Zehnte Szene

[395] KÜSTER tritt heran; ein Stelzfuß.

Was beliebt?

ÄBTISSIN.

Habt Ihr die Grab-Gewölbe im Verschluß?

KÜSTER rasselt mit dem Schlüsselbund.

Schon dreiundneunzig Jahre, denn ich bin

An hundertvierzig und ich kam so früh

Zu diesem Amt, weil ich im Tartarkrieg

Dies Bein verlor.

ÄBTISSIN.

Da wißt ihr drunten wohl

Genau Bescheid?

KÜSTER.

Ich hatte Zeit genug,

Mich umzusehn, wenn ich die Silber-Schilder

Der Särge scheuerte, denn darauf halt ich,[395]

Die müssen mir so blank, wie Spiegel, sein.

Auch weiß ich, was ein jeder mit bekam,

Und was man einmal bei ihm finden wird,

Denn keiner lag auf dem Paradebett,

Den ich nicht sah, in seiner letzten Pracht.

Ja, wer nicht ehrlich wäre! Hier ist mehr

Zu holen, wie ein Schatz, und völlig sicher,

Denn Tag und Nacht ist einer ungestört.

MARFA.

So könnt Ihr mir –


Sie bricht ab.


KÜSTER.

Ei! alles, was Ihr wollt!

Wo jeder liegt, wie viele Ringe er

Am Finger trägt, wie reich die Krone ist,

Ob die Juwelen klein sind oder groß,

Genug, was man auch immer fragen mag.

Ich merkt' es mir, wenn ich beim Kerzenschein

Den Sarg umschritt und schrieb es nicht in Sand.

Das heißt: den großen Iwan nehm ich aus,

Da ließ die Toten-Wache mich nicht zu,

Weil ich betrunken war, und auch das Kind,

Das Kind aus Uglitsch, den Demetrius,

Der jetzt –


Er bricht ab und schüttelt den Kopf.


Ich wollte sagen, dieses Kind

Kam gleich in Blei und Eisen an, versiegelt

Wie ein Geheimnis für den jüngsten Tag,

Und ward so beigesetzt.

MARFA.

Ganz still, nicht wahr?

KÜSTER.

O nein, so feierlich, wie je ein Prinz,

Und noch viel feierlicher.

ÄBTISSIN.

Wollt Ihr uns

Hinunter führen?

KÜSTER.

Heute kanns nicht sein!

ÄBTISSIN.

Warum denn das nicht?

KÜSTER.

Weil uns allen streng

Verboten ist, von unserm Platz zu gehn.

Der Zar kann kommen. Sonderbar, nicht wahr?

Er soll erst kommen, und er ist schon hier.[396]

MARFA.

Wir nehmen das auf uns. Ich bin die Zarin.

KÜSTER küßt ihr Gewand.

Ich schau mich nur nach einer Fackel um.


Ab.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 395-397.
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