Die Verleumdung

[270] Stolzer Schönen Grausamkeiten

Sind noch immer ungemein.

Auch die Spröden unsrer Zeiten

Können ewig spröde sein.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.
[270]

Unempfindlichkeit und Tugend

Sind der Doris Eigenthum;

Beide schmücken ihre Jugend

Und die Jugend ihren Ruhm.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Dieser Vorzug lautrer Ehre,

Diese Strenge, diese Zucht

Stammen aus der Mutter Lehre,

Sind nur ihres Beispiels Frucht.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Redet nicht von Scherz und Küssen,

Wo ihr Martha kommen seht:

Ihr empfindliches Gewissen

Hasset, was so weltlich steht.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Liebe kann zwar Huld erwerben;

Aber bei Mirenen nicht:

Weil sie nimmer ohn' Entfärben

Von verliebten Dingen spricht.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Sylvia wird hoch gepriesen:

Denn sie hat in kurzer Zeit

Zehn Verehrer abgewiesen,

Und den eilften hart bedräut.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Edle Freiheit, mein Vergnügen!

Singet Chloris tausendmal;

Und es ist, sie zu besiegen,

Schwerer als die Kaiserwahl.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.
[271]

Tiefgesuchte Weisheitschlüsse

Sind Elmirens Zeitvertreib.

Der Begriff gemeiner Küsse

Reizen kein gelehrtes Weib.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Iris tändelt, scherzt und singet,

Höhnt und lacht der Leidenschaft.

Was auch sonst ein Herz bezwinget,

Hat an ihrem keine Kraft.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Flavia will nichts gestatten,

Was den Schein des Paarens hat;

Und sie zürnt auf ihren Schatten,

Weil er ihr zu sehr sich naht.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


O die Welt kömmt auf die Neige!

Auch der Unschuld schont man nicht:

Weil der Unschuld oft ein Zeuge

Ihrer Lauterkeit gebricht.

Dennoch sagt und glaubet man,

Daß man sie erbitten kann.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 270-272.
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