Dreizehntes Capitel
Natur und Geist

[634] Als Melanie, auf die Alle blickten, zu lange schwieg, ergriff Dankmar das Wort, knüpfte wieder an das abgebrochene Thema an und sagte:

Der alte Obertribunalspräsident ist für seine Liebhabereien ja weltbekannt. Man verdankt ihm werthvolle Versuche über die Schmiegsamkeit und Bildungsfähigkeit der Thiere: seit Jahren sammelt er an einem Werke über die Thierseele. Demnach kann ich mir wol denken, wie peinlich es sein muß, auf Tempelheide aus- und einzugehen und unter all den Raben, Kranichen, Kaninchen, Affen, Meerschweinchen, Hunden und Katzen sich durchzuwinden, Thieren, von denen er behauptet, daß sie eine Art Vernunft haben.

Gerade diese Thiervernunft, sagte Melanie, die etwas die heitere Stimmung herzustellen versuchte, ist so peinlich. Ich weiß nicht, ob ich es nicht lieber hätte, in allen diesen Thieren gewöhnliches dummes und böses Vieh zu vermuthen, vor welchem man nur einfach sich zu hüten hat, als anzunehmen, das Alles sind gezähmte edle Charaktere, die uns, wenn sie nur sprechen könnten, die wunderbarsten Geheimnisse verrathen würden ...[634]

Nein, nein, sagte die Mutter nun auch lachend und die heitere Stimmung festhaltend, nein, nein, gesteh' es nur ganz einfach, Melanie! Du hast eine Antipathie gegen Thiere, selbst gegen Hunde und Katzen, fürchtest dich vor Truthähnen und Enten und schreist auf, wenn dich ein großer Vogel nur von der Seite ansieht. Wie ich von der Viehwirthschaft auf Tempelheide erfuhr, litt ich's nicht mehr, daß du hinausfuhrst, und so haben deine Gesangsstudien ein vernünftiges und völlig begründetes Ende genommen.

Aber erklären Sie mir nur, meine Damen, sagte Lasally, wie verhalten sich denn nur die Katzen zu diesen Concerten?

Frau von Reichmeyer verwies ihrem Bruder seine profanirende Zwischenrede.

O, sagte Melanie, die Katzen sind gerade der Grund, warum der Präsident diese Concerte besonders liebt. Er sitzt nebenan, in seinem großen Saale, unter seinen rings in Käfigen aufgestellten Thieren und freut sich der angenehmen Wirkung, die auf sie nebenan die Musik hervorbringt. Da ist auch kein Miston, der dieses Concert stört. Er hat es dahin gebracht der alte Herr, daß die geschwätzigen Thiere still sind, wenn sie unsere Akademieen hören, und nur wenn wir gar zu sehr in die Doppelfugen gerathen, hört man manchmal einen Papagai aufkreischen, daß es Einem durch die Glieder fährt.

Ich will hoffen, sagte Lasally, daß Sie sich außerdem jedesmal hinreichend mit Esbouquet versehen hatten –[635]

Auch darüber erzählt Melanie wunderbare Dinge, sagte die Mutter; es soll gerade durch die große Reinlichkeit der Thiere von dem alten Mann bezweckt werden, daß sie von ihrer gewohnten Art lassen, und Das ist wirklich vernünftig. Die Reinlichkeit veredelt jedes lebende Wesen. Des alten Präsidenten Leute sind angewiesen, in der Haltung der Thiere das Sauberste zu leisten und durch die Sauberkeit bekommt das Vieh etwas Vernünftiges.

Bartusch schüttelte den Kopf und meinte, sie würden morgen Abend an Tempelheide vorbeifahren. Er wünsche doch, sagte er, es ließe sich ein Umweg machen, so sonderbar wär' es Einem, an einen Ort zu denken, wo ein Mensch lebt, der Thiere wie Wesen höherer Art behandelt ....

Der alte Herr, erklärte Dankmar, unbefangen über Egon, der schwerlich in Paris soviel vom Leben dieser Residenz hatte erfahren können; der alte Herr ist ein ausgezeichneter Jurist und wird wol nie von seinem wichtigen Amte zurücktreten. Er arbeitet fleißiger als mancher Jüngere. Man hält ihn für streng und Viele behaupten, er ist es deshalb, weil er keine Religion hätte. Man will ihn noch nie in einer Kirche gesehen haben und doch erzählte man mir, daß er der Chef aller Maurerlogen des Landes ist und für einen tiefen Kenner der maurerischen Geheimnisse gilt ...

Ich sage Ihnen, ergänzte Melanie, daß ich diesen alten Mann liebe und bewundere.

Wie seinen Sohn! fiel Lasally spottend ein und wiederholte[636] die Scherze, die er über die Thierseele des Intendanten in der großen Welt gehört hatte.

Ich lasse nichts auf meine Excellenz kommen, fiel Melanie ein. Ich gebe Euch allerdings zu, man kann ein sehr geistreicher Vater sein und einen höchst dummen Sohn haben. Beispiele finden sich genug. Es gibt auch Viele, die regelmäßig, um diesen Satz zu beweisen, den alten Harder und unsern Intendanten citiren. Ich gebe sogar zu, daß ein Sohn seine eigenen Wege wandelt und von einem Vater aufgegeben wird, wenn er sich in Äußerlichkeiten und Eitelkeiten gefällt. Aber wer sagt Euch denn, daß mein so rasch, so wunderbar gewonnener Freund dumm ist? Im Gegentheil leuchtet aus seinen schwarzen Augen Klugheit und mitunter etwas Pfiffiges. Er geht seinen geraden Weg, weicht nicht rechts, nicht links, thut, was seine Pflicht und Schuldigkeit ist. Ist Das nicht Weisheit? Und hat er nicht vom Vater die Talente geerbt, die den Fürsten bestimmten, ihm alle seine kostbaren Schlösser und herrlichen Gärten anzuvertrauen? Hat er nicht beim Verpacken des Mobiliars eine Umsicht und praktische Kunde verrathen, die eines Tapeziers würdig war? Und bei seinen Wanderungen durch den hohenberger Garten bin ich erstaunt gewesen, wie heimisch er in Allem ist, was sich auf Gießkanne und Rechen bezieht. Es ist eine praktische Natur, die vom Vater zwar nicht seinen speculativen Geist erbte, aber seinen Adel, sein Geld, seinen hohen, geachteten Namen und eine gewisse Betriebsamkeit, die sich bei Jenem in der Liebhaberei für die Seele[637] der Thiere und bei diesem in der Pflege der todten Natur äußert. Berühren Sie bei der jungen Excellenz irgend einen in ihr Fach einschlagenden Gegenstand und Sie werden erstaunen, daß er Ihnen auf Heller und Pfennig sagen kann, wieviel ein chinesischer Pavillon in einem königlichen Garten am Rhein oder der Elbe gekostet hat. Ist Das auch nichts? Lasally, Sie schlechter Rechnenmeister! Sehen Sie nur, mit welcher Sorgfalt er seinen Auftrag schon in Hohenberg ausführte. Und hier im Sande glaub' ich nun auch die Spuren seines großen Möbelwagens zu entdecken. Nennen Sie mir den Cavalier, der seinem Fürsten soviel Hingebung zollt und sich auf Staatskosten selbst vor dem Stempel des Lächerlichen nicht scheut, der leider oft den besten und solidesten Bestrebungen in dieser Welt aufgedrückt ist!

Mir fallen da wirklich die Hofmarschälle ein, sagte Dankmar, diese Beamten, die in melancholische Betrachtungen versinken, wie sie's machen sollen, um jährlich einige hundert Thaler an Öl und Wachslichtern zu ersparen ....

Die denn doch, ergänzte Bartusch artig und sich fast verbeugend, irgend einem Künstler oder Gelehrten zugutekommen, dem man ein Bild abkauft oder eine Dedication durch ein Geschenk vergilt ....

Bartusch wollte eigentlich nur dem vermeintlichen Fürsten ein Compliment machen und gab doch dem jungen Demokraten eine bittere Lehre.

Wie es schien, waren, wie es immer nach zu ausgelassenen[638] Scherzen zu gehen pflegt, plötzlich Alle verstimmt. Die Mutter und Lasally über den viel zu lang ausgesponnenen Scherz mit dem Geheimenrath, Melanie über den schwerzulösenden Widerspruch zwischen einem Vater, den sie verehren, und einem Sohne, den sie lächerlich finden mußte, Dankmar über eine Wahrheit, die ihm aus dem Munde eines gesinnungslosen politischen Unterwürflings misfiel. Nur Bartusch frohlockte; denn durch seine Bemerkung und Dankmar's Stillschweigen darauf schien er die vermeintliche Würde ihres Begleiters getroffen zu haben, während dieser gerade an seinen Bruder Siegbert und dessen unverkauftes Gemälde dachte ...

Die andern Wagen waren alle näher gekommen. Man befürchtete einen Regenschauer und foderte die Reiter auf, gleichfalls Platz zu nehmen. Es war über Mittag, die Reiter waren ermüdet, sie stiegen ab, gaben die Pferde den Reitknechten und Bartusch war höflich genug, sich in den zweiten Wagen zu Reichmeyer's und der Wirthschaftsräthin zu setzen, während Dankmar und Lasally Melanien und ihrer Mutter gegenüber Platz nahmen.

In Helldorf beschloß man, das Mittagsmahl ausfallen zu lassen und erst im Heidekrug zu soupiren. Im besten Wirthshaus zu Helldorf war auch kein Platz zu finden; denn der große Saal hallte von einer Versammlung wider, in der mehre Redner laut durcheinander sprachen. Man hatte auf dem Gelben Hirsch schon erfahren, daß hier eine politische Besprechung stattfand. Die Wirthschaftsräthin behauptete, deutlich ihren Bruder zu hören. Man[639] horchte auf und richtig drangen die donnernden Worte an das Ohr der Reisenden: »Wenn man Familie hat, wenn man wie ich sechs Kinder ernähren muß ...« Man klatschte Beifall.

Es ist sein ewiges Lied, sagte sie, und ich möcht' es heute am wenigsten gern hören: wir fahren wol hier weiter?

Dankmar dagegen hätte gern etwas von dieser wahrscheinlich der Schlurck'schen Wahl gewidmeten Besprechung gehört. Er sah durch die Fensterscheiben auch den Heidekrüger Justus, dessen gewaltige athletische Formen über Alle hinwegragten und den man sich auch, seiner Stellung auf einem Musikchore nach zu schließen, als Präsidenten dieser Vorberathung gewählt zu haben schien. Viele Bewohner von Helldorf standen an der Thür und den Fenstern und lauschten .... Dabei gingen Mägde auf und ab und trugen Bier. Die Einen lachten, die Andern zankten. Alle Leidenschaften waren in Bewegung. Der ganze Ort sah aus wie zur Zeit der Kirchweih.

Dankmar, der eine Erfrischung nahm, konnte an der Thür kaum durch. Er hörte drinnen die donnerndsten Schlagworte, hörte Parteien sich befehden, hörte Persönlichkeiten, die Jubel oder Drohungen nachsichzogen ...

Für Wen entscheidet sich's denn? fragte er die Leute.

Man wußte noch keine Auskunft. Die Zuhörer waren Urwähler. Die eigentlichen Wähler saßen drinnen und lärmten die ihnen gegebenen Aufträge aus.

Schlurck wird da schwerlich gewählt! sagte er sich.[640]

Solchem Tumult ist der feine satirische Philosoph nicht gewachsen. Ein Schlurck kann Alles, nur das Schreien nicht ertragen ....

Er hatte die Absicht, an die Wägen zurückzugehen und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, daß eben Herrn Justizraths Schlurck politische Laufbahn hier entschieden würde. Aber Melanie hatte mit einem andern Gegenstand vollauf zu thun. Bei einer Gruppe Umstehender fragte sie nach dem Wagen des Geheimraths. Man erzählte ihr, daß der große Behälter vor noch nicht vier Stunden hier durchgekommen und allgemein wäre angestaunt worden. Die genauere Erkundigung, die sie nach den Gendarmen, den Bedienten einzog, verdrängte in Dankmarn das politische Interesse und erfüllte ihn fast mit Rührung. Er sah, wie das waghalsige Mädchen treu und fest an dem Gedanken hielt, ihm, wie sie versprochen hatte, das geheimnißvolle Bild zu erobern ....

Als man weiter fuhr, betrachtete Dankmar auch Melanien lange mit einem Interesse, dessen eigentliche Natur zu bezeichnen ihm fast schwer wurde. War es die unwiderstehliche Macht ihrer Schönheit, die sich gleich blieb, auch wenn man sich an ihre erste blendende Erscheinung gewöhnt hatte? War es ihre in aller Bestimmtheit verrathene Absicht, ihm und nur ihm zu gefallen? War es die Bescheidenheit, mit der sie sich ihm als ein Wesen von mäßigen Ansprüchen auf Geist und höhere Empfänglichkeit gezeigt und sich andern pretentiöseren Erscheinungen, von denen sie erzählte, unterordnete?[641]

War es der neckende humoristische Vortrag ihrer Erzählungen, der plötzlich einem halb scherzenden, halb ernsten Unmuth Platz gemacht hatte? Wie erstaunte Dankmar, als er sich nach allen diesen Regungen zuletzt auf einem Gefühle für Melanie ertappte, das er fast Mitleid hätte nennen mögen ...

Mitleid? Nimmermehr! rief es in ihm. Und doch war es Mitleid. Mitgefühl für Etwas, was er in Melanie's Wesen sich kaum selbst bezeichnen konnte, was aber Niemand mehr zu fühlen schien als sie selbst. Ist es nicht unser Mitgefühl erregend, ein Wesen zu beobachten, das im vollen Bewußtsein ihres Sieges über die Männer, doch ein edleres Bedürfniß zu empfinden scheint als die bloße Genugthuung ihrer Eitelkeit, und das dennoch trotz dieses bessern Gefühles von ihrer leichten, ihr einmal zur andern Natur gewordenen Art nicht lassen kann? Menschen, die unter dem Druck ihres Schicksals leben, können wir bemitleiden, ohne daß uns dies Gefühl gerade für sie erwärmt. Menschen aber, die unter dem Drucke ihres Charakters leben, bemitleiden wir oft von Herzen oder wir können oft nicht sagen, sollen wir sie hassen oder lieben.

Lasally bemühte sich Anekdoten zum Besten zu geben. Er war stark darin und nicht eben wählerisch. Als ihm Melanie sagte, sie hätte sie schon zu oft von ihm gehört, begann er vom Residenzleben, den Matadoren der jungen fashionablen Gesellschaft und trug alle seine Mittheilungen so vor, als könnte er sich dem Fremden, von dessen[642] räthselhaftem Charakter er Dasselbe vernommen hatte wie die Andern, dadurch für die Zukunft empfehlen. War es der junge Fürst von Hohenberg, so konnte er sich um so sicherer dünken, da Melanie wol mit einer Leidenschaft für ihn spielen, aber doch bei ihrem im Ganzen besonnenen Charakter mit ihr nicht Ernst machen konnte. Als es Lasally heute nicht gelingen wollte, durch seine kurze, trockne und nicht unliebenswürdige Art Lachen zu erregen, lenkte er wieder auf das früher abgebrochene oder steckengebliebene Gespräch ein und sagte:

Aber Fräulein, noch sind Sie uns schuldig, Ihre nähern Berührungen mit den Thieren des Präsidenten zu schildern. Wir wissen nun, daß die geistlichen classischen Musiken in Tempelheide aufgeführt wurden, um Katzen daran so zu gewöhnen, daß sie nicht mitwirkten; aber mußten Sie denn die Menagerie selbst passiren, um in den Saal der Akademie zu gelangen?

Melanie war ernst geworden und antwortete nicht.

Ich denke mir Das allerdings recht gefährlich, fuhr Lasally fort. Schon wie Sie anfuhren, grüßte Sie am Thorweg ein widerlicher Truthahn, der sich wie ein Reactionair nach etwas Rothem an Ihnen umsah, um in Zorn zu gerathen. Nun kamen wol kleine Schafe mit Silberglöckchen und wollten Ihnen das Futter aus der Hand fressen, aber dazwischen drängte sich ein Ziegenbock, den der Präsident gewiß zu einem gesinnungsvollen Schneider abrichtet und mustert Ihre Toilette. Die Enten, besonders die Erpel, haben es immer mit den Beinen der Menschen zu[643] thun. Ich höre Sie schreien, Melanie, wie so Einer von diesen Erpeln angewackelt kam und höchst neugierig nach Ihren Schuhen sah. Nun setzte sich wol gar Einer von den Raben des Präsidenten, die seine klügsten Thiere sein sollen, weil sie direct mit dem Galgen verkehren, auf Ihre Schulter und zauste an Ihrem Kopfputze. Nicht wahr? So ging es Ihnen wörtlich und ich weiß, Ihre Nerven sind schwächer als die der Flottwitz, die wir auf dem Jockeyclubb gewöhnlich die Schwester des Regiments nennen.

Beinahe so, lieber Freund, sagte Melanie verächtlich und schwieg.

Dankmar, um vor der entscheidenden Ankunft im Heidekrug eine bessere Stimmung zu erzeugen, spielte diese Spöttereien auf etwas Ernsteres hinüber.

Alles zusammengefaßt, sagte er, bleibt der steinalte Chef unserer praktischen Justiz ein merkwürdiger Mensch. Ich halte ihn nach Allem, was ich nun von ihm weiß, für einen Naturphilosophen. Er gilt bei manchen frommen Beamten, und wir haben deren noch viel, für einen Neologen, einen Atheisten. Viele beschuldigen ihn, er glaube an die Seelenwanderung und nur die Freimaurer nehmen ihn in Schutz. Ich gehöre diesem Bunde selbst nicht an, was ich aber von ihm zu wissen vermuthe, so denk' ich mir, der alte Harder ist ein Priester der Naturreligion und liebt das Geheimmß, nicht weil es Geheimniß, sondern ein Weg zur Offenbarung ist. Daß er an die Perfectibilität der Thiere glaubt, scheint[644] mir eine Grille; denn was hilft es, einen Hund und eine Katze so zu gewöhnen, daß sie sich nebeneinander vertragen –

Und in dem Falle nicht accompagniren, fiel Lasally ein, daß Frau von Trompetta Solo singt –

Der Naturzustand, fuhr Dankmar fort, ist der, der doch zuletzt allein und einzig über das Wesen der Thiere entscheidet. Kann man eine ganze Race nicht umformen, nicht aus Löwen (für Jeden, nicht blos für den Wächter) Schooshündchen machen, so entscheidet am Ende die Zähmung sehr wenig und beweist überhaupt nichts für die Thiere, sondern nur für die große Kraft des Menschen und seines übermenschlichen gewaltigen Geistes ...

Sie müssen den Präsidenten kennen lernen, sagte Melanie –

Aber rasch, ergänzte Lasally; es ist bei ihm die höchste Zeit ... Gerade noch eine halbe Minute vorm Abfahren.

Diese eigenthümlichen Menschen, fuhr Dankmar fort, diese Originale, diese Wundermenschen sterben leider fast Alle aus ...

Welche Menschen? fragte Melanie's Mutter, die Dankmar's ernster, würdiger Erörterung nicht recht gefolgt war.

Die Denker, sagte Dankmar, die Menschen von Eigenthümlichkeit und apartem Forschergeist, die praktischen Philosophen, die Autodidakten, die Sternseher auf eigenem Dachgiebel, die Mathematiker auch in der Form und der Weise ihres ganzen Lebens, die Sonderlinge, mit[645] einem Worte alle Die, welche, ohne eitel zu sein, sich merkwürdig von der Masse unterscheiden ...

Ich verstehe, sagte Lasally. Sie meinen z.B. solche alte Uhrmacher, kleine vertrocknete Männchen, die alle Vierteljahre in die Häuser kamen und die Wanduhren ausbliesen und vom Staube putzten. Zu meinen Ältern, weißt du noch, Schwester, kam immer Einer mit einem ganz kleinen Zöpfchen, das er hinten in der Weste versteckt hatte .... Er kam jeden Monat zu uns, als wir noch alte Schlaguhren hatten. Ob das alte Eisoldchen noch lebt?

Der alte Eisold? Ich kenn' ihn wohl, sagte Frau Schlurck.

O, fuhr Dankmar fort, ich kenne das alte Eisoldchen nicht, aber verlassen Sie sich darauf, er ist todt! Alle gehen hin, die noch etwas von der Art des vorigen Jahrhunderts in seiner Blütezeit haben. Vielleicht gelingt mir's durch Ihre Protection, Fräulein, den Präsidenten einmal in Tempelheide zu sprechen. Er ist für die Juristen sehr unzugänglich und gibt in Tempelheide vollends nur Denen Audienz, die sich ihm im Interesse seiner Studien über die Thierseele oder mit dem Zeichen der Freimaurer nahen.

Melanie lächelte über die consequente Art, wie Dankmar seinen Charakter als Rechtsverständiger festhielt.

Anna von Harder, sagte sie, kann Sie bei ihm einführen ...

Zufällig war der Wagen, in welchem Bartusch fuhr, fast dem der Justizräthin dicht zur Seite gekommen. Bartusch[646] griff von den letzten Äußerungen eine auf, die sich auf den alten Uhrmacher Eisold bezog, und rief herüber:

Behüte! Der alte Eisold lebt. Brandgasse Nr. 9. im dritten Hofe drei Treppen hoch. Hackert wohnt ja bei ihm ...

Damit fuhren die Wägen wieder hintereinander und in der frühern Ordnung.

Die Erwähnung Hackert's brachte einen Miston in die Stimmung der jungen Gesellschaft, die im Wagen der Justizräthin saß.

Lasally, der unterwegs immer an seine gerichtliche Untersuchung denken mochte, sagte:

Beim alten Eisold wohnt Hackert? Sieh! Sieh!

Die Justizräthin, die Melanie's Unruhe bemerkte, wollte die Wiederaufnahme dieses Gegenstandes vermeiden und fiel sogleich ein:

Brandgasse Nr. 9. Großer Gott! Wohnt der alte Mann in den jammervollen Häusern, wo die Armuth und das Elend hausen ......

Ist die Brandgasse nicht eine schmale, enge, alterthümliche Straße? fragte Dankmar.

In der Altstadt ....

Wo nicht Sonne, nicht Mond scheinen?

Uralte Häuser, die mein Mann administrirt ...

Es sind Häuser ...

Die der Commune gehören; Häuser, die alle an dem Eingang mit dem Kreuz und dem vierblättrigen Kleeblatt bezeichnet sind ....[647]

Dankmar horchte staunend auf.

Die Stadt zieht aus diesem Elend und Jammer, sagte die Justizräthin, jährlich bedeutende Summen. Man glaubt es nicht, was Alles auf den Ertrag dieser Höhlen der bittersten Armuth angewiesen ist. Ich versuchte sonst, sie zu durchwandern und mich nach den Leiden dieser hier eingepferchten Bevölkerung zu erkundigen; aber ich verzweifelte bei dem Anblick und hielt ihn auf die Länge nicht aus ... ich konnte zuletzt nicht mehr thun, als mich an die Gesellschaft der Frauen anschließen, die diesen Armen beizuspringen sich zur Lebensaufgabe gemacht haben und gern würde ich thätiger im Frauenverein mitgewirkt haben, wenn ich nicht immer von diesen Damen hätte hören müssen: das Christenthum wäre solchen Unglücklichen nützlicher als frische Wäsche. Zu dumm für solche Sätze, zog ich mich zurück und beschränkte mich auf Geldbeiträge.

Diese Häuser gehören zu der Erbschaft ... sagte Dankmar vor sich hin und verfiel in ernstes Nachdenken.

Lasally erwachte aber aus seinem Grübeln und sagte mit einem Griff in die Tasche:

Beim alten Eisold! Himmel! Jetzt begreif' ich die Form dieser Kugeln. Es sind ja Uhrgewichte ....

Damit zeigte er die bleiernen, kleinen runden Körper, die man anfangs für Spitzkugeln gehalten hatte und die in der That auch für Uhrgewichte gelten konnten.

Lasally wünschte weitere Erörterung, Dankmarn drängte die Frage nach dem Verhältniß des Justizraths[648] zu jenen Häusern in der Brandgasse, von denen man sagte, daß die städtische Commune von ihnen mit unnachsichtlicher Strenge Abgaben eintreibe .... Melanie aber machte durch ein einziges: »Ich bitte!« und ein Zurückstoßen der von Lasally dargehaltenen Kugeln oder Uhrgewichte der weitern Erörterung ein Ende und brach kurz und entschieden von einem Gegenstande ab, der jede der in diesem Wagen befindlichen Personen anders und entgegengesetzt, aber Keinen in erfreulicher Art aufzuregen schien ...

. .....Mit der flachern Gegend war auch das Wetter unfreundlicher geworden. Es fing an zu regnen. Man schlug hinten wol die Wägen auf, aber nach vorn blieben die Herren ungeschützt und mußten sich mit Regenschirmen behelfen. Das gab nun eine unerquickliche Fahrt. Man lachte zwar, aber nur um sein Unbehagen nicht zu ernst auszulassen. Melanie und die Mutter hüllten sich in Mäntel. Jene band sogar einen Schleier über den Hut und verbarg sich in einer Wagenecke wie eine verhüllte Nonne, sich ganz ihren Betrachtungen überlassend. Nur zuweilen blitzten die großen braunen Augen zu Dankmarn hinüber, wenn er gerade nachdenklich in den Wald starrte oder zu den immer dichter heranziehenden Wolken aufsah. Die Kutscher peitschten zur Eile ...

Dankmarn waren trotz des strömenden Regens alle Stellen erinnerlich, wo er vor wenig Tagen mit dem jungen Prinzen, für den er hier selbst gehalten wurde, in nähere Berührung gekommen war und seine Gedanken[649] mit einem Manne ausgetauscht hatte, der kein Tischler sein konnte. Was lag da nicht Alles auf seiner belasteten Seele! ... Um sechs Uhr war man im Heidekrug. Er erkannte den lustigen jetzt aber nüchternen und verdrießlichen Hausknecht Dietrich und die rührsame unpolitische Liese, deren Rechnung Hackerten noch in schlimme Händel bringen konnte. Aber zu lange konnte er kaum beim Vergangenen verweilen; denn Alles, was ihn an Schlurck, den Heidekrüger, die Wahlen und den Wagen, der hier mit seinem wiedergefundenen Verluste, den alten Papieren des Tempelhauses in Angerode, gestanden hatte, erinnerte, verdrängte jetzt die Überzeugung, daß sie hier wirklich den Geheimrath von Harder eingeholt hatten. Da stand sein Landau, vom Regen triefend, da war der Möbelwagen, die Arche Noäh, wie sie jetzt von Melanie genannt wurde; da sah er am Stalle die beiden Gendarmen und die Leute des Intendanten, die von da aus den mit einer eisernen Stange verschlossenen Wagen streng behüteten ..... Wie sich Alles sammelte, über das Wetter klagte, Zimmer, Speisen verlangte, wie die Hunde an den Ketten rissen, Bello kläffte, Einer da, der Andre dorthin sich verlor, war Das ein Durcheinander zum Einbüßen aller Besinnung. Melanie flüsterte Dankmarn, als er in das Zimmer trat, das ihm die Liese für diese Nacht anwies, die kurzen aber bedeutungsvollen Worte zu:

Wie und wo das Bild herkommen soll, weiß ich noch nicht! Aber Sie haben es bis morgen![650]

Dankmar wollte etwas Verbindliches erwidern. Sie schnitt seine Worte ab und sagte nur:

Lassen Sie, da ich nicht weiß, wie ich Ihnen das Bild zustellen kann, die Nacht über die Thür Ihres Zimmers offen! Hören Sie?

Damit verschwand sie und überließ Dankmarn dem Erstaunen über Etwas, was ihm völlig unmöglich schien. Er öffnete das Fenster des kleinen dumpfen Zimmers, um trotz des Regens frische Luft zu gewinnen. Es war ihm nicht lieb, daß er diese Kammer als jene erkannte, in welche man Hackerten geführt hatte, als man ihm nicht sagen wollte, daß er im Schlafe wandelte. Das Heu, das damals von Hackert aus dem Stalle mitgebracht wurde, lag nicht mehr im Zimmer. Dafür war der Heidekrug zu reinlich gehalten. Aber die Erinnerung war da und die erschreckte ihn doch mächtig.

Den Abend über ging es nun verworren genug in diesem Hause und auf dem Hofe zu. Die schöne Einheit der Gesellschaft war durch das Wetter und die breite Souverainetät, mit der sich die Excellenz des Wirthshauses und seiner besten Zimmer bemächtigt hatte, gestört. Jeder aß für sich. Die Damen hatten sich ganz zurückgezogen. Der Versuch, nachdem der Regen mit Sonnenuntergang aufgehört hatte, das Freie zu gewinnen, den Garten zu besuchen, in den Wald, an den er grenzte, einen Blick zu werfen, scheiterte an den stehenden Wassern und dem feuchten Grase. Dankmar war überrascht, sich so plötzlich allein zu wissen, kaum noch selbst von Melanie[651] beachtet. Er hörte viel Trepp auf, Trepp ab gehen, sah auch den Geheimrath öfters den Kopf zum Fenster hinausstecken, vernahm auch, daß die Bedienten immer in Bewegung waren. Aber so sehr seine Neugierde durch dies Alles gesteigert werden mußte, so ergab er sich doch völlig ungewiß in das Unabänderliche und überließ es der Zukunft, in das Chaos, das auf seine Brust gewälzt war, Licht zu bringen und seine Stimmung in heitere leichtere Gefühle aufzulösen.

Im Wirthssaale traf er bald mit dem reichen Banquier von Reichmeyer, bald mit dessen Schwager Lasally zusammen. Man berathschlagte über die vorsichtigste Art, zur sichern Entdeckung der Hackert'schen Frevel zu gelangen. Dankmar, dessen Besorgniß über das von ihm an Lasally abzuliefernde Pferd immer mehr stieg, schloß sich ihrer Entrüstung mit aller Entschiedenheit an und weigerte sich keineswegs, etwa verlangte gerichtliche Zeugnisse abzulegen. Reichmeyer war über Hackert weniger unterrichtet als Lasally. Dieser gestand, als Dankmar von dem krankhaften Zustande des Nachtwandelns sprach, dies bedauerliche Übel des Burschen, wie er ihn nannte, ein, bemerkte aber, die Discretion verböte ihm, über die wahren Ursachen dieses Zustandes ausführlicher zu sprechen.

Jedenfalls, sagte er, können Sie überzeugt sein, daß Das ein Mensch ist, der alle Fähigkeiten besitzt, Einem über den Kopf zu wachsen, wenn man ihn nicht zur rechten Zeit mit Füßen tritt. Sie werden doch jedenfalls zugestehen,[652] daß es ein Unglück ist, wenn Spitzbuben große Männer werden? Deshalb ist die Polizei, das Zuchthaus und im Nothfall jede andere eclatante Beschimpfung da, um die übergroße Üppigkeit solchen Talenten für immer zu vertreiben.

Dankmar verstand nicht recht diese gewaltthätigen Äußerungen und fand sie auch zu unbehaglich, um länger über sie nachzudenken oder gar über sie zu fragen. Er beschloß die Erinnerung an diese Begegnung, wenn irgend möglich, ganz aus seinem Gedächtniß zu werfen und unterhielt sich mit Lasally über andere Dinge. Im Ganzen fand er ihn klug und sehr klar, aber von merkwürdig geringem Fond. Es war ein junger Mann, den man zum Gentleman erzogen hatte und der deshalb, weil ihm die Mittel dafür zu fehlen anfingen, in einer verdrießlichen Stimmung war. Es gefiel ihm, daß Lasally etwas Offenes und Aufrichtiges hatte. Als sie Beide im Saale allein waren und einander ihre Cigarren anrauchten, sagte der Stallmeister auch ganz frei heraus:

Sie sind Prinz Egon von Hohenberg! Man weiß es. Warum wollen Sie sich auch vor mir maskiren? Ich stand sonst mit dem Grafen d'Azimont in Verbindung. Er kam vor einigen Jahren aus Paris, ich sollte ihm damals einen Stall completiren und bin darüber noch mit ihm in Verrechnung. Von seinem Verwalter erfuhr ich, daß Sie im Incognito Ihre Güter besuchen wollen, zum größten Jammer der Gräfin, die Sie liebt ...

Dankmar redete ihm diese Ansicht ganz entschieden[653] aus, indem er ihm die Wahrheit gestand, soweit sie hierher gehörte.

Ich bin ein einfacher Jurist, sagte er, Dankmar Wildungen ist mein Name, aber ich bin ein Freund des Prinzen. Ich bemerke, daß man gegen mich vorsichtig, behutsam, ja mistrauisch sich benimmt. Reden Sie doch Jedem den wunderlichen Verdacht aus!

Auch Melanien? fragte Lasally, die Augen halb zudrückend.

Auch ihr, sagte Dankmar. Sie hat mir Theilnahme bewiesen, aber es fängt mich zu verdrießen an, wenn sie mich nicht wegen meiner selbst schätzt, sondern aus einem Misverständnisse.

Sie selbst lieben sie also schon! sagte Lasally. Und deshalb möcht' ich, Sie wären wirklich der Prinz Egon ....

Man störte Beide in dieser wunderlichen Erklärung. Lasally wurde abgerufen und Dankmar schritt in der verdrießlichsten Stimmung im Wirthszimmer auf und ab. Sein Abenteuer war ihm wie zerstört. Er war mit der Nothwendigkeit, ehrenhaft und aufrichtig zu sein, in eine Collision gerathen, wo diese siegen mußte. In diesen gemischten Empfindungen störte ihn nun auch noch der Heidekrüger, der von der Helldorfer Wahlbesprechung zurückkam und sehr überrascht war, sein Haus so reich an Gästen zu finden. Er erkannte Dankmarn sogleich wieder, hörte von ihm die genaue Angabe aller der Personen, in deren Gesellschaft er angekommen war und erwiderte[654] auf die Frage wegen der politischen Versammlung, die Dankmar an ihn richtete, mit einem sonderbaren Gemisch stattlicher Würde, aber auch ebenso großen Selbstvertrauens.

Es wird nun doch dahin kommen, daß man mich, nicht den Justizrath wählt, sagte er. Es ist nicht möglich, sich dem Vertrauen seiner Mitbürger zu entziehen. Ich habe mich lange gesträubt, ein so wichtiges Amt, wie das eines Volksvertreters, anzunehmen, allein der große Augenblick und die Gefahr, in der sich unser Vaterland befindet, reißt Jeden fort, auch Den, der nur geringe Gaben hat und die, die er vielleicht besitzt, nicht wie ein Gelehrter ausbilden konnte. Das Ministerium schwankt. Es wird sich nicht halten können und was an mir ist, würd' ich der Letzte sein, der es von seinem Falle rettete. Es genügt Keinem; dem Adel nicht, dem es zu frei, dem Pöbel nicht, dem es zu gemäßigt ist. Die Verwirrung in der Hauptstadt soll grenzenlos sein und umsichtiger, besonnener, ruhiger Vaterlandsfreunde bedarf es mehr denn je. Ich bringe wenigstens meinen guten Willen mit.

So hätte also der Justizrath Recht gehabt? sagte Dankmar, erstaunend über die gewandte Art des Heidekrügers, sich zu fassen und auch in Worten auszudrücken.

Ich schlug ihn vor, sagte Justus, die Achseln zuckend. Ich nannte Alles, was man zum Lobe eines so gelehrten Mannes sagen kann, der in großem Ansehen steht. Aber man scheut sich jetzt, von Advocaten zu hören. Man hat kein Vertrauen mehr, seitdem Die, welche am gewandtesten[655] von den Rechten der Menschen sprachen, kein Wort mehr für die Pflichten hatten. Das Eigenthum ist es, bester Herr, das nicht in Gefahr kommen darf. Man muß nicht zittern dürfen vor einem tollen Durcheinanderwühlen von Mein und Dein. Man muß sich sogar nicht fürchten müssen vor Dem, was man uns von den Rechten der Andern schenkt; denn wie bald würde man wieder von Solchem, was uns nun gehören soll, doch wieder Andern abzugeben haben!

Sie sind conservativ geworden, sagte Dankmar, und haben als reicher Mann alle Ursache, vor einer zu wilden Gährung der Köpfe Haus und Hof zu sichern. Aber der Justizrath wäre doch unstreitig auch ganz Ihrer Meinung gewesen ....

Der Heidekrüger wurde nachdenklich. Er sah voraus, daß seine Stellung dem Justizrath gegenüber recht ärgerlich war ...

Dankmar erleichterte ihm seine Verlegenheit und meinte: der Justizrath würde wol zu weit rechts gesessen haben?

Es ist sehr schlimm, sagte der Heidekrüger kopfschüttelnd, daß es soweit hat kommen müssen, jeden Menschen gleich links oder rechts unterzubringen. Wenn es nach mir ginge, setzte ich mich auf die äußerste Linke und stimmte rechts! Was sollen denn diese Unterschiede? Wozu denn dieser Zwang, den der Parteigeist schon ausübt, eh' man nur den Saal der Sitzungen betritt? Ich kann den Schwätzern nicht folgen und ich kann auch der Regierung nicht[656] folgen ... sagen Sie mir die Stelle, wo ich mich hinsetzen soll?

Ins Centrum, meinte Dankmar ironisch, und da müssen Sie denn doch noch Minister werden, wie der Justizrath gesagt hat ...

Indem brachte die unpolitische Liese ein Packet neuer frischangekommener Zeitungen, das sie unwirsch vor ihrem begierig darüber herfallenden Herrn hinwarf. Es waren deren eine so reiche Auswahl, daß Dankmar sagte:

Alle neuen Zeitungen? Sie treiben ja die Politik wie Metternich!

Das sollte Sie freuen, bester Herr, erwiderte Justus, die Blätter begierig auseinanderfaltend. Das Licht besserer Erkenntniß, die Verbreitung der Hülfsmittel, um das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden, that endlich noth. Wir haben auch früher in den Zeiten des Druckes, wo unsere Klagen in dem jämmerlichen Institut der Provinzialstände ungehört verhallten, nicht die Hände in den Schoos gelegt. Sehen Sie, daß ich mich wohl vorbereitete auf eine bessere Stunde und las, was uns frommen kann, nun sie endlich geschlagen hat.

Damit öffnete Justus nicht ohne einige Zaghaftigkeit und geschmeichelte Verschämtheit die Thür eines Nebenzimmers. Es war ein Cabinet, recht traulich und fast wie das Studierzimmer eines Gelehrten anzusehen. Da waren Epheuranken am kleinen Fenster, Vogelbauer hingen mit einigen schon schlummernden Canarienhähnen, ein Stehpult mit einem Drehstuhl davor zeigte Spuren fleißiger[657] Benutzung sowol des Tintenfasses wie der Streusandbüchse. Das Auffallendste aber war eine reiche Bibliothek. Hinter den Glasfenstern eines hohen Bücherschranks las Dankmar in der Abenddämmerung an dem Rücken der Bücher: Rotteck's Weltgeschichte, Das Pfennigmagazin, Welcker's Staatslexikon und eine Menge von Schriften, die früher zu den verbotenen gehörten und meist in Altenburg, Hamburg oder im Auslande erschienen waren ...

Diese verbotenen Bücher, bemerkte Justus, enthielten viel Falsches, allein man mußte sie sich anschaffen, um auch das Gute sich anzueignen, das sie mit dem Falschen zugleich brachten. Wahrheitstrieb erschien damals für unerlaubte Freisinnigkeit. Ich galt viele Jahre für einen schlimmen Feind des Königs und wurde von seinen bösen guten Dienern arg verfolgt. Diese Schriften, die ich mir mit List und Gefahr verschaffen mußte, lagen alle versteckt und sind erst jetzt gebunden worden. Es war wahrhaft traurig, daß man etwas hüten und heimlich schützen mußte, was man nur las, um es sehr bald als Übertreibung zu vergessen. Doch war auch manches gute Korn unter der Spreu, und Das soll jetzt aufgehen und gute Frucht bringen. Nicht wahr, Herr?

Dankmarn war sonderbar zu Muthe. Er mußte den Mann, der sich da so ganz aus eigenen Mitteln emporgerafft, eine Bildung und sogar eine Meinung sich erworben hatte, von ganzem Herzen achten und doch misfiel ihm das Selbstgefühl des Heidekrügers, sein gewichtiger,[658] feierlicher und dann wieder naiver und gemachter treuherziger Vortrag und mehr noch als Dies seine egoistische Auffassung des Staats. Als der Heidekrüger das Kämmerchen wieder schloß und nach den Zeitungen griff, um mit großer Spannung selbst noch in der Dämmerung, ehe man Licht brachte, ihren Inhalt zu überfliegen, mußte er sich sagen, daß ja zuletzt der Absolutismus eines Fürsten von Gottes Gnaden nicht schlimmer ist als so ein Patriot von Gottes Gnaden, der ganz wie Jener den Staat aus seinem eigenen Ich herleitet. Dennoch gefiel ihm wieder, als dieser Mann, den er fast für den rechten Urtypus des politisirenden deutschen Michels hätte nehmen mögen, beim Umblättern der Zeitungen sagte:

Diese albernen sogenannten Eingesandts! Ist's denn möglich! Die Gesinnung möcht' ich hingehen lassen, obgleich sie in übertriebener Unterwürfigkeit nur den Rückschlag in die alte dumme Zeit zu weit befördern, aber sieht man nicht jeder Unterschrift an, daß sie von Menschen herrührt, die gleichsam dem Landesfürsten sagen mögen: Merkst du dir denn auch meinen Namen? Unterstützest du mich denn nun auch bei Gelegenheit oder befiehlst den Ministern, meinen Sohn zu befördern? Da flucht ein Rittergutsbesitzer der Umgegend hier über die Demokraten und unterschreibt sich groß und breit mit seinem ganzen Major außer Diensten und allen Kreuzen, deren Inhaber und Ritter er ist. Aber wir Alle wissen, daß dieser Herr Vom Busche neulich die Dreistigkeit hatte, an den König zu schreiben, seine Tochter müßte[659] doch nun wol auch das Pianoforte lernen, er könnte ihr, da er fünf Kinder hätte, kein Instrument kaufen, ob sein allergnädigster Fürst und Herr nicht die Gnade haben wollte und ihm für seine treuen Dienste –

Ein Pianoforte kaufen? sagte Dankmar, zornglühend, und setzte hinzu:

Und ich glaube fast, daß der Mann das Pianoforte bekommen wird?

Er hat es schon, sagte Justus. Ja, ja, die Geheimnisse unserer fürstlichen Chatoulle gäben das unterhaltendste Buch, das einem hamburger Buchhändler nur könnte verboten werden ...

O, rief Dankmar, müßte den König nicht Zorn, ja Scham ergreifen, wenn er sähe, worauf er die Behauptung seiner Vorrechte gründet, wenn man solche Adressen schreibt und schreiben läßt! Sind es denn freie, unabhängige Menschen, die da mit sich selbst beschränkendem, lohndienerischem Verstande seiner Gewalt zustimmen? Nein, es sind Die, denen die alte Ordnung der Dinge Vortheile brachte, die sie bei der neuen zu verlieren fürchten. Die Demokratie mag viel zügellose Elemente in sich hegen und manchen verdächtigen Ansprüchen einen schimmernden Namen geben, aber so auf die Lüge gebaut ist sie nicht, wie bei uns die Vertheidigung des alten beschränkten Landeskinder-Gehorsams. Menschen, die nie einen andern Blick in die Zukunft warfen, als der bis zu ihrem nächsten Gehaltstage oder bis zu ihrem Avancement reichte, geben sich plötzlich das[660] Ansehen, politische Gedanken zu haben und wollen den Thron befestigen, indem sie ihn auf ihren eigenen Egoismus bauen! Hätte sich das Regiment bei uns wirklich geändert, auch dieser Major Vom Busche würde sich verändert haben und sein Pianoforte von dem Tribunen oder Dictator erbetteln, der ihm gerade dem Staatsschatze am nächsten sitzend erscheint ...

Hoffentlich bei Denen ohne Erfolg! sagte der Heidekrüger etwas spitz.

Und darum, fuhr Dankmar ungehindert fort, daß solche Zumuthungen, solche Misbräuche nur bei der gegenwärtigen Form der Regierung, ihren militairischen Erinnerungen und ihrem patriarchalischen Verwachsensein mit dem Dünkel der isolirten Nationalität möglich sind, darum soll das Bessere, Vernunftgemäßere gefährlich und verderblich sein? Den Schmarotzern am Tische der Monarchie allein ist es verderblich und darum auch der Monarchie selbst gefährlich. Können sich Throne auf die Länge behaupten, die auf den Egoismus einzelner träger Classen gebaut sind? Wird man nicht endlich einsehen, daß, wie die Schrift sagt, die Lüge der Leute Verderben ist und jedes Königshaus entweder der Republik oder einer radicalen monarchischen Verjüngung weichen muß, wenn es, wie einst die Stuarts, selbst eine Partei im Staate vertritt?

Republik? sagte der Heidekrüger lächelnd. Bitte! Bitte! Nicht Republik!

Und den Kopf schüttelnd, ergriff er wieder die Zeitungen[661] und blätterte in ihnen; denn es war nun auch Licht gebracht worden und sein Nachtessen wartete ...

Dankmar ging noch einige mal im Saal auf und ab und empfahl sich kurz, um auf sein Zimmer zu steigen ... Lasally, Reichmeyer und einige der Frauen, die ihm begegneten, Alle verfolgten ihn neugierig und fast zuthunlich. Aber er war in einer Stimmung so völligen sich Vereinsamtfühlens, daß er am liebsten zu Melanie gegangen wäre, an ihre Thür gepocht und sich ihr mit ganzer Seele anvertraut hätte. Wo ist auch noch ein Trost für unbefriedigte Gemüther, wenn sie die Söhne unserer Zeit sind, als allein in der Liebe? Wo ist die Bürgschaft noch, daß in den Schrecken der Empörungen und Kriege, in den schaudervollen Gerichten der Reaction und der Rache noch etwas vom Ewigen und Menschlichen sich erhält, als in der Liebe? Wo werden noch Worte des Lebens gesprochen, wo rinnen noch Thränen der Freude, wo weht noch der Hauch des stillen Einverständnisses, wo ist noch Liebe, als in der Liebe!

Dankmar lehnte jede Einladung ab. Er warf sich auf das Lager in seinem kleinen Zimmer ...

Es mochte gegen zehn Uhr sein. Er hätte schlafen sollen; denn die Erschöpfung dieser Tage hatte seine Nerven bis zur Krankhaftigkeit abgespannt. Schon vor Übermüdung konnt' er nicht schlafen. Er hatte die Fenster geschlossen ... er riß sie wieder auf. Die runde volle Mondscheibe konnte am bewölkten Himmel nicht überall hervortreten, noch drückte Gewitterschwüle die Luft, so[662] feucht schon die Erde war, so frisch es schon herüberduftete von den durchnäßten Tannen des Waldes ...

Es war nicht ruhig im Heidekrug. Er hörte die Säbel der Gendarmen. Er hörte laut lachen und ein Hin – und Wiederhuschen auf dem Corridor. Die Thüre ließ er unverschlossen. Mußt' er nicht annehmen, daß ihm Melanie plötzlich wie im Traum erscheinen wollte? Was hatte sie vor? Wie konnte sie sich das Bild aneignen aus einem Raume, der bewacht und verschlossen war? Wird sie den Intendanten überreden? Seiner Eitelkeit schmeicheln? Ihm unmögliche Versprechungen machen?

Sogar die Eifersucht ergriff ihn, so lächerlich der Gegenstand war.

Unter ihm, im Wirthszimmer, glaubte er jetzt die Diener des Intendanten, die Gendarmen, die Jockeys Lasally's zu hören. Er warf sich nieder auf das Bett, dessen unheimliche Erinnerungen an Hackert er nicht loswerden konnte. Er blieb angekleidet, wie er war ... Nach einer Weile ließ sich doch der Schlaf nicht mehr zurückweisen. Er verfiel in einen halb wachen, halb träumenden Zustand, der ihm eine Zeit lang bleischwer aufs Auge sich senkte ... Dann fuhr er wieder empor. Er mußte eine halbe Stunde so gelegen haben. Das Zimmer war hell. Die Wolken hatten sich etwas verzogen und ließen dem Monde Raum, sein goldgelbes, fast zehrendes Licht auszugießen. War es die Erinnerung an Hackert, an dessen nächtlichen Gang auch am Schlosse, den Egon beobachtet und ihm erzählt hatte, war es die Erinnerung an[663] Hackert's gespenstisches Hinschreiten über die Wiese zum Ebereschenbaum, von dem der Jäger gesprochen, seine eigene Begegnung mit ihm am Thurm und sein Verschwinden zur Waldschlucht und dem Kreuze hin, wo des Sägemüllers Nantchen verunglückt war; waren es alle diese Erinnerungen an das fast dunkle phantasmagorische Leben eines Andern ... oder war es seine eigene nervösen Reizung ... es kam ihm vor, als fühlte er recht die ziehende, magische Gewalt der Mondstrahlen, das Verzehrtwerden von diesem trockenen, ausgebrannten Himmelskörper, der so geheimnißvoll auf die Erde wirkt, fühlte er recht das Schwinden in das geisterhafte Licht hin ... Er legte sich und glaubte zu schlafen, schlief und wachte ...

War es Traum? War es wirkliche Erscheinung? ... Er sah die Thür sich leise öffnen ... er hörte sie knarren ... Tritte schleichen ...

Ach, kam ihm der Gedanke, Das ist Melanie! Er blinzelte einmal auf, lächelte und schloß die Augen wieder ... bleischwer lag eine räthselhafte Gewalt auf seinen Sinnen ... er mochte sich erheben und konnte nicht ... er mochte reden und der Mund war wie krampfhaft geschlossen ... Wie Musik floß es um ihn her ... Er fühlte jene Schwingungen der Seele, die uns oft sind, wie die Vorahnungen der Seligkeit ... wie der Tod uns nahen mag ... So zerfließen ... so hinübergehen ... so sterben!

Er täuschte sich aber nicht. Es war ein nächtlicher Besuch, den er zu begrüßen, anzureden keine Kraft hatte ...[664]

Nicht aber Melanie war es.

Eine männliche, edle Gestalt beugte sich auf ihn nieder ... Er sah, er fühlte sie ... Er lächelte zu ihrem lächelnden, freundlichen Gruß empor.

Der Fremde hatte ein Bild in der Hand ... es war rundoval ... die Farben blaß ... Der goldene Rahmen glänzte matt im Mondenschein ... Es war das Bild einer jungen schönen Frau und Der, der es trug, war Ackermann, der Amerikaner. Leise trat der nächtliche Besuch näher, neigte sich über Dankmar, küßte abwechselnd das Bild, abwechselnd die Stirn des halbwachen Schläfers ... Dann war das Bild verschwunden, aber der Fremde, derselbe, den man Ackermann nannte, des holden Selmar Vater, blieb noch. Nach einer Weile zog er das Portefeuille aus der Brust, neigte sich über Dankmar und ... Was that er nur? Dankmar hörte etwas, wie das Klingen eines Instruments – er hörte den Schnitt wie eines Messers – nein, er fühlte etwas an sich selbst, das aber nicht schmerzte, nicht verwundete ... Seine müden Augen blinzelten ... Er wollte den Traum nicht stören ... Das Mondlicht that den Sternen der Sehkraft wehe ... Aber die Gestalt war keine Täuschung. Der Amerikaner trat zurück und betrachtete eine Locke, die er sich eben von Dankmar's Haupte geschnitten, küßte sie und legte sie mit Rührung in sein Portefeuille. Das Zimmer wurde dunkler, die Wolken traten vor den Mond ... Die Erscheinung war verschwunden.

Als Dankmar sich aufrichtete, war es ihm fast, als[665] hörte er noch die Thür klinken. Alles war still. Alles dunkel, der Mond war dicht verhüllt ... er konnte nichts unterscheiden ... Du hast geträumt! sagte er sich, und schön geträumt! ... Und Dankmar glaubte geträumt zu haben, so schwer lag die Ermattung auf ihm, daß er für Alles, was Wahrheit sein mußte, jene süße Gleichgültigkeit empfand, die die gewaltigste Reaction der Natur verrieth. Er sah nach seiner Uhr und glaubte den Zeiger schon auf Eins zu erkennen und doch war es finster ... Er kleidete sich in zwei Minuten völlig aus und warf sich ins Bett, unbekümmert um Alles, was ihm noch eben Freude oder Schmerz, Antheil oder Widerwillen eingeflößt hatte ...

Schon stand die Sonne hoch am Himmel, als Dankmar erwachte. Er sprang aus dem Bett und erstaunte, daß seine Uhr bereits über Sieben zeigte. Seine Toilette machen, nach frischem Wasser klingeln war das Eiligste, was er thun mußte.

Du hast dich verspätet, sagte er sich, den lang' entbehrten stärkenden Schlaf hat die Natur in dieser Nacht für sich mit Gewalt eingefodert ... Von elf bis sieben Uhr. Ei, du Schläfer und welch ein Schlaf! Wie bleiern lag es in deinen Gliedern ... du weißt nichts ... nichts ... Himmel, ein ganz neues Leben erquickt deinen müden Körper ... aber die Zeit hast du doch verschlafen ... Das steht fest.

Und so tummelte er sich fort ...

Da fährt er mit der Bürste durch sein Haar. Er steht vorm Spiegel und will sich den gewohnten Scheitel[666] ordnen ... Was ist das? Die Lage der Locken ist nicht die alte ... der gewohnte Strich, der Fall der Haare ist gestört ... Ein Büschel sich rundender Haare fehlte ihm dicht über den linken Schläfen ...

Er besinnt sich ... auf die Nacht! Auf den Traum! Nein, kein Traum! Wirklichkeit! Hier fehlt das Haar ... die Locke wurde abgeschnitten. Die ermatteten Augen hatten nur nicht die Kraft gehabt, sich länger offen zu halten; die Willenskraft, der Widerstand war von der Übermüdung gelähmt gewesen. Die Locke fehlte. Er sah sich im Zimmer um. Der Gedanke an das Bild ergriff ihn mit Zauberkraft. Es war da gewesen. Ackermann hatte es geküßt, hatte sich über ihn geneigt mit dem Bilde. Selmar's Vater! Wie war Das? Er rückte den Tisch, die Stühle, er warf das Bett auseinander ... noch einmal ... er faßt nach dem Kopfkissen. Da ist ... da fällt etwas in die Betten ... ein harter Gegenstand ... ein rundes Bret ... er wendet es um. Es ist das Bild!

Egon und Melanie hatten das Bild Dankmarn beschrieben, sowie er es fand. Ein weiblicher, schöner Kopf in blassen Pastellfarben ... ein goldener Rahmen gab ihm die Form eines Medaillons ... Hinten ein stärkeres Bret ... das Bild viel schwerer, als es seinem Umfange nach sein konnte. Er zweifelte nicht, daß es ein Geheimniß enthielt. Die Feder, die es durch einen Druck auf das Glas öffnete, zu suchen, trieb ihn zwar die Neugier. Aber als er einige male vergebens über das Glas gefahren war, hier drückte, da schüttelte, es von allen Seiten betrachtete und nichts[667] sogleich von der geheimen Öffnung entdeckte, war er fast froh nicht in Versuchung zu gerathen und Dinge zu erfahren, die nicht für ihn bestimmt waren.

Jetzt hätte er rufen mögen: Melanie! Selmar! Er hätte Ackermann sich an die Brust ziehen mögen ohne Erkennungszeichen, ohne Geheimbund, ohne zu wissen, wer er war und was er glaubte und dachte ... Er riß die Thür auf und rief nach dienenden Wesen, der Liese, dem Dietrich. Niemand hörte ihn. Doch war Alles in Bewegung. Trepp auf, Trepp ab hörte er rennen, toben. Man klopfte, schrie, man drohte. Was war? Was ist? Hatte man das Bild vermißt?

Rasch kehrte er zurück und verbarg es.

Da tritt die Magd ein und erzählt ihm in ihrer polternden Art: Es wär' ein Unglück geschehen, man könnte den Intendanten nicht finden. Der Heidekrüger wäre außer sich ... alle seine Bücher hülfen ihm nun doch nichts. Ein vornehmer Mann wäre auf dem Heidekrug verloren gegangen!

Dankmar bittet, ihm ruhiger zu berichten.

Gestern Abend noch spät, sagte die Liese, erlaubt der gnädige Herr den Gendarmen und Dienern im Saale auf sein Wohl zu trinken und geht dann zu Bett. Die zechen etwas lang und stehen schwer im Kopf auf und gehen zu Bett und es wird Tag und der große Wagen fährt fort, ehe noch der gnädige Herr geweckt ist. Der einzige Diener, der zurückgeblieben, wartet und wartet, der Herr kommt nicht. Excellenz! Excellenz! heißt es. Man findet die Thür[668] offen, das Bett so gut wie unberührt, der Herr muß in der Nacht aufgestanden sein und ist nun nicht da. Man sucht ihn überall. Er ist nirgend. Ganz gewiß, er hat ein Unglück erlebt. Diese Zeit! Dies Leben! Wer hält Das auf dem Heidekrug aus!

Aber so fragt die Damen, mit denen ich kam, rief Dankmar erstaunt und über Melanie's Geheimniß grübelnd ....

Die sind in aller Frühe fort .... sagte die Magd.

Melanie, Madame Schlurck und die Andern?

Alle fort, schon um fünf Uhr. Das Fräulein sagte, Sie wollten mit Ihrem Einspänner allein bleiben und später fahren. Der steht unten und wartet. Das Hündchen winselt nach Ihnen. Hören Sie's?

Bello kratzte an der Thür. Dankmar öffnete. Das Thierchen humpelte freudig an seinem interimistischen Herrn hinauf ....

Aber Ackermann und Selmar? sagte Dankmar.

Wer? fragte die Magd.

Dankmar dachte:

Wahnsinn! Du frägst hier nach Traumgestalten?

Und doch sagte er:

Kam nicht gestern Nacht noch ein stattlicher Herr mit einem Knaben hier an?

Freilich! freilich! sagte die Magd. Es war ja fast zwölf. Sie waren so durchnäßt, daß wir Angst hatten, sie würden uns krank werden .... Aber die sind nun auch schon fort. Eine Stunde später als die Andern. Und eben vor einer halben Stunde fährt der große Wagen ab, die prächtige[669] Karosse des Geheimraths steht unten, man denkt, er steigt jeden Augenblick ein und nun suchen wir ihn ...

Man hörte jetzt draußen auch den Heidekrüger lärmen und laut sein Befremden äußern.

Excellenz! Excellenz! Herr Geheimerrath! rief man in alle Winkel hinein, und in alle Gruben hinunter, ja in solchen suchte man den geheimen Rath, die man sonst nur für geheimen Unrath bestimmte –

Dankmar, in seinem Taschentuche sorgfältig das Bild verbergend, stieg die Treppe hinunter, sah sich die Verwirrung eine Weile mit an und erstaunte, daß der Heidekrüger, der Staatserretter, der Lafayette und Washington, hier schon den Kopf verlor.

Denken Sie sich, sprach er zu Dankmarn mit leichenblasser Miene, wie mir so etwas begegnen muß! Wie sonderbar kann man Dergleichen auslegen! Ein hoher Beamter des Hofes, Mitglied des Reubundes, eine Stütze der Reaction, Gatte einer einflußreichen Dame, die in unserer Politik eine große Rolle spielt, verschwindet spurlos in der Wohnung eines zwar nicht wühlerischen, aber freigesinnten Gesinnungsmenschen ... o mein Gott! habt Ihr denn überall geforscht, Alles aufgedeckt? Alle Gruben? Alle Gelegenheiten, wo Jemand in stiller Nacht mit einem Licht verunglücken kann? Was werden die Sänger's, die Vom Busche's und die Sengebusch's sagen!

Dankmar beschwichtigte seine Besorgnisse mit der festen, ungeheuchelten Überzeugung, daß sich diese Angelegenheit völlig natürlich lösen würde. Da er wußte,[670] daß hier eine Schelmerei Melanien's im Spiele war, zeigte er selbst über sein natürliches Mitgefühl hinaus sich fast ausgelassen und lachte, als er sah, wie und wo man die vornehme, aufgeblasene Excellenz Alles suchte ...

Über Ackermann's Benehmen und mögliche Beziehung zu Melanie oder zum Geheimrath erfuhr er nichts. Hier war ihm ein völlig unlösbares Räthsel. Mit dem letzten Reste der Hackert'schen Anleihe bezahlte er seine Zeche und wollte von dannen fahren unter lautem Jubelgebell seines Hundes. Da trat die Liese heran und Dietrich und Beide wollten Dankmarn die Zügel nicht geben ...

Auf wen wartet Ihr denn noch? sagte Dankmar.

Auf Ihren Kutscher, Herr! ... Hier ist auch noch das Geld von neulich. Wir haben's an den Justizrath noch nicht anbringen können ... er mag es ihm selbst geben.

Wer? Welches Geld?

Ei, das Geld aus der schönen Börse! Von der Nacht her, wo Ihr Kutscher das böse Übel hatte ....

Hackert? Wo ist denn Hackert?

Er kam doch mit Ihnen?

Hackert? Mit mir? Ich kam allein. Hat man den Rothkopf hier gesehen ....

Lichterloh, sagte Dietrich. Der schläft wol noch auf dem Heuboden? Da muß Eins die Spritze bereithalten ....

Ihr Leute irrt Euch! Ich kam allein. Kein Wort weiß ich von meinem Reisebegleiter von neulich .... Und Ihr saht ihn wirklich?

Dietrich pfiff, als wollte er Hackerten ein Zeichen[671] geben. Die Liese drängte, Dankmar sollte das Geld ansichnehmen.

Dieser weigerte sich aber und erklärte, mit dem unheimlichen Gaste in keiner Verbindung mehr zu stehen.

Daß Hackert auf dem Heidekruge in dieser Nacht gesehen worden, blieb ausgemacht. Die Aussagen der Leute stimmten zu sehr überein. Alle hatten geglaubt, er wäre mit der großen Gesellschaft zurückgekehrt. Man suchte nun auch ihn.

Da sich aber keine Spur mehr weder von ihm noch von dem Geheimrathe finden wollte, so fuhr Dankmar von dannen, nicht wenig betroffen und tief erstaunt über das sonderbare Zusammentreffen so vieler höchst räthselhaft sich durchkreuzenden Thatsachen.

Eine Gewaltthat, Das wußte er, war nicht an dem Geheimrath verübt worden, höchstens ein lustiges Abenteuer, von dem Melanie den Schlüssel und dessen eigentlichen Kern, das Bild, er selbst besaß. Im Übrigen gönnte er dem Heidekrüger diesen kleinen Kummer als Strafe für die heuchlerische Art, mit der er anfangs versprochen hatte, Schlurck's Wahl im schönauer Bezirke zu befördern und sich nun selbst vorschob. Der Liese aber sah er die Freude an, ihren »steifen und hochgestapelten« Herrn einmal mit seinem Gesinde wieder auf gleicher Linie stehen zu sehen, wieder von Dem bewegt und erregt, was zu dieses Hauses eigentlicher Ordnung gehörte. Das Geld versprach sie Hackert zuzustellen, wenn er sich noch fände ....[672]

Dankmar fuhr rasch von dannen und konnte wol die Gleise der Wagen und Pferde sehen, die den Langschläfer im Stiche gelassen hatten. Er erreichte sie aber ebenso wenig wie den Wagen, mit dem Ackermann und Selmar, vielleicht auf Nebenwegen, abgefahren sein sollten.

Gegenstände zum Nachdenken hatte er für die Reise den Tag über genug! Abenteuerliches begegnete ihm nichts mehr. Er hätte es zu Dem, was ihn Alles schon in Anspruch nahm, kaum noch aufnehmen können.

Es wurde schon Nacht, als er sich Tempelheide näherte. Er warf einen Blick auf den Landsitz des alten Präsidenten. Ein Rabe saß auf dem Schornstein und schien für die sternhelle und monddämmernde Nacht das Wunderhaus zu bewachen. Dankmar überließ es seinem lahmen Begleiter Bello, zu dem steif und ernst dort oben thronenden Vogel verdutzt und wie auf dem Anschlage hinüberzuschauen. Er kümmerte sich um nichts mehr, was rechts und links lag. Mit unwiderstehlicher Macht nur trieb es ihn zu der großen Stadt hin, die schon zu seinen Füßen lag und der Schauplatz neuer Erlebnisse werden sollte.

Wie der Wagen die kleine tempelheider Anhöhe hinunterrollte und er zur Allee einlenken wollte, die an den Eisenbahndurchschnitt führte, hörte er dasselbe melodische Gesäusel wieder aus dem Schlosse, das ihm noch von seiner Ausfahrt erinnerlich war. Er mußte stillhalten, so bewegte ihn der harmonische Lufthauch. Es war nächtliche Ruhe um ihn her. Im abgemähten Felde, auf der Wiese zirpten nur die Grillen schon ihre Herbstesvorahnungen.[673] Die Kirche stand feierlich im Mondscheinlichte. Die Bäume säuselten und die Lüfte klangen von der Harfe zauberhaft belebt in wehmüthigen Accorden. Es war ein sanftes Moll, in dem die Windharfe gestimmt unter den Tannen hing .... Ach, es war ein Accord, der die ganze Stimmung seiner eigenen Seele aussprach. Zärtlich hoffend, aber tief wehmüthig ....

Ja, sagte er sich, noch geschehen Wunder! Noch helfen unsichtbare Geister an unsern Werken mit und das Schicksal ist keine leere Fabel.

Anna von Harder, die Lenkerin der musikalischen Akademieen, sah er nicht .... Die Fenster blieben geschlossen ... er hätte doch gern die weibliche Gestalt an ihnen wiedersehen mögen, die an jenem Abende seiner Ausfahrt der Windharfe lauschte ... er hätte ihr doch gern die Gefühle übertragen, die diese Töne in ihm selber weckten ....

Sie kam nicht und so mußte er selbst sein Herz öffnen, selbst diese Töne in seine Brust einlassen und die Geister nahen hören, die ihm sagten:

Wandle nun hin unter dem schützenden Sterne, den dir die Gottheit unter diesen Millionen Lichtern am Himmel dort aufgestellt hat und den du nicht kennst! Verknüpfe dir das Leben zu immer räthselhaftern Knoten, die du einst ungeduldig mit dem Schwerte wirst lösen wollen und deren Fäden vielleicht plötzlich klar und unverwirrt in deinen Händen liegen, wenn dein Schutzgeist sich dir naht, vielleicht so auf einem Accorde der Freundschaft[674] schwebend, so auf einer kleinen nächtlichen Luftwolke des Zufalles, so auf dem Mondenstrahl, der, wie da hinter den Tannen, so aus dem Auge der Liebe bricht! Gehe hin! Noch muß sich dir viel erfüllen, viel begeben! Aber vertraue! Siegbert und Dankmar Wildungen! Euer Genius spricht aus diesem Lufthauche der Äolsharfe im Tannenpark von Tempelheide!

Das müde Pferd zog an; weiter ging es bergab in unfreiwilliger Eile .... Von allen Thürmen der Stadt schlug es Zehn, als Dankmar mit seinem müden Gaule nach einer ereignißreichen Reise von vier Tagen in den Thorweg des Wirthshauses Zum Pelikan wieder einlenkte. Das Bild an sich pressend, des doch wohl auch ihm sichern Schreines gedenkend, mußte er sich sagen, daß er mehr zurückbrachte als er verloren hatte, mehr gefunden als er suchte. Und dennoch war es ihm, als riefe ihm eine Stimme zu: Nun erst beginnt dir der Ernst des Lebens und die Schranken deines Wettlaufes mit dem Schicksal öffnen sich![675]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 634-676.
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