Eilfte Szene

[397] ÄBTISSIN.

Du bist am Ziel.

MARFA.

Mein Herz klopft fürchterlich.

ÄBTISSIN.

Noch stehts bei dir.

MARFA.

Was meinst du? Umzukehren?

ÄBTISSIN.

O nein, doch drunten sind der Särge zwei,

Und wenn du nicht als Mutter beten willst,

So kannst du es als fromme Witwe tun.

MARFA.

Glaubst du an Offenbarungen?

ÄBTISSIN.

Wie sollt ich

Nicht glauben, was die heilge Kirche lehrt?

MARFA.

Ich frag nicht, ob du an die Stimme glaubst,

Die einst von Himmels Höhn herab erscholl,

Als sich des Menschen Sohn am Jordan-Fluß

Dem Täufer beugte; nein, ich frage dich,

Ob jetzt ein ewges Schweigen waltet, oder

Ob diese Stimme noch ertönen kann.

ÄBTISSIN.

Ich weiß es nicht. Doch so viel ist gewiß:

Wer Gottes Stimme erst vernommen hat,

Der kann nicht zweifeln, ob sies wirklich ist.

MARFA.

Und gibt es einen Ort auf dieser Welt,

Wo man mit größrem Rechte auf sie hofft,

Als der, den ich nun gleich betreten soll?

ÄBTISSIN.

Du standest schon auf einem höhern Tabor,

Als du den Sohn an deinem Herzen hieltst!

MARFA.

Da schwieg sie.

ÄBTISSIN.

Nun, so schweigt sie hier wohl auch.

MARFA breitet die Arme gen Himmel aus.

Allmächtger Gott, du ließest es geschehn,

Daß solch ein ungeheurer Widerspruch

In einer Mutterbrust entstehen konnte:

Erbarme dich denn auch und löse ihn.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 397.
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