Das Glück und Melinde

[303] Aus einem Sonett des Girolamo Gigli.


Ich sahe jüngst das Glück, und durft' ihm kühnlich sagen:

Bereue deinen falschen Tand;

Dein flatterhafter Unbestand

Berechtigt alle Welt zu klagen.

Was du am Morgen kaum verliehn,

Darfst du am Abend schon entziehn.


Das Glück versetzte mir: Wie kurz ist aller Leben!

Unendlich ist der Güter Wahl,

Unendlich meiner Sklaven Zahl:

Sollt' ich nicht jedem etwas geben?

Dient, was ich einem nehmen muß,

Nicht gleich dem andern zum Genuß?


Ich wandte mich darauf zur scherzenden Melinde,

Und sprach: Dem Glück steh' alles frei!

Wenn ich nur dich, mein Kind, getreu

Und mir so hold als schön befinde,[303]

Und wenn dein Mund, der mich ergötzt,

Nur mich der Küsse würdig schätzt.


So wohl belehrt ich sie; doch gab sie ihrem Lehrer

Mit Lächeln den Bescheid zurück:

Ich bin ja reizend, wie das Glück,

Ich habe, wie das Glück, Verehrer;

Und warum sollt' ich denn allein

Dem Glück im Wechsel ungleich sein?


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 303-304.
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