Die alte und neue Liebe

[255] Ihr Heiligen der alten Zeit,

Treu', Ehrfurcht und Verschwiegenheit,

Und du, o wahre Zärtlichkeit!

Ihr lehrtet uns dem Liebreiz fröhnen.

Nun ist die Treue nur verstellt,

Und die Verschwiegenheit entfällt,

Wenn ja die Ehrfurcht Gunst erhält.

Wer liebt nicht sich in seinen Schönen?


Von seiner Phyllis ferne sein,

Ihr dennoch heiße Seufzer weihn,

Und diese Seufzer nicht bereun:

Das war die Lust des Schäferlebens.

Das Seufzen ist uns unbewußt.

Man seufzet, aber nur vor Lust,

An einer nahen Phyllis Brust,

Und seufzet da nicht leicht vergebens.


Die Fessel küssen, die man trägt,

Die uns ein Mädchen angelegt,

Das reizend Mund und Augen regt:

Das war die Kunst der ersten Zeiten.

Die Fessel und die Knechtschaft fliehn

Und, wo nur schöne Wangen blühn,

Um schöne Wangen sich bemühn:

Das nennt man jetzo Zärtlichkeiten.
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Durch mehr als jährigen Bestand

Verehren, was man artig fand,

Und unsre Treu' oft nicht erkannt:

Das war den Vätern vorgeschrieben.

Erwählen was nur Schönheit schmückt,

Genießen was uns oft entzückt,

Verlassen was uns sonst beglückt:

Das ist der Enkel Art zu lieben.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 255-256.
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