Die Wunder der Liebe

[256] Der Liebe Macht ist allgemein,

Ihr dient ein jeder Stand auf Erden.

Es kann durch sie ein König klein,

Ein Schäfer groß und edel werden.

Tyrannen raubt sie Stolz und Wuth,

Den Helden Lust und Kraft zum Streiten;

Der Feigheit gibt sie starken Muth,

Der Falschheit wahre Zärtlichkeiten.


Der Einfalt schenkt sie den Verstand,

Den sie der Klugheit oft entwendet.

Ein Grillenfänger wird galant,

Wenn sie an ihm den Sieg vollendet.

Des strengen Alters Eigensinn

Verwandelt sie in Scherz und Lachen,

Und diese holde Lehrerin

Kann auch die Jugend altklug machen.
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Ein Spanier vergißt den Rang,

Unedlen Schönen liebzukosen:

Ein junger Franzmann den Gesang,

Den Wahn, das Selbstlob der Franzosen.

Wenn jenen Reiz und Schönheit körnt,

Entsaget er dem Hochmuthstriebe:

Und dieser seufzet und erlernt,

Die Freiheit prahle, nicht die Liebe.


Sie gibt der deutschen Männlichkeit

Die sanfte Schmeichelei beim Küssen,

Den Heiligen die Lüsternheit,

Und auch den Juden ein Gewissen.

Sie fand, so oft sie sich nur wies,

Verehrer in den besten Kennern.

Nur sie entwarf ein Paradies

Den ihr geweihten Muselmännern.


Ja! deine siegende Gewalt,

O Liebe! wird umsonst bestritten.

Dir unterwirft sich Jung und Alt

An Höfen und in Schäferhütten.

Doch meine Schöne hofft allein

Den Reizungen zu widerstehen.

O laß sie mir nur günstig sein!

Wie wirst du dich gerächet sehen!

Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 256-257.
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