6.

Die Falschheit menschlicher Tugenden

[60] An den Herrn Prof. Stähelin.


1730.


Der Ursprung dieses Gedichtes ist demjenigen gleich, der das fünfte veranlasst hat. Es ist auch eben in einer Krankheit gemacht worden, die mich eine Zeit lang von andern Arbeiten abhielt. Der Grund-Riß ist deutlicher, aber die Verse schwächer.


Geschminkte Tugenden, die ich zu lang erhob,

Scheint nur dem Pöbel schön und sucht der Thoren Lob!

Bedeckt schon euer nichts die Larve der Geberden,

Ich will ein Menschen-Feind, ein Swift, ein Hobbes werden[61]

Und bis ins Heiligthum, wo diese Götzen stehn,

Die Wahn und Tand bewacht, mit frechen Schritten gehn!


Ihr füllt, o Sterbliche! den Himmel fast mit Helden;

Doch lasst die Wahrheit nur von ihren Thaten melden!

Vor ihrem reinen Licht erblasst der falsche Schein,

Und wo ein Held sonst stund, wird itzt ein Sklave sein.


Wann Völker einen Mann sich einst zum Abgott wählen,

Da wird kein Laster sein und keine Tugend fehlen;

Die Nachwelt bildet ihn der Gottheit Muster nach

Und gräbt in Marmorstein, was er im Scherze sprach.

Umsonst wird wider ihn sein eigen Leben sprechen,

Die Fehler werden schön und Tugend strahlt aus Schwächen.

Zwar viele haben auch den frechen Leib gezähmt,

Und mancher hat sich gar ein Mensch zu sein geschämt:

Ein frommer Simeon wurd alt auf einer Säule,1

Sah auf die Welt herab und that was kaum die Eule;

Ein Caloyer verscherzt der Menschen Eigenthum,2

Verbannt sein klügstes Glied und wird aus Andacht stumm;

Assisens Engel löscht im Schnee die wilde Hitze,3

Sein heißer Eifer tilgt, bis in der Geilheit Sitze,[62]

Des Uebels Werkzeug aus, und was auf jedem Blatt

Für Thaten Surius mit roth bezeichnet hat.4

Allein was hilft es doch, sich aus der Welt verbannen?

Umsonst, o Stähelin! wird man sich zum Tyrannen,

Wann Laster, die man hasst, vor größern Lastern fliehn,

Und wo man Mohn getilgt, itzt Lölch und Drespe blühn.

Wir achten oft uns frei, wann wir nur Meister ändern,

Wir schelten auf den Geiz und werden zu Verschwendern.

Der Mensch entflieht sich nicht; umsonst erhebt er sich,

Des Körpers schwere Last zieht an ihm innerlich;

So, wann der rege Trieb in halb-bestrahlten Sternen

Von ihrem Mittel-Punkt sie zwingt sich zu entfernen,

Ruft sie von ihrer Flucht ein ewig starker Zug

Ins enge Gleis zurück und hemmt den frechen Flug.


Geht Menschen, schnitzt nur selbst an euren Götzen-Bildern,

Lasst Gunst und Vorurtheil sie nach belieben schildern,

Erzählt was sie vollbracht und was sie nicht gethan,

Und was nur Ruhm verdient, das rechnet ihnen an:

Das Laster kennet sich auch in der Tugend Farben,

Wo Wunden zugeheilt, erkennt man doch die Narben.

Wo ist er? zeiget ihn, der Held, der Menschheit Pracht,

Den die Natur nicht kennt und euer Hirn gemacht?

Wo sind die Heiligen von unbeflecktem Leben,[63]

Die Gott den Sterblichen zum Muster dargegeben?

Viel Menschheit hänget noch den Kirchen-Engeln an,

Die Aberglaube deckt, Vernunft nicht dulden kann!

Traut nicht dem schlauen Blick, den demuthsvollen Minen!

Den Dienern aller Welt soll doch die Erde dienen.

War nicht ein Priester stäts des Eigensinnes Bild,

Der Götter-Sprüche redt und, wenn er fleht, befiehlt?

Trennt nicht die Kirche selbst sich über dem Kalender?

Des Abends Heiliger verbannt die Morgenländer,

Lässt Infuln im Gefecht des Gegners Infuln dräun5

Und dringt auf Märterer mit Märtrern feindlich ein.

Den Bann vom Niedergang zerblitzt der Bann aus Norden,6

Die Kirche, Gottes Sitz, ist oft ein Kampfplatz worden,

Wo Bosheit und Gewalt Vernunft und Gott vertrieb

Und mit der Schwächern Blut des Zweispalts Urtheil schrieb.

Grausamer Wüterich, verfluchter Ketzer-Eifer!

Dich zeugte nicht die Höll aus Cerbers gelbem Geifer,

Nein, Heilge zeugten dich, du gährst in Priester-Blut,

Sie lehren nichts als Lieb und zeigen nichts als Wuth.[64]

Seitdem ein Pabst geherrscht und sich ein Mensch vergöttert,

Hat nicht der Priester Zorn, was ihm nicht wich, zerschmettert?7

Wer hat Tolosens Schutt in seinem Blut ersäuft

Und Priestern einen Thron von Leichen aufgehäuft?

Den Blitz hat Dominic auf Albis Fürst erbeten8

Und selbst mit Montforts Fuß der Ketzer Haupt ertreten.


Doch tadl ich nur vielleicht und bin aus Vorsatz hart,

Und die Vollkommenheit ist nicht der Menschen Art:

Genug, wann Fehler sich mit größrer Tugend decken;

Die Sonne zeugt das Licht und hat doch selber Flecken.


Allein, wie, wann auch das, was ihren Ruhm erhöht,

Der Helden schöner Theil durch falschen Schein besteht?

Wann der Verehrer Lob sich selbst auf Schwachheit gründet

Und, wo der Held soll sein, man noch den Menschen findet?

Stützt ihren Tempel schon der Beifall aller Welt,

Die Wahrheit stürzt den Bau, den eitler Wahn erhält.


Wie gut und böses sich durch enge Schranken trennen,

Was wahre Tugend ist, wird nie der Pöbel kennen.[65]

Kaum Weise sehn die March, die beide Reiche schließt,

Weil ihre Gränze schwimmt und in einander fließt.

Wie an dem bunten Taft, auf dem sich Licht und Schatten,

So oft er sich bewegt, in andre Farben gatten,

Das Auge sich misskennt, sich selber niemals traut

Und bald das rothe blau, bald roth, was blau war, schaut,

So irrt das Urtheil oft. Wo findet sich der Weise,

Der nie die Tugend haß und nie das Laster preise?

Der Sachen lange Reih, der Umstand, Zweck und Grund

Bestimmt der Thaten Werth und macht ihr Wesen kund.

Der grösten Siege Glanz kann Eitelkeit zernichten;

Der Zeiten Unbestand verändert unsre Pflichten,

Was heute rühmlich war, dient morgen uns zur Schmach,

Ein Thor sagt lächerlich, was Cato weislich sprach.

Dieß weiß der Pöbel nicht, er wird es nimmer lernen,

Die Schale hält ihn auf, er kömmt nicht zu den Kernen;

Er kennet von der Welt, was außen sich bewegt,

Und nicht die innre Kraft, die heimlich alles regt.

Sein Urtheil baut auf Wahn, es ändert jede Stunde,

Er sieht durch andrer Aug und spricht aus fremdem Munde.

Wie ein gefärbtes Glas, wodurch die Sonne strahlt,

Des Auges Urtheil täuscht und sich in allem malt,

So thut die Einbildung; sie zeigt uns, was geschiehet,

Nicht, wie es wirklich ist, nur so, wie sie es stehet,

Legt den Begriffen selbst ihr eigen Wesen bei,

Heißt gleissen Frömmigkeit und Andacht Heuchelei.

Ja selbst des Vaters Wahn kann nicht mit ihm versterben,

Er lässt mit seinem Gut sein Vorurtheil den Erben;

Verehrung, Haß und Gunst flößt mit der Milch sich ein,

Des Ahnen Aberwitz wird auch des Enkels sein.

So richtet alle Welt, so theilt man Schmach und Ehre,

Und dann, o Stähelin, nimm ihren Wahn zur Lehre![66]

Durch den erstaunten Ost geht Xaviers Wunder-Lauf,

Stürzt Nipons Götzen um, und seine stellt er auf;

Bis daß, dem Amida noch Opfer zu erhalten,

Die frechen Bonzier des Heilgen Haupt zerspalten:

Er stirbt, sein Glaube lebt und unterbaut den Staat,

Der ihn aus Gnade nährt, mit Aufruhr und Verrath.

Zuletzt erwacht der Fürst und lässt zu nassen Flammen9

Die Feinde seines Reichs mit spätem Zorn verdammen;

Die meisten tauschen Gott um Leben, Gold und Ruh,

Ein Mann von tausenden schließt kühn die Augen zu;

Stürzt sich in die Gefahr, geht muthig in den Ketten,

Steift den gesetzten Sinn und stirbt zuletzt im beten.

Sein Name wird noch blühn, wann, lange schon verweht,

Des Märtrers Asche sich in Wirbel-Winden dreht;

Europa stellt sein Bild auf schimmernde Altäre

Und mehrt mit ihm getrost der Seraphinen Heere.

Wann aber ein Huron im tiefen Schnee verirrt,

Bei Erries langem See zum Raub der Feinde wird,10[67]

Wann dort sein Holz-Stoß glimmt und, satt mit ihm zu leben,

Des Weibes tödtlich Wort sein Unheil ihm gegeben,

Wie stellt sich der Barbar? wie grüßt er seinen Tod?

Er singt, wann man ihn quält, er lacht, wann man ihm droht;

Der unbewegte Sinn erliegt in keinen Schmerzen,

Die Flamme, die ihn sengt, dient ihm zum Ruhm und scherzen.

Wer stirbt hier würdiger? ein gleicher Helden-Muth

Bestrahlet beider Tod und wallt in beider Blut;

Doch Tempel und Altar bezahlt des Märtrers Wunde,

Canadas nackter Held stirbt von dem Tod der Hunde!

So viel liegt dann daran, daß, wer zum Tode geht,

Geweihte Worte spricht, wovon er nichts versteht.

Doch nein, der Outchipoue thut mehr als der Bekehrte,11

Des Todes Ursach ist das Maaß von seinem Werthe.

Den Märtrer trifft der Lohn von seiner Uebelthat;

Wer seines Staats Gesetz mit frechen Füßen trat,

Des Landes Ruh gestört, den Gottesdienst entweihet,

Dem Kaiser frech geflucht, der Aufruhr Saat gestreuet,

Stirbt, weil er sterben soll; und ist dann der ein Held,

Der am verdienten Strick noch prahlt im Galgen-Feld?

Der aber, der am Pfahl der wilden Onontagen12

Den unerschrocknen Geist bläst aus in tausend Plagen,[68]

Stirbt, weil sein Feind ihn würgt, und nicht für seine Schuld,

Und in der Unschuld nur verehr ich die Geduld!


Wann dort ein Büßender, zerknirscht in heilgen Wehen,

Die Sünden, die er that, und die er wird begehen,

Mit scharfen Geiseln straft, mit Blut die Stricke malt

Und vor dem ganzen Volk mit seinen Streichen prahlt:

Da ruft man Wunder aus, die Nachwelt wird noch sagen,

Was Lust er sich versagt, was Schmerzen er vertragen.

Wie aber, wann im Ost der reinliche Brachmann

Mit Koth die Speisen würzt und Wochen fasten kann?

Wann Ströme seines Bluts aus breiten Wunden fließen,

Die seine Reu gemacht, und oft der Tod muß büßen,

Was Rom um Geld erlässt, wann nackt und unbewegt,

Er Jahre lang den Strahl der hohen Sonne trägt

Und den gestrupften Arm lässt ausgestreckt erstarren?

Wie heißen wir den Mann? Betrüger oder Narren!


Wann in Iberien ein ewiges Gelübd

Mit Ketten von Demant ein armes Kind umgibt,

Wann die geweihte Braut ihr Schwanen-Lied gesungen

Und die gerühmte Zell die Beute nun verschlungen,[69]

Wie jauchzet nicht das Volk und ruft, was rufen kann:13

Das Weib hört auf zu sein, der Engel fängt schon an!

Ja stoßt, es ist es werth, in prahlende Trompeten,

Verbergt der Tempel Wand mit persischen Tapeten,

Euch ist ein Glück geschehn, dergleichen nie geschah,

Die Welt verjüngt sich schon, die güldne Zeit ist nah!

Gesetzt, daß ungefühlt in ihr die Jugend blühet

Und nur der Andacht Brand in ihren Adern glühet;

Daß kein verstohlner Blick in die verlassne Welt

Mit sehnender Begier zu spät zurücke fällt;

Daß immer die Vernunft der Sinnen Feuer kühlet

Und nur ihr eigner Arm die reine Brust befühlet;

Gesetzt, was niemals war, daß Tugend wird aus Zwang:

Was jauchzt das eitle Volk? wen rühmt sein Lobgesang?

Doch wohl, daß List und Geiz des Schöpfers Zweck verdrungen,

Was er zum lieben schuf, zur Wittwenschaft gezwungen,

Den vielleicht edlen Stamm, den er ihr zugedacht,

Noch in der Blüth erstickt und Helden umgebracht;

Daß ein verführtes Kind in dem erwählten Orden

Sich selbst zur Ueberlast und andern unnütz worden!

O ihr, die die Natur auf bessre Wege weist,

Was heißt der Himmel dann, wann er nicht lieben heißt?

Ist ein Gesetz gerecht, das die Natur verdammet?

Und ist der Brand nicht rein, wann sie uns selbst entflammet?

Was soll der zarte Leib, der Glieder holde Pracht?

Ist alles nicht für uns und wir für sie gemacht?

Den Reiz, der Weise zwingt, dem nichts kann widerstreben,[70]

Der Schönheit ewig Recht, wer hat es ihr gegeben?

Des Himmels erst Gebot hat keusche Huld geweiht,

Und seines Zornes Pfand war die Unfruchtbarkeit:

Sind dann die Tugenden den Tugenden entgegen?

Der alten Kirche Fluch wird bei der neuen Segen.


»Fort, die Trompete schallt! der Feind bedeckt das Feld,

Der Sieg ist, wo ich geh, folgt, Brüder!« ruft ein Held.

Nicht furchtsam, wann vom Blitz aus schmetternden Metallen

Ein breit Gefild erbebt und ganze Glieder fallen,

Er steht, wann wider ihn das strenge Schicksal ficht,

Fällt schon der Leib durchbohrt, so fällt der Held noch nicht.

Er schätzt ein tödtlich Blei als wie ein Freudenschießen,

Sein Auge sieht gleich frei sein Blut und fremdes fließen;

Der Tod lähmt schon sein Herz, eh daß sein Muth erliegt,

Er stirbet allzu gern, wann er im sterben siegt.

O Held, dein Muth ist groß, es soll, was du gewesen,

Auf ewigem Porphyr die letzte Nachwelt lesen!

Allein, wann auf dem Harz, nun lang genug gequält,

Ein aufgebrachtes Schwein zuletzt den Tod erwählt,

Die dicken Borsten sträubt, die starken Waffen wetzet

Und wüthend übern Schwarm entbauchter Hunde setzet,

Oft endlich noch am Spieß, der ihm sein Herz-Blut trinkt,

Den kühnen Feind zerfleischt und, satt von Rache, sinkt:

Ist hier kein Helden-Muth? wer baut dem Hauer Säulen? –

Die Jäger werden ihn mit ihren Hunden theilen.


Wer ist der weise Mann, der dort so einsam denkt

Und den verscheuten Blick zur Erde furchtsam senkt?[71]

Ein längst verschlissen Tuch umhüllt die rauhen Lenden,

Ein Stück gebettelt Brod und Wasser aus den Händen

Ist alles, was er wünscht, und Armuth sein Gewinn;

Er ist nicht für die Welt, die Welt ist nichts für ihn.

Nie hat ein glänzend Erzt ihm einen Blick entzogen,

Nie hat den gleichen Sinn ein Unfall überwogen,

Ihm wischt kein schönes Bild die Runzeln vom Gesicht,

An seinen Thaten beißt der Zahn der Missgunst nicht;

Sein Sinn, versenkt in Gott, kann nicht nach Erde trachten,

Er kennt sein eigen nichts, was soll er andrer achten?

Der Tugend ernste Pflicht ist ihm ein Zeitvertreib,

Der Himmel hat den Sinn, die Erde nur den Leib.

O Heiliger, geht schon dein Ruhm bis an die Sterne,

Flieh den Diogenes und fürchte die Laterne! –

Ach, kennte doch die Welt das Herz so wie den Mund!

Wie wenig gleichen oft die Thaten ihrem Grund!

Du beugst den Hals umsonst, die Ehre, die du meidest,

Die Ehr ist doch der Gott, für den du alles leidest:14

Wie Surena den Sieg, suchst du den Ruhm im fliehn,

Ein stärker Laster heißt dich, schwächern dich entziehn,

Und wer sich vorgesetzt, ein Halbgott einst zu werden,

Der baut ins künftige, der hat nichts mehr auf Erden,

Ihm streicht der eitle Ruhm der Tugend Farben an,

Was heischt der Himmel selbst, das nicht ein Heuchler kann?


Versenkt im tiefen Traum nachforschender Gedanken,

Schwingt ein erhabner Geist sich aus der Menschheit Schranken.[72]

Seht den verwirrten Blick, der stets abwesend ist

Und vielleicht itzt den Raum von andern Welten misst;

Sein stäts gespannter Sinn verzehrt der Jahre Blüthe,

Schlaf, Ruh und Wollust fliehn sein himmlisches Gemüthe.15

Wie durch unendlicher verborgner Zahlen Reih

Ein krumm geflochtner Zug gerecht zu messen sei;

Warum die Sterne sich an eigne Gleise halten;

Wie bunte Farben sich aus lichten Strahlen spalten;

Was für ein innrer Trieb der Welten Wirbel dreht;

Was für ein Zug das Meer zu gleichen Stunden bläht;

Das alles weiß er schon: er füllt die Welt mit Klarheit,

Er ist ein stäter Quell von unerkannter Wahrheit.

Doch, ach, es lischt in ihm des Lebens kurzer Tacht,

Den Müh und scharfer Witz zu heftig angefacht!

Er stirbt, von wissen satt, und einst wird in den Sternen

Ein Kenner der Natur des Weisen Namen lernen.

Erscheine, großer Geist, wann in dem tiefen nichts

Der Welt Begriff dir bleibt und die Begier des Lichts,

Und laß von deinem Witz, den hundert Völker ehren,

Mein lehr-begierig Ohr die letzten Proben hören!

Wie unterscheidest du die Wahrheit und den Traum?

Wie trennt im Wesen sich das feste von dem Raum?

Der Körper rauhen Stoff, wer schränkt ihn in Gestalten,

Die stäts verändert sind und doch sich stäts erhalten?

Den Zug, der alles senkt, den Trieb, der alles dehnt,

Den Reiz in dem Magnet, wonach sich Eisen sehnt,

Des Lichtes schnelle Fahrt, die Erbschaft der Bewegung,

Der Theilchen ewig Band, die Quelle neuer Regung,

Dieß lehre, großer Geist, die schwache Sterblichkeit,

Worin dir niemand gleicht und alles dich bereut![73]

Doch suche nur im Riß von künstlichen Figuren,

Beim Licht der Ziffer-Kunst, der Wahrheit dunkle Spuren;

Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist,

Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weist?

Du hast nach reifer Müh und nach durchwachten Jahren

Erst selbst, wie viel uns fehlt, wie nichts du weist, erfahren!

»Die Welt, die Cäsarn dient, ist meiner nicht mehr werth,«

Ruft seines Romes Geist und stürzt sich in sein Schwert.

Nie hat den festen Sinn das Ansehn großer Bürger,

Der Glanz von theurem Erzt, der Dolch erkaufter Würger,

Von seines Landes Wohl, vom bessern Theil getrannt:

In ihm hat Rom gelebt, er war das Vaterland.

Sein Sinn war ohne Lust, sein Herz war sonder Schrecken,

Sein Leben ohne Schuld, sein Nachruhm ohne Flecken,

In ihm verneute sich der alte Helden-Muth,

Der alles für sein Land, nichts für sich selber thut;

Ihn daurte nie die Wahl, wann Recht und Glücke kriegten,

Den Cäsar schützt das Glück und Cato die Besiegten.

Doch fällt vielleicht auch hier die Tugend-Larve hin,

Und seine Großmuth ist ein stolzer Eigensinn,

Der nie in fremdem Joch den steifen Nacken schmieget,

Dem Schicksal selber trotzt und eher bricht als bieget;[74]

Ein Sinn, dem nichts gefällt, den keine Sanftmuth kühlt,

Der sich selbst alles ist und niemals noch gefühlt.


Wie? hat dann aus dem Sinn der Menschen ganz verdrungen,

Die scheue Tugend sich den Sternen zugeschwungen?

Verlässt des Himmels Aug ein schuldiges Geschlecht?

Von so viel tausenden ist dann nicht einer ächt?

Nein, nein, der Himmel kann, was er erschuf, nicht hassen;

Er wird der Güte Werk dem Zorn nicht überlassen:

So vieler Weisen Wunsch, der Zweck so vieler Müh,

Die Tugend, wohnt in uns und niemand kennet sie.

Des Himmels schönstes Kind, die immer gleiche Tugend,

Blüht in der holden Pracht der angenehmsten Jugend;

Kein finstrer Blick umwölkt der Augen heiter Licht,

Und wer die Tugend hasst, der kennt die Tugend nicht.

Sie ist kein Wahl-Gesetz, das uns die Weisen lehren,

Sie ist des Himmels Ruf, den reine Herzen hören;

Ihr innerlich Gefühl beurtheilt jede That,

Warnt, billigt, mahnet, wehrt und ist der Seele Rath.

Wer ihrem Winke folgt, wird niemals unrecht wählen,

Er wird der Tugend nie, noch ihm Vergnügen fehlen;

Nie stört sein Gleichgewicht der Sinne gäher Sturm,

Nie untergräbt sein Herz bereuter Laster Wurm;

Er wird kein scheinbar Glück um würklichs Elend kaufen

Und nie durch kurze Lust in langes Unglück laufen;

Ihm ist Gold, Ruhm und Lust wie bei des Obsts Genuß,

Gesund bei kluger Maaß, ein Gift beim Ueberfluß.[75]

Der Menschen letzte Furcht wird niemals ihn entfärben,

Er hätte gern gelebt und wird nicht ungern sterben.


Von dir, selbst-ständigs Gut, unendlichs Gnaden-Meer,

Kommt dieser innre Zug, wie alles gute, her!

Das Herz folgt unbewusst der Würkung deiner Liebe,

Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe;

Unfruchtbar von Natur, bringt es auf den Altar

Die Frucht, die von dir selbst in uns gepflanzet war.

Was von dir stammt ist ächt und wird vor dir bestehen

Wann falsche Tugend wird, wie Blei im Test, vergehen

Und dort für manche That, die itzt auf äußern Schein

Die Welt mit Opfern zahlt, der Lohn wird Strafe sein!

1

Simeon Stylites, dessen wunderlichen vieljährigen Aufenthalt auf einer Säule der Aberglaube als etwas großes angesehen hat. Die Absicht des Mannes mag gut gewesen sein, aber sie streitet sowohl wider das Exempel der Apostel als wider ihr Gebot.

2

Griechische Priester, die oft aus einem Gelübde das Reden verschwören.

3

Franciscus von Assisio, der Bilder aus Schnee ballte und umarmte.

4

Einer von den Beschreibern der fabelhaften Leben römischer Heiligen.

5

Adversas aquilas et pila minantia pilis.

6

Pabst Victor hatte mit den asiatischen Kirchen einen Streit wegen des Oster-Fests. Wegen seines ärgerlichen Verbannens aber ließ Irenäus von Lion einen scharfen Brief an den römischen Bischof abgehen, worin er ihm mehrere Mäßigung anbefahl. Es geht übrigens die ganze Absicht dieses jugendlichen Eifers bloß auf die hitzigen Heiligen der verfolgenden Kirche und zielt auf die protestantische Geistlichkeit um so weniger, je gewisser es ist, daß sie ihr Ansehen und ihre Vorzüge bei der Glaubens-Verbesserung nicht nur willig, sondern aus eigenem Trieb und ohne der Laien Zumuthen nur allzu freigiebig von sich gegeben hat.

7

Hier mangeln etliche Zeilen, worin die allzu große Heftigkeit Justinians und anderer orientalischen Kaiser wider die Heiden, Arianer und andre Irrgläubige getadelt wird, und die eben nicht poetisch sind.

8

Die Geschichte der unterdrückten Albigenser und des unrechtmäßig seiner Lande entsetzten Raimunds von Toulouse wird jedermann bekannt sein.

9

Die gröste Pein, die man den Christen anthat, war eine überaus heiße Quelle, in welche man die Märtyrer so oft hinunter ließ, bis sie starben oder den Glauben verleugneten. Man muß im übrigen diese unwissenden Märtyrer einer nur halb dem Christenthume ähnlichen Lehre nicht mit den Blutzeugen Christi verwechseln.

10

Ein See, an dem die Irocker wohnen, der Huronen Erbfeinde.

11

Das tapferste der Nord-Amerikanischen Völker (La Hontan). Man giebt dem Gefangenen ein Weib von irgend einem Erschlagenen. Will sie ihn behalten, so ist öfters sein Leben gerettet, und er wird sogar unter das sieghafte Volk aufgenommen. Verurtheilt sie ihn zum Tode, so ists um ihn geschehen, und sie ist die erste, an seinen zerfleischten Glidern sich zu sättigen.

12

Eines der fünf Völker der Mohocks oder Iroquois. Ich rede nur von den Märtyrern einer mächtigen Kirche, die allerdings öfters mit einem unerschrockenen Muth die angenommene Lehre mit ihrem Tode versiegelt haben. Die gleichen Märtyrer aber, und zwar hauptsächlich in einem bekannten Orden, haben gegen die Protestanten solche unverantwortliche Maßregeln gerathen, gebraucht und gelehrt, daß es unmöglich ist, zu glauben, der Gott der Liebe brauche Menschen von solchen Grundsätzen zu Zeugen der Wahrheit. Das erste, was er befiehlt, ist Liebe. Das erste, was diese Leute lehren, ist Haß, Strafe, Mord, Inquisition, Bartholomäustage, Dragoner, Clements, Castelle und Ravaillake.

13

Worte des heiligen Hieronymi.

14

Feld-Herr der Parthen, wie sie das römische Heer unter dem unglücklichen Crassus schlugen.

15

Newton hat keine Weibsperson berührt.

Quelle:
Albrecht von Haller: Gedichte, Frauenfeld 1882, S. 60-76.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch Schweizerischer Gedichte
Versuch schweizerischer Gedichte: Nachdruck der elften vermehrten und verbesserten Auflage Bern 1777

Buchempfehlung

Haffner, Carl

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus ist eine berühmtesten Operetten von Johann Strauß, sie wird regelmäßig an großen internationalen Opernhäusern inszeniert. Der eingängig ironische Ton des Librettos von Carl Haffner hat großen Anteil an dem bis heute währenden Erfolg.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon