Sehnsucht nach dem Kreuze

[54] Wann die übermüde Nacht

Alle Menschen ruhen macht,

Schau' ich im versüßten Traum,

Als ob mich voll Freud' und Wonne

Flügel gleich der Morgensonne

Führten an des Kreuzes Baum,

Und mich machet mein Verlangen

Nagelfest am Kreuze hangen.


Mein erhobnes Angesicht

Ist zur Dornenkron' gericht',

Meine Thränen allzumal

Wollen durch die Wolken wallen,

Und doch auf die Erden fallen

In des Herzens Schmerzenqual.

Also machet mein Verlangen

Mich fest an dem Kreuze hangen.[55]


Alles, was der Welt beliebt,

Meinen Muth und Sinn betrübt;

Denn mein Aug' ist stets gericht'

Zu ihm, der für mich gestorben;

Der das Leben hat erworben,

Kömmt mir aus dem Sinne nicht.

Also machet mein Verlangen

Mich mit ihm am Kreuze hangen.


Quelle:
Auserlesene Gedichte von Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken, Andreas Scultetus, Justus Georg Schottel, Adam Olearius und Johann Scheffler, Leipzig 1826, S. 54-56.
Lizenz:
Kategorien: