4. Die Kürbisranke

[184] Da ergrimmte Jona tief im Herzen

und er betete zu Gott und grollte:


Sieh, das war's, was ich zu mir gesprochen,

da ich noch in meinem Lande wohnte:

allzuoft empörte deine Güte

mein gerechtes Herz, da ich noch Kind war.

Darum hört ich nicht auf deine Stimme,

dachte, Herr, vor dir aufs Meer zu flüchten:

denn ich weiss, du bist barmherzig, gnädig

und von grosser, allzulanger Güte,

und des Übels, das du schon verhängtest,

lässest du dich reun! – So nimm, o Herr, denn

meine Seele von mir! Meine Augen

wollen diesem Volke deine Gnade

nimmer gönnen – lieber will ich sterben,

als vor seinen Sünden weiter leben!


Und er wandte sich und ging von dannen.

Morgenwärts der Stadt, auf einem Hügel[184]

hielt er Rast und baute eine Hütte –

setzte sich davor und sah hinunter:

Was der Stadt wohl widerfahren würde.


Doch der Herr verschaffte einen Kürbis,

der wuchs über Jona, dass er Schatten

gab ob seinem Haupt und vor der Sonne

glühendem Leid den Scheitel ihm bewahrte.

Jona freute sich der grossen Blätter

und entschlief erschöpft in ihrem Schutze.


Als jedoch die Morgenröthe anbrach,

hiess Gott einen Wurm, den Kürbis stechen,

also, dass er hinsank und verdorrte,

und ein dürrer Ost, vom Herrn gesendet,

riss die welken Blätter bald von hinnen.

Da die Sonne vollends nun emporstieg,

stach sie Jona auf das Haupt, so dass er

matt an Leib und Seele ward. Er wünschte

sich den Tod herbei und rief zum Herren:

Lass mich länger nicht im Unrecht leben!


Da geschah des Herren Wort zu Jona:

Meinst du – billig zürnst du um den Kürbis,

den du nicht gemacht hast, noch gezogen,

der in einer Nacht erwuchs und welkte?

Sieh, dich jammert seiner kurzen Blüthe –

weil sie deinem Haupte Schutz erwiesen –[185]

und mich sollte Ninives nicht jammern,

solcher grossen Stadt, darinnen mehr denn

hunderttausend Menschen, die nicht wissen,

was sie gut und böse nennen sollen?


Aber Jona gab dem Herrn zur Antwort:


Du bist Gott, der Herr der Ewigkeiten,

der du Leben gibst und nimmst das Leben,

der du bleibst in Willkür deines Schaffens,

unberührt im Wandel aller Zeiten.

Aber ich bin nur ein Mensch der Erde,

der dahin geht wie das Grün der Fluren,

der dahin welkt wie die Kürbisranke –

und ich zürne billig bis zum Tode.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 184-186.
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