Der Zeisig

[194] Ein Zeisig, der sein Nest nur eben angelegt,

Versang an einem heitern Morgen

Den Schlaf, die Bau- und Nahrungssorgen.

Ihm wuchs sein kleines Herz, durch West und Lust erregt.

Sein Waldgesang verehrte Licht und Sonne,

Denn ihn begeisterte des schönen Himmels Wonne;

Und, wie ein Fröhlicher oft gern zu schwatzen pflegt,

So wollt' auch er sich recht beredt erweisen,

Der Lerche diesen Tag vor allen anzupreisen.

Der Mittag kömmt umwölkt. Die grauen Möwen fliehn

Mit bangem Flug, und schrein, und nähern sich dem Lande:

Allein und unglücksvoll spaziert im trocknen Sande

Die dunkle Kräh', und scharrt; Gewitter, die verziehn,

Ruft sie mit Krächzen her. Tief um das Schilfgras streichen

Die Erdschwalb' und der Spatz: der Häher sucht die Eichen,

Der Reiher hohe Luft, sein Bette Hirsch und Thier:

Mit aufgewecktem Hals schnauft der beklommne Stier:

Die Pferde treiben sich, die Ställe zu erreichen.

Schnell überwältiget ein Wirbelwind den West,

Der Hain erbebt, und heult: auf Ficht' und Tanne schossen

Verwüstend der Orcan, der Regen und die Schlossen;

Und so verlor der Zeisig auch sein Nest.

Der müde Sturm hört auf zu toben.

Der nasse Sänger hüpft zu seiner Lerche hin,

Die ihm recht zugehört, der guten Nachbarin.[194]

Zum Glück war er bei ihr ganz sicher aufgehoben.

Wißt, sprach er, daß ich schon durch Schaden klüger bin:

Man muß den schönsten Tag nicht vor dem Abend loben.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 194-195.
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