Siebzehnte Szene

[42] Man sieht jetzt, wie Radiana im Garten immer näher, ganz scheu herankommt.


WENDELBORN. Nein ... sagen Sie ... das ist wohl die kleine Radiana ... was ... wie ... wie kommen Sie denn hier herein ... Sie müssen ja doch über Mauern und Wassergraben gekommen sein ...

RADIANA. Ja ... jawohl ... über Mauern und Wassergraben ... was ist denn dabei ... ich bin nach der Probe gleich weggelaufen ...

WENDELBORN. Und auch durch die Wachthunde sind Sie durch ...

RADIANA. Ja ... jawohl ... die Wachthunde habe ich nur gestreichelt ... gebissen hat mich keiner ... sie haben alle nur gewedelt ...

WENDELBORN. So ... hahahaha ... verstehen Sie das alles ...[42]

RADIANA stutzig und anmutig. Ja ... jawohl ... das verstehe ich ... ich heiße nämlich eigentlich gar nicht Radiana ... das ist nur so ein roter Klecks auf der Stirn ... ich heiße eigentlich ganz gewöhnlich Lotte Grasmück ... nur als Schlangenmädchen heiße ich Radiana ... nur für die Kunststücke im Zirkus heiße ich Radiana ... weil ich noch so junge und gewandte Glieder habe ... sonst bin ich ein ganz gewöhnliches Mädel ... über die höchsten Mauern kann ich klettern wie eine Eidechse oder wie eine Schlange ... Hunde kann ich auch gleich von der Ferne so ansehen, daß sie mich lieben ... das können so junge, geschickte Mädchen oft ...

WENDELBORN. Das können Sie wohl gar auch mit Männern schon ... Sie sind ein lustiges Ding ... ich habe Sie ja schon manchmal bei Fräulein Luisa sitzen sehen ... was wollen Sie denn aber nur hier ...

RADIANA plötzlich sehr verlegen. Das weiß ich selbst nicht ... wo auch Sie gerade so unerwartet noch vor mir auferstehen ... nein richtig ... Sie zieht unterm Mantel einen Brief hervor. das ist von Luisa an Herrn Buntschuh ... ich bin nur ein gemeiner Schicketanz heute ...

WENDELBORN lachend. Das hätten Sie aber bequemer haben können ... wenn Sie zum Beispiel nur unten in der Kanzlei den Brief einfach an den Portier abgegeben hätten ... nicht ...

RADIANA. Ja ... jawohl ... es war nur ein Abenteuer ...

WENDELBORN mit dem Finger drohend. Na na na ... wie heißen Sie ... Lotte Grasmück heißen Sie ... Einbrecher sollten Sie heißen ... da wollten Sie sich wohl den großen Erfinder Buntschuh einmal gründlich besehen ... Die tiefere rechte Tür hat sich wieder aufgetan, und Buntschuh mit immer demütiger verzogenem Gesicht nähert sich.[43]

RADIANA die ein wenig erschrocken auf ihn starrt. Nein ... gar nicht das Einzelne ... ich wollte nur diese ganze Herrlichkeit einmal betrachten ... lieben tu ich weder den Prunk noch die Menschen ... die Wolken und die Kühe und Lämmer liebe ich viel mehr ... und die Wiesenblumen liebe ich auch ... zum Beispiel eine Schafherde liebe ich mehr wie mein Leben, wenn die so mit gesenkten Schafsköpfen auf einer Kleestoppel in Sonne herumschrobt ... aber ich bin sehr neugierig ...

BUNTSCHUH geht Radiana immer näher und will sie streicheln.

RADIANA ganz erschrocken. Oh nein ... bitte ja nicht ... wenn ich auch aus dem Zirkus bin ... angreifen darf mich niemand ... sonst schreie ich um Hilfe ... außerdem ... wenn das Luisa wüßte, da erdrosselte sie mich ...


Sie ist jetzt nahe daran, in Verlegenheit fortzuspringen.


BUNTSCHUH immer demütiger. Schenk ihr doch Schmuckstücke ... schenk ihr doch Schmuckstücke ...

RADIANA sehr bestimmt. Gott bewahre ... ich muß fort ... es ist ja doch schon ganz spät am Tage ... ich müßte mich längst zu einem vernünftigen Men schen hergerichtet haben ... wie ich nur aussehe ... manchmal bin ich so töricht ... manchmal setze ich mich plötzlich auf einen Ofen ...

WENDELBORN. Hahahaha ... was man bei dir nicht alles erleben kann, Tobby ...

RADIANA. Die Menschen reden eben so unsinniges Zeug, was hinter diesen Mauern alles verborgen sein sollte ... da ist es kein Wunder, wenn einen die Neugierde überwältigt ...[44]

WENDELBORN wieder lachend. Wollen Sie nicht wenigstens erst ein Stück Torte essen, kleine Lotte ... das ist nämlich hier in diesem Zauberschloß zu haben wie auf dem Tischlein deck dich ...

RADIANA plötzlich fortspringend in den Garten. Dann stehen bleibend. Nein ... weder Kuchen noch sonst etwas ... weder angreifen lasse ich mich ... noch lasse ich mir etwas schenken ... da denke ich gleich, man will mich vergiften ... das leide ich gar nicht ... ich will jetzt überhaupt die Augen ganz schließen vor mir und vor Ihnen ... Sie müssen auch jetzt die Augen schließen, und niemand darf wissen von meiner Frechheit ...


Sie läuft wieder ein Stück fort.


WENDELBORN ihr nachrufend. Da bleiben Sie doch ... Sie brauchen doch nicht wieder über die Mauern zu planken ...

RADIANA wieder stehen bleibend. Warum denn nicht ... dabei ist doch gar nichts ...

WENDELBORN sehr bestimmt. Nein ... nun befehle ich es aber ... Sie kommen mit mir ... ich führe Sie jetzt den normalen Weg durchs Treppenhaus ... da können Sie noch die Wandmalereien bewundern ... und das große Gemälde an der Decke, worauf die genialen Erfindungen des Herrn Tobias Buntschuh in allegorischen Gestalten verherrlicht sind ...

RADIANA. Meinetwegen ... obwohl mich das gar nicht interessiert, was man so mit Ölfarbe an die Decken und Wände kleckst ... aber wenn Sie es mir sagen, muß ich gehorchen ... ich will nur vorher Herrn Buntschuh noch einmal bitten, mir nicht böse zu sein ... nicht wahr ... Herr Buntschuh ... bitte,[45] bitte ... es war eine richtige Dreistigkeit von mir ... ich halte mich manchmal gar nicht im Zaume ... da breche ich aus, als wäre ich wild ...

WENDELBORN steht bereits an der offenen Tür. Hahahaha ... Tobby ... was man bei dir nicht alles erleben kann ... da ... der Brief von Fräulein Luisa für dich liegt dort auf dem Tische ...

BUNTSCHUH. Halte sie doch ... nein ... halte sie doch ...

RADIANA hat Buntschuh ein tiefes, züchtiges Kompliment gemacht, scheu mit dem Kopfe schüttelnd. Nein ... nimmer ... nimmer ...

WENDELBORN. Kommen Sie nur, Sie kleiner Verbrecher ... in meiner Hut sind Sie gut geborgen ... Menschen zu hüten, das ist nämlich mein Lebensgeschäft ... am besten werden Sie im Auto heimgefahren ...


Beide sind schon durch die Tür.


RADIANAS Stimme noch hörbar. Um Gotteswillen ... das wäre mein Tod ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die goldnen Straßen. Leipzig 1918, S. 42-46.
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