Die Verschwiegenheit der Phyllis

[254] Nein, nein, man fängt mich nicht so bald!

Ich sage keinem was ich denke.

Ich kenne schon der Schäfer Ränke,

Und bin nun sechszehn Sommer alt.

Und höre meine Schwester sagen:

Man müsse kein Geständniß wagen.


Mein Schäfer kennet mich noch nicht.

Wie wär' es, wenn ich mich verriethe?

O liebt' ich ihn, so wär' es Güte:

Und liebt' er mich, so ist es Pflicht.

Die Schäferinnen selbst bekennen,

Ich sei schon liebenswerth zu nennen.


Er stahl so manchen Kuß allhier.

Ich weiß allein die Zahl von allen:

Ihm aber ist sie halb entfallen;

Und dies Geheimniß merk' ich mir.

Doch sollt' er nicht von meinen Küssen

Nach allem Recht die Anzahl wissen?


Er nenn' es immer Gütigkeit,

Daß ich bei seinen Heerden weide.

Ich nenn' es eine Frühlingsfreude,

Und die ist keine Seltenheit.

Ja, hieß ich's mehr als ein Vergnügen,

So sag' ich's nicht und bin verschwiegen.
[254]

Ich hab' ihm jüngst ein grünes Band

Um Hut und Stab und Arm gebunden.

Wie sehr er diese Gunst empfunden,

Ist mir nicht gänzlich unbekannt.

Er aber hat es nicht erfahren,

Warum ich bat, es zu bewahren.


Um etwas, Liebe, bitt' ich dich:

Laß ihn nicht diesen Busch beschreiten.

Du möchtest ihn vielleicht begleiten:

Und, wahrlich! dann verrieth ich mich.

Doch hast du das dir vorgenommen:

So laß ihn ja nicht heute kommen.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 254-255.
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