(CXLVI.)
Die Kunst-Gedächtnis.

[163] Die Unart der Menschen wird mit diesem Sprichwort vorgestellet / sagend: Das Böse schreibt man in Stein / das Gute in den Staub. Ist fast so viel / als wz dort jener Rabbi von einen alten Schuler gesagt: Heut (in deinen Alter) schreibest du in Sand / (in ein schwaches Gedächtnis) was du gestern (in deiner Jugend) hättest in Marmol graben können / verstehend leichter lernen / und besser behalten mögen. Die Gedächtnis ist die Schatzkammer aller unsrer Wissenschafft / und ohne solche weren wir elende Leute / und den Knaben gleich / die nit mehr wissen / als sie gesehen haben. Wann einer von dem Schlafe erwachet / und solte nichts mehr wissen / von allem dem / das ihm in seinen zuruck gelegten Leben begegnet / was were doch dieses für ein Elend? Wir würden alle Tage zu Kinder werden / und ein neues Leben anfangen müssen: und Gott hat noch niemand für die herrliche Gabe mit pflichtiger Schuldigkeit gedancket.

2. Die gute Gedächtnis kommet her von einen wolbeschaffenen Gehirn / das durch die Artzeney so wol innerlich als äusserlich kan gestärcket werden / das trockne und weiche Gehirn ursachet ein gutes Gedächtnis / das harte oder verdüsterte Gehirn aber kan nichts bemercken; daher sihet man / daß die Kinder ein besseres Gedächtnis haben / als die Alten / und die Bezechten können sich nichts erinnern. Ob nun wol die Beschaffenheit deß Gehirns nit völlig zu endern ist / so gibt es doch solche Mittel / welche dz schwache Gehirn stärcken / das trockne anfeuchten / und das hitzige abkühlen. Wiewol etliche ihren Verstand durch solche Artzeneyen geschwächet / in dem sie die Gedächtnis zu stärcken vermeint; vielleicht / weil sie deß Melissen Wassers und andrer Sachen zu viel gebraucht.

3. Welcher aber der Gedächtnis durch kunstgründige[163] Verfassung helffen wollen / haben gewisse Haubtsätze erfunden / bestehend 1. in dem Ort oder Stellen /2. in den Bildern / 3. in der Ordnung. Das Ort erinnert uns vielmals / was wir alldar gethan od' gehöret haben / also ist uns bekant eine Gassen / in der selben alle Häuser / und die Ordnung der Häuser / wie sie darinnen gebauet sind. Also wann ich sehe meines Brudern Bildnis / muß ich mich seiner erinnern / weil es eine Vergleichnis mit jm hat / wie alle Bilder mit dem gebildeten haben müssen / und diese müssen uns bekant seyn / und das unbekante bedeuten. Also wann ein Bild ein rotes Angesicht und eine purpurne Nasen mit Rubinknöpffen versetzet / uns zu Gesicht kommet / werde ich mich leichtlich der Trunckenheit darbey erinnern. Die Ordnung ist drittens die Mutter der Gedächtnis / und durch die Einstimmung aller Völcker in gleicher Richtigkeit bekant.

4. Wann man in dem Gegensatz betrachtet / was Unheil auß der Verwirrung und Unordnüg entstehet / muß man bekennen / daß wir dieser Kunst unwissend beypflichten / unn dz was wir in den Gedächtnis haben / eben das was wir wissen / und was wir nit wissen / das haben wir auch nit in unsrem Gedächtnis. Wer aber alles durcheinander mischet / der kan mit aller seiner Wissenschafft wenig / oder niemand dienen. Es hat alles mit sich eine natürliche oder künstliche Verbindung. Die natürliche ist nun viel leichter / als die künstliche / welche zu Zeiten der natürlichen nit nachahmet / und also schwerer zu beobachten ist. Also erfahren wir / daß eine Rede / die nit ordentlich abgetheilet und kunstmässig verabfasset / schwer zu mercken ist. Cardan schreibet / er habe alle seine Wissenschafft dieser Gedächtnis-Kunst zu dancken / und der Cardinal Perron hat ein gantzes Gedicht / wie es ihm fürgelesen worden / in dem Gedächtnis behalten / und wider hergesagt / daß sein König geglaubet / er habe solche Verse gemachet / welches doch nit war.

5. Diese Sache bestehet aber in Erfindung der Gleichnis / und hat Lulus Rombercio und Gesvaldo ein Neapolitaner / wie auch Schenck hiervor umständig geschrieben / und erwiesen / wie man in den 5. Kammern und in die 5. Haubtglieder[164] deß Menschen / das Haubt nemlich die 2. Hände und 2. Füsse / alles eintheilen soll. Ist aber ein Wort in frembder Sprache zu mercken / muß man auß der bekanten Sprachen eines oder mehr finden / die solchen gleichen. Zum Exempel Relambajo, (der Blitz) ist ein Spanisches Wort / solches zu mercken / bilde ich mir ein / ein Reh / ein Lamm und einen Bach / oder ein Rehlein an einen Bache. Sind es Namen der Personen / so mache ich aus ihren ersten Buchstaben ein Wort / und erinnere mich darbey der Ordnung / als ich wil diese Kirchenvätter anziehen: Tertullianum / Augustinum / Basilium / Ambrosium / etc. So setze ich das Wort Taba. Etliche suchen einen Behuff / in deme sie die Rede schliessen mit der Sylben / mit welcher ein neuer Absatz anfängt.

6. Viel halten nichts auf diese Kunst / und finden für schwerer / 2. Dinge / als eines zu mercken / da sie sagen / daß man leichtlich irr werde / unn das Gedächtnis durch die Vielheit der Einbildung verhindere; wie wan weiß / daß Budeus / Reusnerus und viel andre / als sie für Königen reden sollen / gantz erstaunend ihre Rede nit fortsetzen können / und endlich mit Schanden still schweigen müssen; weil sie sich auf Bilder verlassen / die ihnen nit für Augen stehen können / und jener Pfarrer der das erstemal predigen sollen / in einen Krautacker seine Predigt bemercket und richtig hergesagt / als er aber in der Kirchen keine Kohlhaupte mehr für sich / und die Leute die Köpffe zusammen stiessen / ist er irr gemachet worden / und hat nit fortkommen können.

7. Wie nun die äusserlichen Sinne ihre Behuffsmittel von der Kunst haben / als das Gesicht von den Brillengläsern / das Gehör durch gewisse Röhrlein / die lahmen Beine und Hände durch eiserne Gewerbe / Krucken und dergleichen: also haben auch die innerlichen Sinne ihre Kunstmittel und Abbildungen / deren sich etliche übel bedienen / und die Fehler der Kunst beymessen / welche sie entweder nicht recht gelernet / oder durch andre Zufälle nicht glücklich angebracht. Wann man eines Wortes vergessen / und höret ein andres / das selben gleichet / kommet man leichtlich wiederumb daran. Die nun solcher[165] Mittel nicht nöthig haben / (wie ein junger Knab der Brillengläser nicht bedarff / und ein Gesunder der Artzney spottet) können nicht wissen / was ihnen in dem Alter begegnen mag / und sollen sich versichern / daß die Gedächtnis am ersten deß heran nahenden Todes empfindet / und mit zuwachsenden Jahren ab zunehmen pfleget.

8. Die Proben aber dieser Kunstgedächtnis beweisen sich mit Verwunderung / in dem wir wissen / daß ein Student aus Corsica bůrtig sechs und dreissig tausent Wörter / auß allen Sprachen die schwersten / nacheinander in der Ordnung sie ihm vorgelesen worden / hergesagt / ja wider ruckwarts oder von der Mitten anzusagen gewust / als ob er solche auß einem Buch hergelesen hätte. Diese Kunst hat er in kurtzer Zeit einen Venetianischen Edelmann gelehret / Namen Francisco di Moulino, welcher zuvor eine gar schwache Gedächtnis gehabt.

9. Sabellicus (im 10. Buch am 9. cap.) erzehlet von einem Antoni genant / von Ravenna bürtig / der es dem Corsen gleich gethan. Es ist aber noch wunderlicher was Montaigne schreibet / daß einer 500. Eyer in gewisse Ordnung legen lassen / selbe gezehlet / und hernach / wann sie zusammen geleget und verwechselt worden / eine jede Zahl wider zu finden wissen.

10. Gleich wie aber die Rädlein in der Uhre / wann sie subtil und zärtlich gemachet sind / leichtlich außlauffen und schaden nehmen; also lehret die Erfahrung / daß die allergelehrtsten Leute in ihren Alter viel / und wol alles was sie gewust / wie Franciscus Barbarus / Georgius Trapezoncius und andre / wider vergessen / und den Kindern gleich worden / und ist selten oder gar nit zu finden / daß eine übertreffliche Gedächtnis / bey einem grossen Verstand und guten Urtheil were.

11. Es geschihet auch / daß man durch Kranckheiten die Gedächtnis verleurt / wie S. Rondelet einem Doctor der Artzney zu Mompelier / erzehlet / daß einem Studenten auf besagter hohen Schule ein Aug außgestochen worden / darüber er alle Gedächtnis verlohren / und wieder bey dem A b c anfangen müssen / da er doch zuvor sehr gelehrt in den untern[166] Wissenschafften. Thom. Iourdan. 2. cap. 2. Buch von der Pest.

12. Ein Seneser / Namens Antonio / war von einer schweren Kranckheit genesen / und hatte alle Gedächtnis verlohren / daß er seine Freunde und Feinde vor einander nit erkennen mögen. Nach 3. Wochen bekommet er einen Durchbruch in dem Leib / welcher die bösen Feuchtigkeiten hinweg nahme / daß er hernach wieder zu seiner völligen Gedächtnis gelanget. A. Benivenius im 42. cap. Deßgleichen lieset man von einem Franciscaner Mönchen / daß er die Gedächtnis nach einer Kranckheit verlohren / und solche durch dienliche Artzneyen wiederum erlanget. Christ. de Vegua lib. 3. c. 10. de arte medendi. Jener sagte / man solte ihn nit lehren / die Kunst der Gedächtnis / sondern die Kunst der Vergessenheit / welche unter den beleidigten Christen fast abgestorben.

Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 163-167.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte
Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, Das erste Hundert. 2 Tle. in 1 Band.

Buchempfehlung

Holz, Arno

Papa Hamlet

Papa Hamlet

1889 erscheint unter dem Pseudonym Bjarne F. Holmsen diese erste gemeinsame Arbeit der beiden Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, die 1888 gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Der Titelerzählung sind die kürzeren Texte »Der erste Schultag«, der den Schrecken eines Schulanfängers vor seinem gewalttätigen Lehrer beschreibt, und »Ein Tod«, der die letze Nacht eines Duellanten schildert, vorangestellt. »Papa Hamlet«, die mit Abstand wirkungsmächtigste Erzählung, beschreibt das Schiksal eines tobsüchtigen Schmierenschauspielers, der sein Kind tötet während er volltrunken in Hamletzitaten seine Jämmerlichkeit beklagt. Die Erzählung gilt als bahnbrechendes Paradebeispiel naturalistischer Dichtung.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon