(IX.)
Das ungeratne Wahlkind.

[40] Filium adoptivum nennen wir ein Wahlkind / welches erwehlet und angenommen worden / an Kindesstatt auferziehen. Etliche nennen solche einen anerwünschten Sohn / nach dem Lateinischen. Ob nun wol solche Wahl mehrmals blind / und dergleichen Kinder in ihrer zarten Jugend auß andern Ursachen fälschlich eingeschleicht werden / so bleibt es doch darbey / daß solche von Gott erwehlet scheinen / von diesen oder jenen erhalten und ernehret zu werden. Also fürchtete Abraham / er werde seines Dieners Eleazars Sohn zu seinem Erben wehlen müssen / in Ermanglung andrer von heiligen Saamen gebornen Kinder. Man möchte aber sagen / daß keine Wahl in dem / das nur allein ist / wie jener Sohn zu seinem Vatter gesagt / als ihnen zwey Eyer aufgetragen worden / und er eines davon genommen: Wehlet mein Vatter. Der Vatter aber geantwortet / was soll ich wehlen / da nur eines von den Eyern noch übrig. Der Sohn versetzte: solches zu nehmen oder nicht. Weil nun die folgende Erzehlung mit vorhergehender eine Vergleichung / als welche beede von den Wahlkinder handlen / wollen wir uns solches Worts / mit Goldast dem Pflegvatter der Teutschen Sprache / gebrauchen / und zu anderer mehr verständigen Nachsinnen gestellet seyn lassen / wie etwann / die mit[40] einen bessern Wort zu nennen / so man an Kindsstatt annimmet.

2. Boldo / ein Venetianischer Edelmann / hatte sich durch seine wolgelaiste Dienste so belobt gemacht / daß er von vollem Raht das Königreich Candia zu regieren benennet worden. Es war ein alter Mann von 50. Jahren / und hätte sich aus dieser Bedienung gerne gewunden / doch wegen der Gesetze / deß beschwerlichen Ambts / wie zuvor andrer angenehmerern / nicht entbrechen können.

3. Dieser Boldo hatte eine Gemahlin / Namens Eufemia / welche damals auf schweren Fuß nicht zurucke bleiben wollen / unterwegs aber vor Ungemach deß Meers so sehr erkranckt / daß sie zu Cephalonia anländen / und eine Zeit alldar still liegen müssen / biß Eufemia genesen / und eine junge Tochter auf die Welt gebracht / die ihre Mutter aus der Welt gleichsam gejaget / daß man sie nach wenig Tagen zu Grabe tragen müssen.

4. Damit nun dieses Kindlein nicht mit verderben möchte / wurd ihm eine Seugamme und Warterin / von Zanto bürtig / bestellet / Namens Gregoria / deren Mann einen Soldaten gegeben / und sein Handwerck verlassen hätte. Es ist bewust / daß die Soldaten / wie die Fische nit leichtlich wider aus der Reussen entkommen / wann sie sich einmals fangen lassen: also war ihr Mann in einer Besatzung / und ob er zwar frey zu werden trachtete / hat er doch den Schlüssel zu seiner Gefängniß / mit Fug und Ehren nicht finden mögen; diesem nach verhoffte Gregoria / durch Boldo / Mittel zu finden / Priscian ihren Mann loß zu würcken / und liesse sich bestellen zu der Pflege und Wartung Alexandrinæ seines Töchterleins: schiffte also mit dem Venetianischen Edelmann und ihrem Töchterlein / Prisca genant / auf Candia zu / dessen Stadthalter Boldo seyn musste.

5. Nach wenig Wochen sturbe Prisca / der Gregoria Tochter / vielleicht weil es zu bald entwehnet worden / und versorgte sie die kleine Alexandrinam mit mütterlicher Liebsneigung und Leibsnahrung / daß Boldo darüber ein vätterliches[41] Wolgefallen / und nach Art der Venerischen Venetianer gegen dieser Gregoria brünstig entzündet wurde / als welche ihm viel schöner von der Natur gezieret zu seyn bedunckte / als die geschminckten Angesichter / so er in der grossen Lust-Stadt hinterlassen. Gregoria aber wolte keines wegs dieses Alten Thorheit Gehör geben / und als ein Eheweib mit der Sünde eines so schändlichen Ehebruchs / ihr Gewissen beschweren.

6. Nachdem nun Boldo nit erlangen kan / was er wil / bedraut er Gregoriam mit Gewalt / daß sie zwar bessere Wort außgeben muß / inzwischen aber zu entfliehen Gelegenheit sucht. Die Liebe / welche sie zu Alexandrina und ihrer selbst eigenen Ehre getragen / erregten einen grossen Streit in ihr / und weil sie noch diese noch jene lassen wil / miedet sie eine Fregata / oder Jagtschiff / und segelt mit gutem Wind nach Zanto / sich alldar mit ihrem hertzlieben Raub / der kleinen Alexandrina zu verbergen.

7. Boldo schicket nach Cephalonia / Gregoriam zu suchen / sie war aber nicht zu betreiten / und wie die kleinen Vögel ein kleines Nest vonnöthen haben / schwerlich zu finden und leichtlich zu bergen; also kan man geringe Leutlein nicht wol erkundschafften. Wegen seiner Tochter liesse sich der alte Venetianer auch trösten / weil ihme solche mehr Beschwerniß / als Freude verursachte / und hette er darfür einen Sohn und Erben seiner Güter gewünschet. Die Liebe / welche er zu Gregoria getragen / war gleich einem Irrwisch / dessen Liecht bald verlasche / und hiesse es recht / aus den Augen und aus dem Sinn; Zu dem ist Candia oder Cypern an den Venus Bildern so wol versehen / daß er den Durst bey andren Quellen leschen können.

8. Nachdem Boldo seine Zeit zu Candia erstanden / kehret er wieder nach Venedig / und weil er nicht sonder Weiber leben konte / heuratet er Emiliam / eine edle Jungfrau / seinem Stand und Herkommen gemäß. In dem überfluß aller Behäglichkeit ermangelte diesen Eheleuten ein Erb männliches[42] Geschlechts / und musste Boldo befürchten / daß seine Güter seinen Seiten Freunden / denen er nit gar hold / zu theil werden möchten. Emilia erwünschte nit weniger den Haußsegen / als ihr Alter / und verhoffte vermittelst solcher Frucht die Benutzung einer reichen Verlassenschafft.

9. In dem fügte sich / daß Boldo von dem Edlen Raht zu Venedig in Friul verschicket wird / bevor seinem Abraisen stellet sich Emilia / als ob sie schwanger were / fället in eine Ohnmacht nach der andern / und machet Boldo glauben / was sie aus vorbesagten Ursachen erdichtet hatte. Boldo hatte Eufemiam auf dem Meer verlohren / und wolte nun Emiliam nit in gleiche Gefahr setzen / hinterlässet sie deßwegen zu Venedig / und vertrauet sie einer alten Warterin / welche ihr nach Verlauff sieben Monden / einen Knaben aus dem Findelhauß zubringet / und nennet ihn Cassan / nach dem Namen eines berühmten Heiligen zu Venedig.

10. Boldo erfreuet sich nach seiner Widerkunfft über dieses Kind / welches von jedermänniglich für Boldo Sohn gehalten wird. Es ist schwer einen guten Vogel von einem bösen Ey zu ziehen; dieser Bastard hat von Jugend auch die böse Art an sich genommen / und auf keinerley Weise / der Tugendlehre statt geben wollen. Mit zuwachsenden Jahren mehrten sich auch seine Laster / und wurde keine böse That in der Stadt begangen / welcher Urheber oder Mithelffer Cassan nicht gewesen were. Kurtz zu sagen / dieses Wahlkind / oder dieser Einkömmling war Boldo und seines gantzen Geschlechtes grösste Schand / und spottete aller vätterlicher und mütterlicher Erinnerung / Vermahnung und Bestraffung.

11. Als nun Cassan / zu Erfüllung seines Sündenmasses / eine offentliche Dirne zu heuraten / und sich alles Sönlichen Gehorsams zu entbrechen willens / zörnete Boldo billich über diesen unbedachtsamen Frevler / leget sich auch in solchem Grimm / der das Geblüt zugleich in dem Leib aufwallen und sieden machet / zu Bette / und erkrancket / wie wir hernach melden wollen.[43]

12. Inzwischen hat Gregoria zu Zanto Alexandrinam / für ihre Tochter Priscam dargegen / und nachdem ihr Mann seiner Dienste erlassen worden / und sein Schneiderhandwerck wiederum getrieben / haben sie beede viel Kinder erzielet / daß ihnen diese Einkömmlinge fast überlästig worden. Gregoria fält in eine tödliche Kranckheit / und eröffnet ihrem Beichtvatter / wie es mit Alexandrina daher gegangen / und daß sie bey ihren Lebenszeiten ihrem Mann diesen Betrug nit zu entdecken / erhebliche Ursachen / unter welchen die vornehmste / daß sie allen bösen Verdacht / als ob sie Alexandrinam mit Boldo in Unehren erzeuget / gerne vermeiden wolte.

13. Der Beichtvatter räht / daß Priscian Alexandrinam nach Venedig führen / und Boldo ihrem Vatter selbsten überantworten solte / welches er auch / nachdem Gregoria verschieden / unverzögert zu Wercke gerichtet / eben zu der Zeit / als Boldo und Emilia über Cassan eiferigst erzörnet gewesen / wegen vorerzehlter Syrena / die ihn samt einem grossen Gut zu sich zu ziehen getrachtet. Boldo erkante Alexandrinam an dem Angesicht / welches Eufemia seiner ersten Gemahlin eigentlich gleichte / gabe deßwegen dem Schneider eine gute Verehrung / und liesse ihn wieder ziehen.

14. Als nun Cassan diese für seine Schwester und Miterbin nit halten wil / sondern solches für einen listigen Fund außschreyet / ihn den Antheil seiner Erbschafft zu minderen; mit Bedrauen / er wolle Alexandrinam und Boldo / ja seine eigene Mutter / wann sie ihm zu wider seyn würde / ermorden lassen: bricht Emilia herauß / daß dieser Cassan nit ihr Sohn / sondern ein Findling / deßwegen er alsobald aus dem Hauß gestossen / mit der gedachten Dirne in elender Armuth / sein Leben zubringen musste; welches gewißlich nit beschehen / wann dieses Wahlkind nicht so übel gerahten / und seinen vermeinten Eltern mehrern Gehorsam / wie er wegen empfangener Wolthaten schuldig gewesen / erwiesen hätte.

15. Alexandrina aber / so die Tugend und Keuschheit von Mutterbrüsten gesogen / wurde mit einem vornehmen Venetianischen[44] Edelmann getrauet / und erwiese sich gegen Emilia so wolthätig / als gegen ihrer leiblichen Mutter. Hierauß erhellet abermals die Gewißheit / daß die Tugend endlich / nach außgestandener Trübsal / ihre Belohnung nit ermangle: das Laster hingegen oft nach Verlauff langer Zeit zu gebührlicher und wolverdienter Straffe gezogen werde.

Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. XL40-XLV45.
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