Der Hirsch, der Hund und der Wolf

[114] Ein jeder Frommer thut, was man in Hamburg thut:

Das Gute glaubt er oft, allein das Böse selten.

Ihn lehrt der Lauf der Welt, daß Neid und Frevelmuth

Der Tugend Henker sind, und auch die Frömmsten schelten.

Sonst ist's ein bloßes Glück, wenn einen Bösewicht

Die Unschuld und das Recht, trotz seiner Kunst! beschämen.


Ein Wolf jagt' einen Hund. Der bat, aus Zuversicht,

Den Hirsch, ihn ungesäumt in seinen Schutz zu nehmen.

Der Flüchtling wird erhört; doch ihn verfolgt sein Feind,

Und spricht: Ich komm', o Hirsch, dein einzig Kalb zu rächen.

Der Schnapphan hat's erwürgt; ich sah es, ich, dein Freund,

Und den verwirkten Hals soll ihm kein andrer brechen.

Der Hund verneint die That. Er fleht, und schwört dabei:

Es sei ihm, von Natur, das Wildpret recht zuwider.

Ihm zeigt der strenge Hirsch sein fürchterlich Geweih.

Beklagter seufzt und heult, und wirft sich vor ihm nieder.[114]

Als drauf sein Kläger ihm mit neuen Zeugen droht,

Kömmt, gleich zu rechter Zeit, das Hirschkalb hergesprungen.

Den frechen Lügner trifft Verwirrung, Furcht und Tod;

Doch dieses Beispiel schreckt nur wenig Lästerzungen.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 114-115.
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