(XCV.)

Der Cainische Bruder.

[325] Durch deß Teuffels Neid ist die Sünde in die Welt kommen / sagt die H. Schrifft. Dieses ist nicht allein von dem Fall unsrer ersten Eltern / sondern auch von dem ersten Brudermord füglich zu verstehen / welcher sonder zweiffel auch von dem Satan angestifftet und eingegeben worden. Solcher Meuchelneid ist auch bey Esau wieder Jacob / bey Josephs Brüdern / bey Saul wieder den unschuldigen David / bey Ammon wieder Mardochai und noch heut zu Tage bey Höfen aller Orten zu verspüren. Solche Neidling sol nachgehende Erzehlung in ihr Gewissen treiben / und sie erinnern der Wort Jacobi / wann er veflucht die jenigen / welche auf den wegen Cains gehen.

2. Luzana an der Genver See ist vor zeiten ein Bischofflicher Sitz gewesen / und die Haubtstatt eines Fürstenthums / nun aber sehr verödet. Aldar hat vor kurtzen Jahren eine Wittib gewohnet / welche ihre Tochter nach Nyon verheuratet / und alle ihre Liebe auf ihren jungen Sohn gewendet / den ältsten aber /als ob er ihr Kind nie gewesen / für nichts geachtet. Hierinnen ist fast schwer eine Gleichheit zuhalten /und verursachen die Eltern / aus blinder Liebe viel Unheil / Neid und Feindschafft.

3. Nach dem sie nun die Tochter ausgesteuret /trachtet sie alles Gut ihrem jüngsten Sohn zu zuwenden / weil er / wie gedacht der Liebste / und daß Schoßkind war. Der ältste war ein wilder Jüngling /und als er vermerkte / wie bößlich es seine Mutter[325] mit ihm meinte / erzeigte er sich also / daß sie mehr Ursach hatte ihn zu hassen / als zu lieben: da hingegen der jüngste ihr mit Gehorsam und wol verhalten das Hertz gestolen / wie die Schrifft redet.

4. Also machte diese Mutter ein Testament / oder liesse ihren letzten Willen zu Papier setzen / in welchem der jüngste zu einem Erben benamet / und dem ältsten nichts gelassen worden / als was man ihme nicht nehmen können: deßwegen er dann sich zu rächen bey sich beschlossen / und zwar an dem gantz unschuldigen Theil. Diese beede sind auf eine Zeit mit dem Jagzeug / auf den Luzanischen Bergen / da der Erstgeborne seinen Vortheil ersihet / und seinen Bruder mit einer Axt ruckwarts zu boden schlägt /daß er also bald fällt / und weil der Ort abwegs /macht er eine Gruben / und verscharrte ihn / daß niemand solches / als die Liebe Sonne gesehen.

5. Die Mutter wartet ihres Sohns lange Zeit vergeblich: der ältste sagte / er hette sich vermutlich bey den Frantzösischen Werbern unterhalten lassen / willens die Welt zusehen / und sich etwas zu versuchen. Die Mutter kan dieses nicht glauben / weiß aber doch auch keine andre Ursache seines Aussenbleibens zu finden / und wolte ihn gerne mit ihren Threnen und seufftzen wieder zurucke ruffen Inzwischen wacht dem ältsten Bruder sein Gewissen auf daß er traurig /betrübt / ohne Schlaff und sich bedunken lässet / alle Steine weren seine Verrähter / und das Blut Abels ruffe üm Rache gen Himmel über solche Cainische That.

6. Als er einsten seine Gedanken / oder sie ihn verfolgten / begegnet er den Bürgermeister mit zweyen Schergen / welche nach ihrem Gebrauch Hallbarden auf den Axeln hatten. Dieser vermeinet / daß man ihn fangen wolle / und beginnet sich mit der Flucht zu retten. Der Bürgemeister schicket ihm nach / und weil ihn der Scherg nicht ereilen konte / schreit er dem Volk ungefehr zu / man solte den Mörder aufhalten. Der flüchtig antwortet: Nein / nein er ist in den Krieg gezogen / ich habe ihn nicht erschlagen. In dem wird er[326] angehalten und für den Bürgemeister geführet / da er mit erschrockener Stimme sagt / er hette seinen Bruder nicht todt geschlagen / sondern er were in den Krieg gezogen / seine Mutter aber sagte ihm vielleich solches aus Haß nach.

7. Der Burgemeister war ein alter verständiger Mann / und sagte: Deine Mutter würde dich nicht beschuldigen und dich üm das Leben bringen wollen /wann der Sache nicht also; darzu finden sich Zeugen wieder dich / welche dieser Mordthat von ferne zugesehen. Hierüber erstaunt der Jüngling / und laugnet zwar / aber mit einer Stimme die ihn für schuldig bekennte. Der Burgemeister führte ihn beseits / und sagte ihm / er solte es nur bekennen / er wolte es verschwiegen halten / und ihn aller Straffe erlassen. Der einfältige Tropf bekennet alles / wie es hergegangen /und wird also bald in die Gefängnis gesetzet.

8. Als er nun in verhafft der That nochmals geständig / der Leichnam an den besagten Ort gefunden wird / und also die Sache unbestrafft nicht könte hingehen / sagte ihm der Bürgemeister / daß die Herren von Bern ihm das Leben nicht schenken wolten / und ist also zu dem Schwert verurtheilt / mit grosser Bereuung seiner Sünden gestorben. Bevor aber hat er frey ausgesagt / daß er viel grössere Gewissensplage ausser / als in dem Gefängnis erlitten. Dieses ist wiederum aus Geitz beschehen / in dem ein jeder erben wollen / und auf den Weg reich zu leben den Tod gefunden.


Das Gewissen so versehret ist der Zeug in unsren Hertzen

Das Gewissen so versehret ist die ursach vieler schmertzen,

Das Gewissen so versehret ist der freye Richtersmann /

Das Gewissen so versehret ist gleich wie S. Peters Haan

Das Gewissen so versehret ist der Kläger im Gedenken /

Das Gewissen so versehret ist genugsam uns zu kränken /

Das Gewissen so versehret ist die allergrösste Pein.

Das Gewissen so versehret gleichet Sysiphs schweren Stein.

Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Hamburg 1656, S. 325-327.
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