalern belief. Die Pfennige aber oder die von Betrunkenen in der Zerstreuung gegriffenen Groschen – manchmal freilich auch zinnerne Knöpfe! – brachten jährlich mindestens eben soviel ein und da war es wohl zu begreifen, wie Frau Mullrich, vor zwölf, ein Uhr nicht zu Bett ging und des Morgens noch schlief, während ihr Gatte schon »aus den Federn« kroch, Feuer anmachte und Sommers und Winters den Kaffee oder ein dem Kaffee nicht unähnliches Surrogat selbst kochte für die erste innere Erwärmung des innersten Menschen.

Es war nach sieben Uhr, als Mullrich seinen heutigen Abendimbiß, der nicht aus Käse, sondern einmal zur Abwechselung aus drei geschlagenen oder gerührten Eiern und Butter und Brot bestand, verzehrte und ruhig die Rapporte seiner Frau anhörte.

Die Pinnen sind all, sagte Frau Mullrich und meinte unter Pinnen gewisse kleine Nägel, die unter die Schuhe geklopft werden.

So? war Mullrichs bedeutungsvolle Antwort. Er wußte, daß es sich um eine finanzielle Erörterung handelte.

Nummer 76 will uns welche verkaufen, das Schock zu fünf Pfennige –

Der alte Nagelschmiedgesell sieht ja ganz reputirlich aus. Stiehlt denn der Kerl? sagte Mullrich phlegmatisch.[1190]

Bewahre! antwortete die Ehehälfte. Er muß sie wol verkaufen. Ist ja sein Lohn! Jeden Sonnabend bringt er einen Sack Nägel mit. Baar Geld hat so ein Meister nicht.

Drum! Drum! meinte Mullrich. Dacht' ich doch neulich, der Nagelschmied bettelte. Vorm Thor sah ich ihn so scheu immer in die Häuser gehen, aus einem heraus und in's andere hinein – und die Rocktaschen ganz voll und ganz schwer. Dacht' ich nicht, er holte sich so Brot zusammen? Waren Das die Nägel! ... Fünf Pfennige für's Schock? Nimm sie! Er läßt sie Einem auch für viere! Wenn du zwei Dutzend Schock nimmst, gibt er noch eine eiserne Kramme zu für den alten Spiegel, den die Mamsell Nr. 17 dagelassen hat. Das lange Windspiel hat uns doch richtig betrogen. Brennt uns mit 14 Wochen Miethe durch, macht vier Thaler und geht bei Nacht und Nebel davon. Sollen uns an die Sachen halten! Ein alter zerbrochener Spiegel und eine Bettstelle –! Die Betten und das Waschlavoir nimmt sie mit und was sie zum Anziehen hat trägt sie auf dem Leibe. Sie ist nach Hamburg und es ist eine Schande, daß man nun so Was nicht gleich mit dem Telegraphen hinterher melden kann! Wozu sind nur die Dinger!

Frau Mullrich berichtigte hier mehrfache Irrthümer ihres Mannes. Erstens tadelte sie ihn bei dieser Gelegenheit, daß er sich gerührte Eier für die Nacht bestellt hätte, was eine zu hitzige Speise wäre; dann aber sagte sie:

Eine Kramme noch für ihren Spiegel? Und die Bettstelle auch behalten? Da könnte Einer dabei bestehen![1191]

Heute gegen Uhrer viere war der alte Graue hier und ich sagt's ihm gleich: Die Mamsell Nr. 17 ist durchgegangen, die Miethe ist nicht gezahlt, macht vier Thaler und der Spiegel und die Bettstelle macht einen Thaler, ist für Auslagen, die sie mir schuldig geblieben ist, Seife und Licht und zwei Hausschlüssel ... bleibt immer vier Thaler!

Zwei Hausschlüssel? Wie denn so zwei Hausschlüssel?

Ha! Ha! Wie ich von zwei Hausschlüsseln sprach, drehte sich der alte Sünder um und wollte sich nicht in dem Spiegel sehen lassen – weil er ganz roth wurde.

Roth? Warum denn roth und zwei Hausschlüssel?

Ach! Schon vor elf Wochen! Wie ich ihm da gesagt hatte – Herr Bartusch, sagte ich, die Mamsell Nr. 17 zahlt keine Miethe, da wurde er dazumal grob, wie immer, und kletterte selbst zu ihr hinauf. Schon zwei Wochen nicht! rief ich ihm nach. Nach einer halben Stunde kam er wieder und mit einer ganz jämmerlichen Miene. Armes Mädchen! sagt' er. Muß sich von ihrer Hände Arbeit ernähren – hat keine Eltern – und wie er dann thun kann, als wenn er ein Erbarmen im Leibe hätte wie die ewige Güte – kaum ist er damals fort – das sind nun elf Wochen – kommt die Lange herunter und will noch einen Hausschlüssel für einen Freund. Aha! dachte ich, für einen Freund! Ich gab ihr den Hausschlüssel. Kostet drei Groschen monatlich, Mamsell, sagt' ich. Wird Alles bezahlt werden, und so ging sie schnippisch davon, als wenn sie einen Ehemann gekobert hätte. Und richtig, ich hab' ihn[1192] wohl erkannt, wie er dann am nächsten Abend ankam nach zehn Uhr, in einem großen Mantel –

Herr Bartusch! sagte Mullrich erstaunend, über die »Enthüllungen« seiner Frau.

Schleich du nur, dacht' ich, fuhr seine Ehehälfte fort. Wer sind Sie Herr? Wo wollen Sie hier hin? rief ich. Nummer 17! piepte es und rasch in den Hof, wie eine Katze, so genau fand er sich zurecht. Und das dreimal! Nachher ging's ja mit Mann und Maus auf das Schloß von dem alten Fürsten und richtig! Mein Männchen kommt auch nicht wieder und den Hausschlüssel hat er bei sich behalten. Die Mamsell zahlt keine Miethe, zahlt keinen Hausschlüssel, der Freund ist fort und eines Abends sie auch, bis auf ihr Mobiliar, ihren Spiegel und ihre Bettstelle. An die halten wir uns. Männchen mag nun sehen, wo er die Miethe kriegt. Wer weiß, wo die Lange steckt! Es hat schon oft einmal geheißen: Hamburg, und hernach war's blos die Hamburger Straße.

Diese harten Verleumdungen über Bartusch, den eigentlichen Regenten dieser Häuser, wurden von Passanten unterbrochen, die an dem Schaufenster des Kellergeschosses von der dunklen Hausflur aus sich niederbeugten und in die noch »schummrige« Stube des Vizewirths hinuntersprachen.

Es waren dies zuvörderst Drehorgelspieler, die wegen eines Hausschlüssels parlementirten. Sie hatten heute einige Tanzorte mit ihren melodischen Klängen zu bedienen, wo sie lange auszubleiben gedachten ...[1193]

Er wurde ihnen leihweise für einen Dreier und nur für diese Nacht bewilligt mit vielen Mahnungen, ihn zu schonen, nicht zu verlieren, Mahnungen, die sich mit einem höflichen Übergange in zweckentsprechende Drohungen verliefen.

Es war nach sieben. Die Handwerker und Arbeitsleute, die im Hause wohnten, kamen nun von der Arbeit. Kinder, Frauen, Mädchen, Männer, rüstig und hinfällig, bunt durcheinander ...

Frau Mullrich ließ sie Alle mit scharfprüfenden Augen die Revue passiren. Bei Jedem, der ihr fremd schien, öffnete sie das kleine Schaufenster und sah mit ihrer langen Spitznase hinterher ...

Hat die Klapperfuß wieder einen Neuen? fragte sie, aufmerksam auf einige ihr unbekannte Passanten.

Gemeldet ist keiner, sagte Mullrich und wies auf ein schmuziges Buch, in dem die ganze Bewohnerschaft verzeichnet stand.

Es gehen heute so viel fremde Gesichter aus und ein ...

Bei Nr. 40 ist viel Verkehr ...

Nein, Mannspersonen mein' ich! Mannspersonen! Da geht ja die Klapperfuß! Sieh den Staat! Guten Abend, Madame Klapperfuß! Und die Mamsell Tochter! Mullrich, ich glaube, da ist's schon wieder ...

Nicht richtig! Das wäre das Fünfte?

Diese Menschen! Den frommen Herrn, der sie neulich über ihr Sündenleben ermahnen wollte, haben sie fast zur Treppe hinunter geworfen ...[1194]

War lange keiner vom Verein da? Die Bibeln sind ja bald all ... Nur noch zwei auf'm Lager ... Der Buchbinder in der Schulstraße hat erst neulich gefragt: Herr Mullrich, keine neuen englischen Bibeln?

Der Nagelschmiedgesell, dem wir eine anboten, ist recht fromm und will sie behalten ... meinte Frau Mullrich, geschmeichelt von der Artigkeit des geschäftsfreundlichen Buchbinders.

Aber Nr. 25 ließ uns doch eine an Zahlungsstatt ... Wir müssen einmal bei dem Verein anklopfen; es ist doch immer ein gutes Geschäft.

Sei vorsichtig, Mullrich! Die durchtriebene Person, die Louise Eisold, hat uns erst neulich gedroht, sie wollte den ganzen Commersch mit den Bibeln anzeigen.

Mullrich schwieg erschrocken.

Zum Verständniß dieser aphoristischen Abendunterhaltungen des Herrn und der Frau Vizewirthin wollen wir aus der reichen Chronik dieses Hauses nur einige kleine Personal- und Sittennotizen geben.

Die mehrerwähnte Madame Klapperfuß z.B. beherbergte im ersten Hinterhofe auf vier Zimmern eine Anzahl von Gesellen, die sie kasernenartig in »Schlafstelle« hatte. Die Zahl schwankte meist zwischen achtzehn bis zwanzig. Sie schliefen je zwei und zwei in einem Bett und hatten für Waschwasser, Handtuch, Bett- und Leibwäsche und Frühstück eine Summe in Bausch und Bogen zu zahlen, die jeden Sonnabend berichtigt werden mußte. Madame Klapperfuß verdankte der Präcision, mit der sie[1195] dies Schlafstellengeschäft betrieb, die Mittel, sich auf Volksbällen und Pikeniks der Vorstadt durch Garderobe und Appetit auszuzeichnen. Ihre Begleiterin vorhin war ihre Tochter Demoiselle Klapperfuß, die von verschiedenen, gerade nicht sehr stabilen, sondern ab- und zugehenden Vätern eine Anzahl Kinder aufzuweisen hatte, die jedoch von der Großmutter mit ebenso vieler Zärtlichkeit behandelt wurden, als wären sie der legitimsten Ehe entsprossen.

Die Vereine zur Bekämpfung der Unsittlichkeit des Volkes hatten hier in der Brandgasse Nr. 9 ein weites Feld. Allein die Treppen waren sehr steil, die Thüren sehr eng. Den Missionären dieser braven Institute geschah zuweilen das Widerwärtige, daß die verstockten frechen Sünder sie alle Unannehmlichkeiten der Lokalität empfinden ließen. Demoiselle Klapperfuß hatte z.B. einen Abgesandten der Kirche, der der am nächsten Sonntag stattfindenden Taufe ihres vierten unehelichen Kindes eine strenge Rüge, ja ein, freilich katholisch klingendes Wort, von Kirchenbuße züchtigend vorhergehen lassen wollte, jene schnöde Abfertigung angedeihen lassen, die Frau Mullrich vorhin andeutete.

Überhaupt konnten die Vereine ohne Mullrich's Autorität und Unterstützung hier nicht viel rein Moralisches und Lehr-Strenges zu Stande bringen. Nur das baare Geld wurde mit Artigkeit und Dank begrüßt. Ein- für allemal lag auch bei Mullrich eine Anzahl Bibeln deponirt, die er jedem sich der geistlichen Erweckung zugänglich[1196] Erklärenden übergeben sollte. Mullrich war zu gewissenhaft, diesen Auftrag unvollzogen zu lassen. Er bot die Bibeln in der That allen diesen Armen und Elenden an. Sie nahmen sie auch, verwertheten sie aber sogleich an der besten Quelle, die sich ihnen in Mullrich selbst darbot. Mullrich behielt das Buch der Bücher gleich an Zahlungsstatt für Miethe oder verfallenen Versatz – denn auch auf Pfänder lieh die Frau Vizewirthin in aller Stille – oder für Hausschlüssel oder Feuerung, die sie im Winter verkaufte oder Kartoffeln, deren sie große Vorräthe anschaffte, und Mullrich hatte dann in der Schulstraße einen Buchbinder, der die Exemplare unter Verhältnissen kaufte, bei denen Mullrich nur der Commissionär, der Bevollmächtigte der richtigen Empfänger jener Bibeln war und per Stück immer zwei Groschen Vortheil zog, was bei einem jährlichen Umsatze von etwa funfzig Exemplaren immer eine Einnahme war.

Freilich fanden sich denn doch auch manche trostsuchende, leidensmüde Seelen, wie jener arme Nagelschmiedgesell, der die Bibel behielt und nicht für die Miethe angab. Dieser Ärmste las sich Trost aus ihr, wenn er am Tage mit seinem armen Meister Nägel geschmiedet hatte und mit ihnen Abends und Sonntags früh in der Stille selbst hausiren gehen mußte und seine Kinder gingen mit hausiren und liefen auf die Dörfer barfuß und boten den Leuten Nägel an und ihre Mutter wanderte sonst oft meilenweit mit, um Nägel zu verkaufen; aber mit den letzten Nägeln, die sie an einen Schreiner verkauft[1197] hatte, ward ihr auch schon der Sarg gezimmert ... sie war todt.

Ach! welche Fülle des Elends! Wieviel körperlicher und sittlicher Jammer ist da zusammengedrängt, Ergebung in sein Loos neben der Verzweiflung, es gewaltsam zu ändern. Armuth und Verbrechen und zwischen beiden alle Laster der Sinne. Hundert Nummern waren in diesem Hause allein an Bewohner ausgetheilt und jedes Zimmer bot ein andres Bild des Elendes und Jammers. Da ein Kranker, dort ein Sterbender, hier nebenan das kreischende Lachen einer unsittlichen Dirne oder der tobsüchtige Ausbruch eines Trunkenbolds, der seinem Weibe das Wenige, was sie besaßen, in Scherben an den Kopf wirft. Arme Käsemaden, menschliche Infusorien, die sich noch im Tod einander selbst verfolgen, mit Gier verschlucken, einer von des andern Armuth zehren, mit ihr wuchern wollen. Wer das Geheimniß des Lebens studiren will, gehe hieher und beantworte die Frage: Warum sind wir? Was sind wir? Was werden wir?

In dem schmuzigen Buche, das die Bewohner nach ihren Nummern anführt, sind an vielen Namen Kreuze gemalt. Das sind Observaten. Sie kamen aus dem Zuchthause und stehen nun unter polizeilicher Aufsicht. Sie haben einen leidlichen Erwerbszweig ergriffen und vermeiden vielleicht ihre alten Genossen, bis sie von ihnen doch wieder heimgesucht werden. Mancher von diesen sie dann Versuchenden und wieder Verführenden ist nur ein verkappter Verführer. Die Polizei gewann ihn zum Spion.[1198]

Wohl Dem, der seine Zunge wahrt und nicht von Wiederaufnahme alter Anschläge spricht oder sie ausführt! In diesem Hause selbst wohnen Spione genug. Mullrich ist der erste unter ihnen. Im dritten Hofe wohnt ein Schreiber Namens Schmelzing – ein früherer Arbeiter bei Schlurck – auch er rapportirt an den Oberkommissär Pax. Hütet Euch, ihr Nachbarn! Seht Ihr nicht, wie rasch manchmal einer aus Eurer Mitte verschwindet? Da hüpfte noch vor kurzem ein keckes Bürschchen die Stufen der engen Treppen hinauf, scherzte mit den Nähterinnen und Fabrikmädchen, die bis unter das Dach wohnen, und heute führen ihn die Häscher davon. Ein Bündel Wäsche unter'm Arm geht er wol auf zehn Jahre in's Zuchthaus. Wer ahnte, daß er eingebrochen hatte und zu einer Diebsbande gehört? Wer nicht thätig ist erregt Verdacht. Nur thätig, und sammelte man Glasscherben, wie die alte Frau auf Nr. 43, oder ernährte man sich vom Scheeren der Pudelhunde, was ein alter Mann im zweiten Hinterhofe parterre auf Nr. 67 ausführt, der mit der Brille auf der Nase im Hofe sitzt und die Pudel scheert, deren Wolle er sammt den Flöhen an Tapezirer verkauft. Harfenspieler, Tambourinschläger üben sich Morgens Gesänge ein, die sie Abends in den Schenken ableiern und die Leierkastenbesitzer .... nein -Leiher sparen, um sich den musikalischen Brotbringer allmälig zu kaufen oder von dem Mechanikus, der ihn verleiht, die Stifte zu einem neuen zeitgemäßen Liede sich umsetzen zu lassen. Da taumelt ein Bierhaussänger daher, der in seinen jungen Jahren auf den Bühnen[1199] Buffopartieen sang und jetzt so herabgekommen ist, daß er in den Gambrinushallen zur Guitarre mit allerhand Lazzis und in Scenen gesetzten Faxen singt. Ein Violinspieler begleitet ihn, der in seiner Jugend ein Paganini zu werden versprach und durch den Trunk so herab ist, daß er mit jenem Sänger abwechselt und auf der Violine mit Strohfäden, angezündeten Fidibus statt des Bogens spielt. Halb und halb sind beide Improvisatoren geworden und wissen durch geschickt angebrachte Zweideutigkeiten in einer von Tabacksqualm rauchenden Bierhalle ihr Publikum zum wiehernden Lachen zu bringen, während ihre »Zuhälterinnen« in einer Cigarrenaschen-Schale das Honorar ansammeln und ihre Kinder von Tisch zu Tisch Strohblumengeflechte anbieten, die von einer alten Frau auf Nr. 55 gemacht werden. Diese alte Frau wohnt bei Madame Schlimpanzer zur Miethe, von der man nicht weiß, durch welche Talente sie wiederum ihrerseits einen gichtischen rückenkranken Mann ernährt. Madame Schlimpanzer und Fräulein Klapperfuß sind sich an Jahren gleich und hassen sich und lieben sich, jenachdem sie sich Nachts auf den letzten Bällen gegenseitig nicht geschadet und in ihren Wirkungskreisen beeinträchtigt haben. Ach, die Polizei weiß hier Alles! Lacht, was Ihr wollt, Sonntags früh, ihr zwanzig Gesellen bei Mutter Klapperfuß, wenn sie »ihrer Betten wegen« darauf dringt, daß Ihr Euch von Kopf bis zum Fuß gründlich wascht; man weiß doch, daß Eure Vorgänger vor einigen Monaten heimlich des Nachts Kugeln gossen und Patronen wickelten![1200] Sie wurden alle eines Sonntags früh aufgehoben und mit allen ihren Kugelformen und zinnernen alten Löffeln und bleiernen Fensterverlöthungen über die Brandgasse hin in's Profoßenamt geführt, von wo aus sie dann in's Zuchthaus wanderten! Welch ein Kommen und Gehen in diesem Chaos! Auch die Geburt und der Tod, die Hebamme und der Leichenträger, sind immer und immer zugleich auf Besuch hier. Der Tod tritt gleich sicher auf. Er nimmt mit fester Hand. Die Geburten sind zaghafter, mit scheuem Gewissen, mit wenig Freude. Manches Kind, eben gekommen, erhält gleich die Nothtaufe, wozu die Wöchnerinnen, da meist die Väter fehlen, den Vizewirth hinaufrufen oder den Alten, der die Pudel scheert, oder den silbergrauen Uhrmacher Eisold vom dritten Hofe, der noch sein Zöpfchen trägt und mit philosophischer Ehrwürdigkeit in den Häusern altmodische Uhren reparirt.

Ganze Tragödien spinnen sich da an und enden, ohne daß sie ihren Dichter anders finden, als höchstens bei Jahrmärkten die Bänkelsänger. In den Criminalakten stehen die einzelnen Rollen geschrieben. Da heißt's: Aus Brandgasse Nr. 9 ein Observat ... lernte im Zuchthause eine Diebin kennen ... sie hat Kinder aus früherer Bekanntschaft ... sie schließen, frei gelassen, auch eine wilde Ehe ... er kehrt die Gassen und reinigt des Nachts Cloaken ... sie verdingt sich zu jeder groben Hanthierung ... die erwachsene Tochter der Frau ... natürlich unehelich ... geht in eine Fabrik ... ein junger Arbeiter, ihr Liebhaber, zieht zu ihnen ... die Mutter gefällt ihm wie die Tochter ...[1201]

wild geht das durcheinander ... der Trunk erhitzt den Zorn ... Eifersucht und blinde Wuth ... der Gassenkehrer schlägt den Arbeiter ... die Tochter würgt fast die Mutter ... Und dieses Gemetzel noch nicht so schlimm, wie die spätere Versöhnung ... die Beruhigung bei dieser Verwirrung ... Trinkgelage, lustiges Lachen ... die Tochter verläßt die Fabrik und treibt sich auf den Gassen umher ... der Vater zweischlächtiger Bastarde erhält seine Arbeiterstellen gekündigt ... dennoch fließen Mittel ... Woher? ... Heute Morgen wurde das ganze Nest ausgehoben, Jung und Alt davon geführt ... der Gassenkehrer, die Mutter, die Tochter, der Liebhaber ... Die übrig gebliebenen kleinen Kinder holt die Besserungsanstalt.

Frau Mullrich erzählte diese tragischen Begegnisse, die in der Brandgasse gäng und gäbe waren, so leicht, so obenhin, wie wir etwa eine sogenannte Müchler'sche Anekdote von Friedrich dem Großen erzählen würden.

... Mullrich, der Vizewirth, hatte sein Nachtessen beendigt und kehrte auf seinen nächst dem Oberkommissär Pax wichtigsten Vorgesetzten Herrn Bartusch zurück.

Hat der Alte nicht nach 86 gefragt?

Und das ordentlich und gezankt hat er, warum wir ihm nichts mehr über 86 meldeten! sagte Frau Mullrich und klagte dann, daß die Tage schon so kurz würden.

War ja zehnmal da in der Kanzlei und hab's sagen wollen: 86 ist einmal wieder heidi! Wie ich das elfte mal kam, ging ich zum Justizrath selber, der eben von Hohenberg[1202] zurück war und da hieß es: Danke, Mullrich, ich weiß es schon. Er gab mir einen halben Thaler.

Wenn der Bartusch das Herz hätte von dem guten Manne, dem Justizrath! Er war heute ganz wild der Graue.

Warum denn? Gewiß weil Nr. 17 ausgeflogen war. Nicht? Ha, ha! Das wird's sein, der alte Schleicher! Wenn nur 'mal die Justizräthin dahinter käme, die –

Pst! Stille! Mullrich! Weß' Brot ich eß' ... Laß ihn auf Nr. 17 gehen und rede von solchen Sachen nicht. Nr. 17 taugte nur nichts, sonst hätte sie ihr Glück machen können, wie die Jule Spieß ...

Jule Spieß! Die Frau Amtsdienerin? Ah! So, wie Nr. 17 hat sich doch die Jule nicht aufgeführt ...

Ach! Ach! antwortete Frau Mullrich, die tiefer zu sehen, als ihr Mann, immer das Privilegium hatte. Ach, Ach, das war eine Feine! Die wußte es subtiler anzufassen. Wie oft hab' ich zu Nr. 17 gesagt: Guste, hab' ich gesagt, Sie haben anständige Verwandte, Sie sind schön, wie ein Bild, Sie haben Freunde, die vornehme Gönner haben: nehmen Sie die Mamsell Jule, die Frau Rathsdienerin Spieß geworden ist, und damit stichelte ich auf den Bartusch, der doch die Jule Spieß zur Rathsdienerin gemacht hat ... durch einen Rathsdiener und Executor, der sich nichts daraus macht, daß Bartusch seiner Frau noch jetzt Jaconnetkleider schenkt.

Da gab Dir aber wol Nr. 17 eine Ohrfeige, die Auguste? Was?[1203]

Ihre zerbrochene Kaffeekanne wollte sie mir über den Kopf gießen. Das ist ein Satan! Und doch war der Alte ganz zornig, als er hörte, Nr. 17 ist ausgeflogen und hat uns blos die zerbrochene Kaffeekanne, den Spiegel und die Bettstelle zurückgelassen.

Ich bin froh, daß sie fort ist; tröstete sich Mullrich, der hier noch von einer defekten Kaffeekanne hörte; ich bin froh; durch die Person wäre noch einmal Feuer ausgekommen. Mit Nr. 86 haben wir so schon unsere Noth, daß der nicht einmal die Häuser ansteckt, wenn er die Nacht auf die Dächer ...

Sei still von Dem, Mullrich. Sei still! Es ist mir immer ängstlich mit Dem! unterbrach seine Ehehälfte und schüttelte sich, als fröstelte sie's.

Mit diesen vorsorglichen, fast erschrockenen Worten wollte sie überhaupt dies Gespräch abbrechen, aber der Diensteifer und die Dankbarkeit für den Justizrath Schlurck war für den Viezewirth zu anregend. Er fuhr fort:

Ich möchte nur wissen, was die Justizraths mit 86 eigentlich haben. So ein grober, impertinenter, rothköpfiger Schlingel! Schreiben kann er schön! Das ist wahr. Er hat mir manchmal was ins Buch hier geschrieben wie gestochen. Aber seine Krankheit abgerechnet –

Er hat's ja nicht mehr. Sei doch still! Sei still!

Mullrich ließ sich nicht irre machen und fuhr um so mehr fort, als er wußte, daß seine Gattin sich nur zum Schein gegen Schauerliches stemmte. Sie hörte gerade[1204] um so lieber von Dingen, die ihr über den Rücken liefen, je mehr sie sie abzuwehren suchte. Mullrich fuhr fort:

Der Justizrath sagte gerade, er hat die Krankheit noch. Erst neulich hätt' ers gesehen. Und so herzensgut ist der brave Mann, daß er mir sagte: Mullrich, sagte Herr Schlurck, der arme Mensch ist zu bedauern! Er hat für seinen Stand viel gelernt, weiß Manches und hat Kopf. Er hat mein ganzes Herz gehabt, aber aus dem Hause mußt' er! Er stiehlt nicht, er ist ehrlich, Mullrich, sagte er, aber geizig und verschwenderisch, zänkisch, boshaft, je nachdem's kommt. Seine Krankheit ist sein Unglück. Sind die eisernen Stäbe auch noch in Ordnung, Mullrich? sagte er. Ja, Herr Justizrath, sagte ich; vier Stangen vor jedem Fenster! Und ganz traurig wurde er, als ich ihm erzählte, wie wir sie ihm eingesetzt hatten auf Herrn Justizraths Kosten und was er für eine Miene gemacht hätte, als er eines Abends nach Hause gekommen wäre und hätte die Fenster vergittert gefunden. Da weint' er fast, der Herr Justizrath. Ich ging zu ihm hinauf, sagt' ich, Herr Justizrath, ich ging zu ihm hin auf und sagte: Musje Hackert, nehmen Sie's nicht übel, Musje Hackert, aber Sie sind ja vorgestern ordentlich auf dem Dach herum spazieren gegangen. Ein Freund von Ihnen wünscht Das nicht, daß Sie sich da mal den Hals brechen und hat Ihnen da einen kleinen Denkzettel einmauern lassen, wenn Sie's vielleicht vergessen sollten, daß Das die Fenster sind! Er sah mich grimmig an. Ich hatte aber Muth. Lieber Gott! sagte ich, auf dem Dach ist's kalt, und wenn Sie auch noch so schön[1205] klettern können, Herr Musje Hackert, es bricht Einer doch mal den Hals. Was sagte er denn da? fragte mich der Justizrath. Herr Justizrath, sagt' ich, es ist ein recht tückischer, glup'scher Kerl! Nicht ein Wort hat er gesagt, hat auch nicht gefragt, wer dieser edle Freund wäre und nicht ein Wort hat er geantwortet über's Dachherumklettern und seine Krankheit. Aber wie gesagt, Herr Justizrath war ganz gerührt und wie gesagt, einen halben Thaler hat er mir geschenkt.

Nun muß es aber doch anders sein, unterbrach Frau Mullrich diese etwas weitschichtige Erzählung und deckte den Tisch ab, wie auch das Bett, in das sich ihr von den gerührten Eiern angeregter Gemahl bald zu legen gesonnen war.

Wie so anders?

Wegen der Anfrage von Bartusch. Der hat ja so grimmig über ihn hergezogen und hat doch gesagt:

Ein Jahr Zuchthaus wär' ihm nun gewiß!

Ei was? Zuchthaus?

Es sind schlimme Sachen von ihm herausgekommen, hat Bartusch gesagt.

Von Nr. 86?

Wenn er sich nicht selbst davonmacht, könnt's ihm übel ankommen und er wollte ihm im Ernst rathen, daß er nun Paschol mache und am liebsten gleich weit!

War ich doch auf dem Criminalamte ... habe doch nichts

gehört ...

Ob er zu Hause wäre, frug Bartusch. Nein, sagt' ich. Bis[1206] Mittag war Das. Da war ein Herr mit ihm gekommen, ein feiner, eleganter Herr –

Mit Nr. 86?

Ich sage Dir, ein ganz feiner, schöner, junger Mann. Wie ein Baron! Die kleine Riekel Eisold hat erzählt, daß sich der Herr zwei Stunden oben zu ihm hingesetzt hat und immer geschrieben –

Curios!

Dem Grauen hab' ich den Mann beschreiben müssen. Er schüttelte dann den Kopf und sagte: Hackert muß fort! Wann glauben Sie wol, daß ich ihn treffe, Frau Mullrich! Das ist schwer zu sagen, Herr Bartusch, sagt' ich. Aber seit die Eisolds oben Waisen sind, hat er den Hausschlüssel abgegeben, er wollte eigentlich um neun Uhr jeden Abend zu Hause sein. Ein paar Wochen ging's so, Herr Bartusch, sagt' ich, bis er vor fünf bis sechs Tagen gar nicht mehr nach Hause kam und nun erst seit gestern ist er wieder da und so unruhig, daß ich nicht glaube, er kommt vor neun. Es wäre nicht das erste mal, daß er die ganze Nacht bis Morgens drei und vier ausbleibt.

Ein Jahr Zuchthaus! wiederholte erstaunt Mullrich, sich ausziehend und die Nachtmütze aufsetzend. Gewiß falsche Schreibereien. Er kann wie in Kupfer gestochen schreiben.

Es soll mich gar nicht wundern, vermuthete seine Gattin, wenn Herr Bartusch noch in der Nacht kommt. Er hatt' es zu eilig gehabt. Klopft es nicht draußen?

In der That hatte es an jener Thür gepocht, die von der[1207] Hausflur erst in einen Vorplatz führte, dem ein Kamin das Aussehen einer Küche gab. Mullrich, eben im Begriff in sein Bett zu steigen, sagte: Mach erst die Thür zu. Ich will schlafen gehen!

Indem pochte es wieder.

Die Frau Vizewirthin lehnte die Thür an, die aus ihrer Schusterwerkstatt in die Schlafkammer führte. Mit den Worten: Es wird wol der arme Nagelschmied mit den Pinnen sein! Er hatt' es mit dem Gelde nöthig! ging sie hinaus und stieg die Treppe hinauf, die zu der Hausthürflur führte.

Wie unangenehm überrascht war aber Herr Mullrich, als er sich eben im Bett behäbig dehnte und seine Rühreier in alter Bequemlichkeit verdauen wollte, als seine Ehehälfte nach einigen Augenblicken rasch die Thür aufriß und mit erschrockener Hast und Eile und höchst ehrerbietig ihm zurief:

Mullrich! Mullrich! Es ist der Herr Oberkommissär![1208]

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Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 1185-1209.
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