Winterlied/ Zu dem ersten Monat deß Jenners

[9] Nach der Stimme: Frisch auf mein Seel/ verzage nicht/ Gott wil sich dein erbarmen.


Psalm 74. v. 17. Sommer und Winter machest du/Herr!


1

Wir leben in der neuen Zeit/

die alls mit Schnee bedecket:

es trägt das Feld ein graues Kleid/

das Krafft und Safft erstecket.

Frost/ Kält und Eiß

macht alles weiß/

der Regen wird zu Schrollen.

Es ligt zu Feld

die harte Kält;

der Reiff wird gleich der Wollen.


2

Was bringt/ ja vielmehr nimmt uns nicht

der Janus weg für Gaben?

Mit dem gezweyten Angesicht

kan er nichts sonders haben.

Doch wird gesucht

der Dörner Frucht:

Die Hiefen1/ gleich Korallen/

bringt nun heran

der arme Mann/

dem Reichen zu Gefallen.[10]


3

Obgleich der guldne Sonnen-Strahl

entfernet abgewichen/

ist doch der kalten Nächte Zahl

mehlich herbey geschlichen:

Der Wassermann

hebt wieder an/

die Täge zu ersetzen/

indem sich hat

das Sonnen-Rad

gewendt/ uns zu ergetzen.


4

Was bildet diese Winterszeit?

Anfechtung/ Angst und Leiden.

Doch ist der Hoffnungs-Trost nicht weit/

der niemals pflegt zu scheiden.

Es wird der Lentz

auch dieser Grentz

der Schwalben Bottschaft senden.

Die Heroldin

sagt: Wart dorthin/

es wird sich alles enden.


5

Inzwischen traget nur Gedult:

thut Buß in Staub und Aschen.

Wir wollen uns/ durch Gottes Huld/[12]

schneeweiß und reinlich waschen.

Die rohte Sünd

acht sich geschwind

wie zärtlich reine Wollen.

Das Hertz wird neu/

durch wahre Reu/

die wir ergreiffen sollen.


6

Wir dancken dir Gott allezeit/

der du stets ob uns wachest;

der du die frühe Sommer-Freud

und auch den Winter machest.

Du ruffst dem Schnee/

und ruffst dem Klee;

alls muß nach Ordnung gehen:

So hört nicht auf

der Wechsel-Lauff/


weil diese Welt wird stehen!

Fußnoten

1 Allhier bey uns ist bräuchlich/ daß arme Leute/ am Neuen Jahrtage/ für den Thüren herüm gehen/ und ruffen/ und zugleich überreichen: Drey Hiefen zum Neuen Jahr. (Hiefe = Hagebutte)


Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Christliche Welt- und Zeitbetrachtungen. München 1962, S. 9-13.
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